Dilla und Audrey? Was hatte Susan gewußt? Wäre es, falls Susan Dilla nicht gehen lassen wollte, nicht logischer gewesen, bei Audrey anzufangen?
Logisch? Mord? Was dachte sie da? Wetzon schloß die Augen und lauschte auf Smith’ gleichmäßiges Atmen, das ab und zu von einem leisen Schnarchlaut unterbrochen wurde. Auf Smith war Verlaß, daß sie eine Bombe platzen ließ, wenn Wetzon vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten konnte. Jetzt schlief Smith wie ein Murmeltier, und Wetzons Hirn lief auf Hochtouren.
Dieses Puzzleteilchen erklärte jedenfalls Audreys seltsames Benehmen im Flugzeug. Hatte Susan ein Alibi? Wenn sie nun Dilla in der betreffenden Nacht am Theater abholen wollte und Dilla gesagt hatte, daß sie zu Audrey ziehen würde?
Hätte Susan den Ring an sich genommen, bevor sie Dilla tötete? Danach? Nein. Sie schob den Gedanken von sich. Aber so war es auch, wenn man Leute interviewte, nachdem ein Nachbar einen blutigen Mord begangen hatte, und jeder sagte: »Er war so ein freundlicher, sanftmütiger Mensch. Er kann das nicht getan haben.« Geschahen nicht die meisten Morde im Affekt? Gewalt gegen ein Opfer, das dem Mörder gut bekannt ist, im allgemeinen ein Verwandter?
Um fünf Uhr stand Wetzon auf und nahm eine heiße Dusche. Ihr Körper schien aus lauter Knoten zu bestehen; sie hatte ein gutes schweißtreibendes Training nötig. Vielleicht machte Carlos mit der Truppe vor den Proben ein Konditionstraining, dem sie sich anschließen könnte. Mit dem Kopf nach unten fönte sie ihr Haar, brachte es dabei mit den Fingern in Form und warf es dann nach hinten. Wetzons hemmungslos wilde Frisur, nannte sie das.
Ohne Licht zu machen, zog sie Stretchjeans, eine schwarzseidene Stehkragenbluse, einen übergroßen roten Baumwollpullover und ausgeleierte Socken an. Smith ließ sich im Schlaf nicht stören. Der vom Hotel gestellte Frotteebademantel lag am Fußende von Smith’ Bett.
Miststück, dachte Wetzon. Einer boshaften Eingebung folgend, ging sie zurück, schnappte den Bademantel und hängte ihn hinten in den Schrank.
Um halb sechs konnte man nirgendwo hingehen, konnte man nichts tun. Der Coffee-Shop des Ritz, in dem sie so gern frühstückte, öffnete wahrscheinlich nicht vor sieben. Sie hatte das neue Taschenbuch von Frances Fyfield zum Lesen mitgenommen, aber wenn sie Licht machte, würde Smith sie anzischen. Ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Zimmer, dachte sie, und tat sich selbst leid. Sie kroch wieder ins Bett und schloß die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, war ihr erster Gedanke, daß es regnete. Ein lauter dumpfer Schlag kam von irgendwo über ihr. Alle Lampen waren an. Smith’ Bett war leer, und die Tür zum Bad stand weit offen. Schwaden von parfümiertem Dampf zogen ins Zimmer. Was sie für Regen gehalten hatte, war das Geräusch der Dusche. Abrupt hörte das Duschgeräusch auf. Wetzon döste wieder ein.
»Wie lange willst du noch liegenbleiben?« fragte Smith.
Wetzon schlug ein Auge auf. Smith trug einen engen, fast knöchellangen dunkelgrauen Rock und schwarze Stiefeletten. Ein lebhafter fuchsienroter Cashmerepullover sah unter einem ein wenig heller grauen Blazer vor. >Schick< war Tiefstapelei.
Wetzon zerrte die Decke übers Gesicht. »Wie spät ist es?« brummte sie.
»Zeit fürs Frühstück. Ich sterbe vor Hunger. Komm, gehen wir.« Smith zog Wetzon die Decke weg. »Du bist ja schon angezogen!«
Wetzon setzte sich auf. »Nachdem du dein Bonmot über Dilla und Audrey fallengelassen hast, konnte ich nicht mehr schlafen. Du hast dieses Problem bestimmt nicht gehabt.« Noch ein lauter Schlag kam von der Decke, so daß sie beide nach oben schauten.
»Theaterleute haben kein Benehmen.« Smith gähnte und klopfte sich auf den Mund. »Leg ein bißchen Make-up auf, dann gehen wir runter zu Heidelbeermuffins.«
Nach einem kleineren Unfall, als sie mit dem Mascarapinsel ins Auge geriet und ein paar rußige Tränen von den Wangen waschen mußte, verzichtete Wetzon auf kompliziertere Tätigkeiten, als die Haare zu kämmen und die Lippen anzumalen.
Auf dem Flur hörten sie wieder die dumpfen Schläge von oben. Als sie auf dem Weg zum Aufzug an Carlos’ Zimmer vorbeikamen, sah Wetzon, daß das Zimmermädchen beim Aufräumen war, was bedeutete, daß Carlos entweder im Coffee-Shop beim Frühstück oder, und das war wahrscheinlicher, in einer von Morts endlosen Besprechungen für die künstlerische Leitung saß.
Die Aufzugtüren öffneten sich. Ein Wagen vom Zimmerservice, der mit Servierplatten unter Stahldeckeln beladen war, nahm fast den ganzen Raum ein. »Nach oben«, sagte der Kellner, ein älterer Mann mit blassen blauen Augen in einem weißen Gesicht. »Noch einen Stock.«
»Komm.« Smith schob Wetzon vor. »Wir fahren mit.«
Ganz gegen ihre Art, dachte Wetzon mißtrauisch, eingeklemmt zwischen Wand und Wagen.
Als sich die Türen öffneten, traten Smith und Wetzon hinaus, und der Kellner schob den Wagen langsam von ihnen weg über den Flur. Das Gepolter von wütenden Männerstimmen kam aus irgendeinem Zimmer auf diesem Stock. Beißender Zigarrenrauch vergiftete die Luft.
»Bei irgendwem gibt’s ein Fest«, sagte Smith. »Und einen Streit.«
»Und eine Zigarre«, sagte Wetzon. »Kaffee. Schnell.« Sie versuchte, noch durch die sich schließenden Aufzugtüren zu schlüpfen, kam jedoch zu spät. Und als sie sich umwandte, war Smith nicht mehr da. Wohin war sie verschwunden?
Sie schlenderte durch den Flur zurück und entdeckte Smith, die dem Zimmerservicewagen folgte und auf den verdutzten Kellner einredete. Dieselben polternden Männerstimmen drangen durch die Doppeltüren, vor denen der Wagen haltmachte. Mehrere Stimmen, alle sehr laut. War das Carlos? Mhm.
»Gehen Sie einfach ins Arlington«, sagte der Kellner geduldig zu Smith. Er klopfte an die Tür. »Zimmerservice.«
Mit einer Hand hinter dem Rücken machte Smith fegende Bewegungen. Was zum Teufel wollte sie Wetzon damit bedeuten? Ah, vielleicht sollte sie nachsehen, welcher Name auf der Rechnung stand. Sie steckte aufrecht zwischen einem leeren Weinglas und einem beschlagenen Edelstahlkrug mit kaltem Orangensaft.
Als Wetzon versuchte, einen unauffälligen Blick darauf zu werfen, machte sich jemand drinnen an der Tür zu schaffen. Die Stimmen wurden lauter. Jetzt erkannte sie auch Morts Stimme. In der Verwirrung schnappte Wetzon die Rechnung. Sie war auf Mort Hornberg ausgestellt. Sie legte sie wieder auf den Wagen und murmelte: »Ich glaube, Sie haben das...«
Ein wütender Schrei unterbrach sie, dann folgte ein durch Mark und Bein gehender Schlag, laute Rufe, dann ein unheilvolles Rums-Rums-Rums...
Der Kellner stieß die Türen auf und ließ den Zigarrenrauch entweichen. »Oh, entschuldigen Sie.« Er machte ein erschrockenes Gesicht.
»Verschwinde hier!« schrie jemand.
»Mort, bist du wahnsinnig? Laß mich los!«
»Mort, laß ihn los!« Das hörte sich nach Joel Kidde an.
Der Kellner kam aus dem Zimmer gestolpert. Er stand verwirrt auf dem Flur, wußte nicht, ob er laufen und Hilfe holen oder warten und die Rechnung abzeichnen lassen sollte.
»Au!« Das war Carlos, und das genügte Wetzon, den Kellner beiseite zu stoßen und ins Zimmer zu stürzen. Niemand würde ihrem Carlos etwas antun.
Noch ehe sie etwas sehen konnte, spürte sie den Wind. Er blies wie ein Hurrikan durch ein offenes Fenster und zerrte an den Vorhängen. Das Zimmer war eisig. Sie sah sich schnell um, versuchte zu verarbeiten, was sich abspielte. Hinter ihr schrie Smith.
Dann sah sie, wie Joel Mort von jemandem wegriß — mein Gott, Carlos. Beine. Das war alles, was sie von Carlos sah. Der Rest von ihm hing aus dem Fenster, fünf Stockwerke über der Newbury Street.