»Wer Sind Sie?« Detective Willis Madigan tauchte wie ein gewaltiger Schatten aus den Seitenkulissen auf.
»Wer sind Sie Arschloch, und was haben Sie auf meiner Bühne zu suchen?« Mort Hornberg stand auf der Bühne, lebendig, gesund und wütend. Und wenig hinter ihm spähte Carlos, eine Hand über den Augen, in den Zuschauerraum, wo alle auf den Beinen waren, sogar Aline.
Ein Schauder lief Wetzon über den Rücken. Wer war dann...?
Einen langen Augenblick herrschte Stille, dann redeten alle gleichzeitig in einer Art Hysterie aus Erleichterung drauflos.
»Mort! Gott sei Dank.« Sunny brach die Stimme. Sie klammerte sich an Twoey, der zu Mort aufblickte, ohne eine Regung zu zeigen.
»Mein Schatz, du lebst!« Schreiend gelangte Poppy durch die Seitentür auf die Bühne und umarmte Mort, als wäre sie eine Geliebte. Mort wirkte verblüfft.
Carlos machte einen Bogen um das glückliche Paar, kam auf die Vorderbühne, kniete nieder und blickte angestrengt ins Haus. »Häschen? Bist du da? Was hat das alles zu bedeuten?«
Sie winkte ihm, konnte aber nicht sicher sein, ob er sie erkannte.
Madigans Brüllen übertönte das allgemeine Geplapper. »Wenn Sie Mort Hornberg sind, wer ist dann der Tote auf der Toilette?«
»Der Tote?« fragte Mort.
»Auf der Toilette?« Carlos stand langsam auf.
Aline sagte: »Mein Gott, dann...?«
»Wer ist...?«
Fran senkte den Kopf, seine Backen wirkten auf einmal faltig. Er war als einziger sitzen geblieben, als alle anderen aufgesprungen waren. Hatte er die ganze Zeit gewußt, daß der Tote nicht Mort war?«
»Darf ich um Ruhe bitten!« übertönte Madigan das Stimmengewirr. »Mr. Hornberg, auf der Herrentoilette wurde jemand ermordet. Wir haben angenommen, daß Sie es sind.« Er warf einen Blick in den Zuschauerraum, dann auf seinen Notizblock. »Miss... äh... Watson, würden Sie heraufkommen?«
»Warum kommt überhaupt jemand auf die Idee, ich wäre es?« Morts Gesicht zeigte rote Flecken vor Empörung.
Wetzon stand auf. Anscheinend sollte sie als nächste befragt werden.
Twoey suchte ihre Hand und drückte sie. »Möchtest du, daß ich mitkomme?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, dann reckte sie sich auf Zehenspitzen und flüsterte in sein Ohr: »Hättest du die Show übernehmen können?«
Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Mit ein wenig Hilfe von meinen Freunden.« Er zeigte mit dem Kopf auf Sunny.
»Moment mal, Moment.« Mort stampfte mit dem Fuß auf und schob Poppy beiseite. »Was wird aus der Vorstellung heute abend?«
»Mort, bitte, es liegt jemand tot auf der Toilette.« Poppy klammerte sich an ihn. »Wir dachten alle, du wärest es.«
Madigan räusperte sich. »Okay, wenn der Tote nicht Mort Hornberg ist, wer ist er dann?«
»Ich kann dir die Frage beantworten, Willis.« Ein kleiner Mann mit irischer Strickmütze und L.L.-Bean-Regenmantel trat auf die Bühne.
Kinoklamotte durch und durch, dachte Wetzon, als sie auf die Bühne kam. Sogar die Abgänge und Auftritte. Genaugenommen wurde die ganze Szene seit Morts wundersamer Auferstehung wie ein Stück im Stück dargestellt, in dem jeder seine Rolle voll ausspielte. Die Besetzung gab im Moment Mord in der Herrentoilette und entsprach ziemlich genau jener Gruppe, die so mutig Dillas Tod gegeben hatte.
Abgesehen von...
Es war Sam Meidner, der in seinem Blut lag.
Im selben Augenblick las Madigan von dem Ausweis in der Brieftasche ab: »Samuel Meidner.«
Der Schreckenslaut hätte choreographiert sein können, so einstimmig kam er von den Zuschauern. Er war Teil der Aufführung.
»Ich nehme an, Sie kennen alle diesen Mann?« Madigan sah zur Bestätigung von einem zum anderen.
Edward kicherte.
Mort sagte: »Ihr wollt mir doch nicht erzählen, daß ihr Sam mit mir verwechselt habt?«
»Doch, wir alle«, sagte Twoey.
»Er hat deine Mütze getragen«, sagte Poppy.
»Ich trage meine Mütze. Was ist bloß in euch gefahren?« Mort war wütend auf alle. »Wir machen noch eine halbe Stunde Pause, dann geht es wieder an die Arbeit. Wir haben heute abend Vorstellung.«
»Du meinst, wir machen weiter?« Phil sprach für alle.
»Selbstverständlich, wenn der Vertreter der Bostoner Polizeibehörde es nicht für angebracht hält, das Theater dichtzumachen. Hat er das vor?«
Madigan zuckte die Achseln. »Das entscheiden Sie. Aber die Herrentoilette darf nicht betreten werden. Ich werde sie versiegeln und einen Mann davor postieren, damit das so bleibt.«
»Wir können keine Vorstellung durchziehen ohne eine funktionierende Herrentoilette«, wandte Sunny Browning ein. »Und wie sieht das aus, ich meine, eine Vorstellung, wenn Sam...?«
»Gibt es keine Versicherung für solche Fälle von höherer Gewalt?« fragte Twoey.
Mort sah Twoey verächtlich an. »Niemand — und ich meine niemand — schließt meine Show.«
»Wenn ich hier unterbrechen darf, ich möchte, daß meine Leute die Aussage von jedem einzelnen aufnehmen. Ihre eingeschlossen, Mr. Hornberg... Wir würden uns sogar freuen, wenn wir Ihre jetzt sofort bekämen.«
»Wer kann den Tod des armen Sam gewünscht haben?« sagte Carlos leise, während er mit Wetzon in die Seitenkulisse ging. »Er war ein harmloser alter...«
»Wenn wir alle ihn mit Mort verwechselt haben, könnte es dem Mörder genauso gegangen sein. Womit beinahe jeder hier ein Motiv hätte. Ich bin froh, daß du im Remington’s warst, wo jeder dich sehen konnte.«
Sein Blick glitt von ihr ab und hinaus in den Zuschauerraum des Theaters. Wetzon blickte in die gleiche Richtung. Smitty. Wetzon bemerkte einen Austausch zwischen den beiden, den sie nicht verstand, und hätte sich erkundigt, wenn nicht einer der Uniformierten sie an der Schulter angetippt hätte. Mit einer Kopfbewegung wies er sie in eine Garderobe.
Der Raum, den sie betrat, war in einem gebrochenen Weiß frisch gestrichen. Bühnen-Make-up, zum Teil in einem aufgeklappten blauen Werkzeugkasten aus Metall, lag auf dem Frisiertisch verteilt, dazwischen eine Schachtel Papiertücher, ein schmuddeliger BH, ein offenes Päckchen Feigenplätzchen, Töpfchen, Tuben und Bürsten.
Wetzon setzte sich auf die Bank vor dem Frisiertisch. Fettschminke verbreitete einen gewissen harzigen Geruch. Ein weißlicher Puder lag wie falscher Schnee auf dem Fuß einer schwarzen Porzellanlampe, deren Schirm mit den Jahren verblichen war. Wetzon starrte in den Spiegel. Ihr Gesicht wies rote Flecken auf, wie die Flecken auf Marks Jeans, als hätte sie ihr Rouge im Dunkeln aufgelegt.
Der Polizist, der ihre Aussage aufnahm, war der mit dem schmuddeligen Haar, der zu Madigan auf die Bühne gekommen war. Officer Bryant. Nachdem sie die Namen, Adresse und Beschäftigung betreffenden Fragen beantwortet hatte, fragte Bryant: »Wie ist das Blut auf Ihr Gesicht und den Mantel gekommen?«
Sie blickte auf ihren Mantel hinunter. Verfilzter Pelz, klebrig getrocknet. Hatte sie es von Mark? »Ich weiß nicht. Auf dem Boden in der Nähe des Bühneneingangs war Blut mit Schnee vermischt, aber wie es auf meinen Mantel gekommen ist?«
Und wieso Blut in der Nähe der Tür? Sam lag tot auf der Herrentoilette. Während sie den steifen Pelz des Mantels berührte, sagte sie: »Wir wissen nicht, ob es sich um Sams Blut handelt.«
»Aber wir können es feststellen.« Bryant kratzte etwas von dem verfilzten Pelz ab und verwahrte es in einem Pergamintütchen.
Sie dachte gerade beunruhigt, daß sie das gleiche mit Marks Jeans machen würden, als Bryant sein Notizbuch zuklappte und sie anwies, nicht aus der Stadt abzureisen, ohne sie zu benachrichtigen.
»Ich will am Sonntag nach New York zurückfahren. Wird man mir da Schwierigkeiten machen? Ich muß mich um meine Firma kümmern.«
Bryant runzelte die Stirn. »Ich teile es Madigan mit.«
Wetzon ging quer über die Bühne zu der Durchgangstür. Carlos saß im Parkett links und sagte bei einem anderen Officer aus. Er winkte sie zu sich.
»Können wir es noch einmal versuchen? Remington’s — in zehn Minuten?« Er sah den Polizisten an. »Wie lange brauchen wir noch?«
»Zehn Minuten geht in Ordnung.«
Wetzon ging durch den Gang weiter. Sie mußte die Damentoilette aufsuchen, um das Blut abzuwaschen. In der letzten Reihe saß Phil mit einer Frau in den Vierzigern, vielleicht Ende Vierzig, mit einer großen runden Brille und braunem schulterlangem Haar, das von einem roten Stirnband gehalten wurde. Sie trug einen schwarzen Tuchmantel. Sie stritten sich heftig, jedoch im Flüsterton, so daß Wetzon nur scharfe Zischlaute hören konnte. Phil schwieg sofort, als er sie kommen sah.
»Hallo, Phil.«
»Mom, das ist Leslie Wetzon. Sie ist eine Freundin von Carlos Prince.«
Die Frau lächelte, wobei sie gewaltige Zähne und viel Zahnfleisch entblößte, und reichte Wetzon die Hand. »Nett, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits.« Wetzon bemühte sich, sie nicht anzustarren.
Phils Mutter trug einen Ring mit einem riesigen gelben Diamanten. Sie war außerdem dieselbe Frau, die Wetzon in der Halle von Susan Orkins Haus gesehen hatte. Dieselbe Frau, die Susan nicht empfangen hatte.