Schließlich war es Poppy, die ihr einseitiges Gespräch beendete. Und schuld daran war Joel Kidde. Er stand erwartungsvoll am Eingang zur Bar, als hätte er sie kommen sehen. Vor Wetzons Augen wurde Poppy ganz scheu und mädchenhaft. Die Frau, die sich noch vor wenigen Stunden für eine Witwe gehalten hatte, begann nun, an Joels Rockaufschlägen herumzuspielen.
Wetzon fuhr im Aufzug zu ihrem Zimmer hoch und verarbeitete dabei Poppys rachsüchtige Worte über Dilla. Sie hätte gern mehr gehört, aber es genügte auch so. Die Zeit reichte noch für eine Dusche und ein Nickerchen und vielleicht sogar für eine Kleinigkeit zu essen vor der Show.
Erst als sie den Schlüssel ins Schloß steckte, machte sie sich bestürzt klar, daß Joels Anwesenheit wahrscheinlich bedeutete, daß auch Smith zurück war. Sie öffnete zögernd die Tür.
Smith war in heller Aufregung und legte gerade hektisch ihre Tarotkarten auf dem Bett aus. Sie hörte Wetzon nicht einmal hereinkommen und blickte erst auf, als diese ans Fußende des Bettes trat. Smith’ normalerweise schimmernde olivfarbene Haut hatte einen gelblichen Ton angenommen.
»Was ist los?«
»Du! Du fragst mich, was los ist?« schrie Smith. Sie raffte die Karten zusammen und warf sie nach Wetzon, die plötzlich in einem Tarotschauer stand. Dann begann Smith zu stöhnen, während sie die Arme um sich schlug. »Es ist deine Schuld«, rief sie, riß sich am Haar, schaukelte hin und her. »Mein Junge... mein Junge ist... verdorben.«
Das genügte Wetzon. Sie eilte zum Bett und hielt sie fest. »Bitte, Smith. Das kommt von ganz allein in Ordnung. Du wirst sehen.«
»Mein Junge ist ein...« Sie schluckte. »Ich kann einfach nicht glauben, daß er mir das an tut.« Sie begann zu schluchzen, das Gesicht an Wetzons Pelzmantel gepreßt.
Wetzon hielt sie und streichelte ihr Haar. Was konnte sie sagen, um es leichter zu machen? »Was hast du in den Karten gelesen?«
»Nichts Gutes.« Smith ließ sich dramatisch auf die Kissen fallen, von denen zwei von Wetzons Bett stammten.
»Was?« Wetzon stand auf, hängte ihren Mantel über die Stuhllehne, klopfte auf die blutbefleckten Stellen. Vielleicht wäre es möglich, die Flecken aufzutupfen, da der Mantel vom geschmolzenen Schnee naß war. Sie holte ein Handtuch und tat, was sie konnte. Sie würde ihn doch zur Reinigung bringen müssen, wenn sie wieder zu Hause war.
»Daß mein Baby eine lange Reise angetreten hat.«
»Das kann man sagen.«
»Es liegt an der ganzen Beschäftigung am Theater. Du hast es immer so bezaubernd dargestellt.« Smith zeigte mit dem Finger anklagend auf Wetzon.
»Stimmt nicht.« Wetzon schüttelte die Feuchtigkeit aus ihrem Mantel und hängte ihn wieder über den Stuhl. Sie begann, die auf dem Boden verstreuten Karten aufzulesen. »Du hast ihn in sämtliche Erfolgsshows mitgenommen. Interesse am Theater, weißt du, macht keinen schwul.« Sie gab Smith die Karten zurück. Die obere Karte zeigte zwei Prinzen, die von einem vom Blitz getroffenen Turm stürzen. Smith warf einen Blick auf die Karte, stieß einen schrillen Schrei aus, ließ sich fallen und steckte den Kopf unter die Kissen. Stöhnend lag sie da.
»Smith...« Wetzon setzte sich auf die Bettkante. »Dein Gesicht wird heute abend furchtbar aussehen.«
»Ach«, klang es gedämpft unter den Kissen vor.
»Mark ist noch sehr jung. Vielleicht macht er gerade eine Phase durch — eine Schwärmerei — weißt du...«
Smith’ Kopf kam unter den Kissen vor. »Aber mit Männern? Lieber Gott, wie kann er mir das an tun?«
Wetzon nahm ihre Hand. »Komm schon, geh unter die Dusche. Danach fühlst du dich besser. Wir lassen uns vom Zimmerservice eine Kleinigkeit zu essen bringen.«
Nach viel gutem Zureden kroch Smith endlich aus dem Bett und begab sich ins Bad.
Wetzon schnickte die nassen Stiefel weg und rollte sich auf ihrem Bett zusammen. »Nichts ist ewig«, sagte sie laut, während sie das blinkende Nachrichtenlämpchen am Telefon betrachtete. Sie wollte nicht wissen, was für Nachrichten für sie eingegangen waren; sie wollte nicht noch mehr Probleme, wenigstens nicht an diesem Abend.
Sie griff zum Telefon und rief die Verwaltung an. Sie bat um mehr Handtücher, mehr Seife und mehr Kleiderbügel — und bitte sofort. Sie hatte kalte Füße, und als sie ihren Knöchel untersuchte, war er ein wenig geschwollen und blau. Ohne aufzulegen schlug sie die Decken zurück und legte sich darunter. Dann wählte sie die Nummer an, um ihre Nachrichten abzurufen.
B. B. Sie schrieb es auf und strich es durch.
Morgan Bernstein. Welche Überraschung. Er hinterließ eine Nummer, die sie aufschrieb.
Silvestri. Wußte die ganze Welt, wo sie sich aufhielt, verdammt? Auch er gab eine Nummer an.
Der New Yorker Newsday hatte angerufen. Und Liz Smith. Was hatte das zu bedeuten?
Channel 7 Nachrichten.
Die Post. Was zum Teufel ging hier vor? Hatten sie von Sams Ermordung gehört und wollten Informationen? Aber warum riefen sie bei ihr an? Es gab genügend andere, die mehr wußten.
Im Bad wurde die Dusche aufgedreht. Smith würde eine schlimme Zeit durchmachen, aber das galt ja auch für Mark. Was soll’s, Smith würde sich einfach darauf einstellen müssen, wie andere Eltern es vor ihr getan hatten. Schließlich waren sie und Mark nicht die Königin von England und der Prince of Wales.
Du hast gut reden, Wetzon, sagte sie sich. Wie würde es dir gefallen, wenn du herausbekämest, daß dein Siebzehnjähriger schwul ist? Du, die du nie eine richtige Beziehung zu irgendjemandem hattest?
Uneins mit sich stand sie auf, fand den Papierfetzen aus ihrem Ringbuch, auf den sie Artie Agrons Telefonnummer in New Jersey geschrieben hatte, meldete das Gespräch an, legte sich wieder ins Bett und ließ das Telefon läuten.
»Hallo.« Eine Kinderstimme.
»Hallo, ist dein Papa da?«
»Paps, es ist für dich.«
»Hier ist Artie.«
»Paps, wer ist das?«
»Robert, leg auf.«
»Paps...«
»Leg auf! Mary!« Es klapperte, als wäre der Hörer heruntergefallen. »Hallo, mit wem spreche ich?«
»Leslie Wetzon. Sie haben einen netten Sekretär.«
Artie lachte. »Gut, daß Sie anrufen. Ich habe nämlich Terry gesagt, daß ich in vier Wochen anfangen könnte, aber ich glaube, mein Abteilungsleiter hat etwas spitzgekriegt. Ich möchte nicht überraschend gefeuert werden.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihre Bücher nicht kopiert haben?« Wetzon mußte immer wieder staunen, daß selbst erfahrene Makler wie Artie, die an einen Firmenwechsel dachten, es hinauszögerten, ihre Kundenbücher zu fotokopieren. Ohne Kopien der Kontoauszüge ihrer Kunden würde es sehr schwierig werden, die Konten zu übertragen. Ein Makler müßte sich auf sein Gedächtnis berufen — ein unzuverlässiger Weg — oder, schlimmer noch, seine Kunden um Kopien ihrer letzten Auszüge bitten. Kunden werden nervös, wenn finanzielle Entscheidungen nicht reibungslos vonstatten gehen, und viele bleiben dann lieber bei der früheren Firma des Maklers. Deshalb ermahnte sowohl der Chef in der neuen Firma als auch der Headhunter den Makler stets, seine Kundenbücher kopieren zu lassen.
»Ich wollte sie nach und nach in der nächsten und übernächsten Woche kopieren, aber wenn er mich nun am Montag rauswirft? Dann sitze ich in der Patsche.«
»Allerdings.« Und mir geht ein wirklich nettes Honorar flöten, dachte Wetzon.
»Ich brauche jemanden, der mir morgen hilft, alles herauszuholen, damit ich die Kopien machen kann.«
»Morgen ist Samstag.«
»Ich weiß. Mary hat die Kinder. Ich finde keinen, dem ich traue...«
»Ich bin in Boston, Artie.«
»Scheiße! Sie rufen aus Boston an?«
»Ja. Aber warten Sie... Ich muß wegen einer Verabredung zum Mittagessen morgen nach New York fahren. Ich könnte Sie morgens irgendwo treffen, sagen wir, so um elf.«
»Bei meinem Büro um die Ecke gibt es einen Copy-Shop, aber der ist samstags geschlossen. Können Sie mir helfen, einen zu finden?«
»Bleiben Sie beim Telefon sitzen. Ich setze B. B., meinen Teilhaber, sofort darauf an. Dann treffen wir beide Sie... Wo?«
»Vor dem GM-Building an der Madison Avenue.«
Sie legte auf und erreichte B. B. im Büro, um ihm den Auftrag zu geben. »Und wenn du eine Stelle findest, ruf Artie an. Hast du seine Nummer?«
»Ja.«
»Ich hoffe, du hast keine Pläne für morgen.«
»Ach, Wetzon...«
»Ich gebe dir zehn Prozent von meinem Anteil.«
»Was hältst du von zwanzig?«
»B. B.! Also gut. Fünfzehn.«
»Abgemacht.«
»Gut. Ich treffe dich um elf in der Halle des GM-Building zur Madison Avenue hin, stelle dich Artie vor, höre, was ihr zu tun gedenkt, und lasse euch beide allein. Ich kann mich nicht darauf einlassen. Ich kenne mindestens ein Dutzend Makler in diesem Büro, dazu den Abteilungsleiter und seinen Vertreter. Sollte morgen einer von denen dasein, können wir uns alle begraben lassen.«
Als Wetzon auflegte, war sie richtig aufgekratzt. Artie war vermutlich ein sicherer Kandidat, sobald er seine Bücher kopiert hatte. Es bedeutete, daß er fest entschlossen war zu wechseln. Sie sah auf die Uhr. Fünf. »Wie geht es dir da drinnen?« rief sie nach Smith. Smith antwortete nicht, doch im nächsten Moment wurde die Dusche abgedreht.
Die Tür ging auf, und eine Gestalt mit Turban und Badetuch erschien in einem parfümierten Nebel. »Darüber komme ich nie hinweg«, bemerkte die Gestalt mürrisch.
»Doch, du schaffst es. Du und Mark, ihr liebt euch doch.«
»Aber mir ist ein Gedanke gekommen.«
»Ja?«
»Therapie, Schatz. Ich hätte sofort daran denken sollen. Mark beginnt sofort eine Therapie. Dickie kennt sicher die richtige Person.«
»Dickie. Aha, ja.« Schon Hartmanns Name, mit solcher Zuneigung von Smith geäußert, ließ Wetzon frösteln. Was wäre, wenn er Smith benutzte, um Wetzon auf der Spur zu bleiben — Wetzon und dem Beweis, den sie besaß und der ihn ruinieren würde?
»Übrigens hat Dickie im Büro angerufen und dich gesucht. Ich habe B. B. gesagt, er soll ihn anrufen und ihm sagen, wo du bist.«
»Zuckerstück, du bist so ein Schatz.« Sie freute sich so, daß Wetzon ein schlechtes Gewissen bekam.
»Ich habe auch schlimme Neuigkeiten.«
Smith blickte auf, während sie ihr Haar trockenrieb. »Nichts könnte schlimmer sein als...«
»Sam Meidner ist ermordet worden. Durch deinen Ausflug nach Gloucester hast du die ganze Aufregung verpaßt.«
»Wir sind gar nicht nach Gloucester gefahren. Ich war zu durcheinander, und Joel mußte zum Theater gehen.«
»Er war im Theater?«
Smith runzelte die Stirn. »Was bedeutet das für unsere Investition?«
»Keine Sorge. Die Show geht weiter. In Boston wird vor ausverkauftem Haus gespielt.«
»Gut. Joel sagt, Sam ist ein bedauernswertes Wrack und hätte nie engagiert werden dürfen.«
»Smith, der Mann ist tot.«
»O bitte. Hast du ihn gekannt?«
»Ja. Flüchtig.«
»Hatte er ein undankbares Kind?«
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich. Hat das nicht jeder?«
»Hm.«
»Smith, wer auch immer Sam getötet hat, könnte ihn mit Mort verwechselt haben. Das bedeutet, daß in der Truppe ein Mörder frei herumläuft.«
»Hast du etwas bestellt?« Smith schüttelte ihr Haar auf, ohne es zu kämmen.
»Ein Sandwich und Suppe.«
»Klingt wunderbar. Ich bin gleich fertig.« Summend ging sie ins Bad zurück und schloß die Tür. Ihre Stimmung war wieder völlig umgeschlagen.
Wetzon lag unter der Decke. Wie wäre eine Prise Strychnin in Smith’ Kaffee? Oder vielleicht könnte sie Smith aus einem Fenster stoßen und es Mort in die Schuhe schieben. Nee. Es wäre leichter, sie aus dem Hotelzimmer zu bekommen. Hartmann wäre Wetzons ewiger Dankbarkeit gewiß, wenigstens für den Augenblick. Sie stellte sich das Telefon auf den Bauch, tastete nach dem Notizblock mit Bernsteins Nummer, fand sie, rief an.
»Apparat Bernstein. Gross.«
»Detective Gross, hier ist Leslie Wetzon. Ich glaube, Detective Bernstein sucht mich.«
»Hat er, aber er ist schon nach Hause gegangen. Es ist Freitag. Wissen Sie, der Sabbat.«
»Ach so. Ist etwas passiert?«
»Die Geschichte in den Zeitungen...«
Wetzon setzte sich auf. »Wollen Sie sagen, die Zeitungen wissen schon über Sam Meidner Bescheid?«
»Sam Meidner? Nein. Wir haben erst vor einer Stunde von ihm gehört.«
»Hören Sie, Renee, ich habe vier Anrufe von Journalisten bekommen, darunter einen von Liz Smith. Was zum Kuckuck geht da vor?«
»Die Medien haben alle anonyme Briefe bekommen, in denen steht, daß Dilla Crosbys Mörder einer bei Hotshot ist und daß Sie auf ihn angesetzt sind.«
»Du lieber Gott!«
»Wissen Sie, wer es war, Ms. Wetzon?«
»Nein! Wie sollte ich?«
»In den Briefen steht, daß Sie es wissen.«