Wetzon zählte vierzehn in der Schlange vor der Kasse des Colonial, und vier von ihnen lasen Morts Interview im Globe. Nicht a schlecht, wenn man bedachte, daß die Show noch gar nicht lief.

Aber wie oft bekam Boston noch Probevorstellungen vom Broadway? Wahrscheinlich nicht allzu häufig. Neuerdings wollten viele Produzenten die Kosten eines Probelaufs außerhalb der Stadt nicht mehr riskieren. Statt dessen veranstalteten sie wochenlang Voraufführungen in New York, für die sie jetzt Karten zum vollen Preis verkauften, und die gesamte Theatergemeinde kritisierte sie deswegen heftig. Aber vielleicht hatten sich die Produzenten das selbst eingebrockt, weil sie in New York bereits den vollen Preis verlangten, während an der Show noch gefeilt wurde.

Ein scharfer Bostoner Wind, der über den Common fegte, rüttelte an den Türen zum Vorraum. Wetzon fröstelte, und sie ließ den Mantel zugeknöpft.

Smith’ Nase war gerötet, und ihre Augen tränten. »Hast du das Büro angerufen, Zuckerstück? Es ist schließlich Freitag, und wir schwänzen.«

»Wann hätte ich das tun sollen? Wir sind praktisch siamesische Zwillinge gewesen, seit du bei mir eingezogen bist.«

Smith’ Unterlippe verzog sich schmollend.

Mäßige dich, ermahnte Wetzon sich selbst. Denk daran, daß sie für zwei weitere Nächte deine Zimmergenossin ist. Sie zwang sich, ihre Partnerin anzulächeln. Sie und Smith schafften es zwar, trotz aller Differenzen außergewöhnlich gut zusammenzuarbeiten. Das Problem war, daß Smith sie außerhalb des Büros wahnsinnig machte. Wetzon brauchte das Alleinsein. Wäre Carlos nicht gewesen, hätte sie den ersten Flug von Boston an diesem Morgen genommen. »In der Nähe des Bühneneingangs gibt es ein Telefon. Ich rufe B.B. an und frage nach, ob keine Katastrophe über uns hereingebrochen ist.« Doch Smith hörte nicht mehr zu, sondern interessierte sich jetzt für irgendeinen Vorfall auf der Straße. O Mann, sie verfügte über die Konzentrationsdauer eines Vierjährigen.

Durch die Ätzglasscheibe sah Wetzon, daß eine silberne Limousine vor dem Theater vorgefahren war. Joel Kidde und Gideon Winkler stiegen gerade aus.

»Da ist Joel.« Smith wedelte mit den Fingern und strahlte. »Und Gideon.« Sie war eindeutig auf ein Abenteuer aus.

»Smith, wie geht es dem lieben Dickie Hartmann?« fragte Wetzon. »Schade, daß er nicht zur Premiere hier sein kann.«

»Wer?«

Das war einmalig. Joel Kidde war auch einer dieser mächtigen, attraktiven Männer, aber Richard Hartmann hatte noch weniger Skrupel als selbst Agenten. Es wäre nicht klug, ihn zu unterschätzen. Wenn Hartmann Smith wollte, würde er sie bekommen.

Vor einem Jahr, nach der Schießerei, hatte Wetzon die Beweise, die Hartmann vom Anwaltsberuf ausschließen würden, in einen versiegelten Umschlag gesteckt und an die stellvertretende Staatsanwältin Marissa Peiser adressiert. Mit der Aufschrift »Im Falle meines Todes zu öffnen« verwahrte sie ihn in ihrem Banksafe. Es war Zeit, sich darum zu kümmern und die Sache zu erledigen.

Sie machte die Tür zum Foyer auf und betrat eine völlig andere Welt. Hier herrschte das totale Chaos. Die Atmosphäre war geladen. Überall arbeiteten Assistenten und Techniker in größter Eile. Hinter der letzten Reihe befand sich die Klangregie mit den Mischpulten. Ein Techniker mit Kopfhörern und Mikrophon redete und gestikulierte zu jemandem am Beleuchtungsmonitor hinter der Bühne. Vermutlich war er der Elektromeister, der ständig auf der Lohnliste des Produzenten stand und mit der Show reiste.

Früher waren die organisierten Elektriker, Tischler und Requisiteure älter, weil sie ihren Beruf von der Pike auf gelernt hatten, aber der Mann mit den Kopfhörern war in den Zwanzigern und hatte Haare bis auf die Schultern. Wahrscheinlich war es der letzten Generation der Bühnenarbeiter schwergefallen, sich dem Zeitalter der Computer anzupassen.

Carlos stand auf der Bühne und führte eine Änderung in einer Tanznummer vor. Er machte einen ruhigen und selbstsicheren Eindruck. Alles Gute, dachte sie. Sie konnte sich ihr Leben ohne Carlos nicht vorstellen.

»Ich liebe diesen Teil der Arbeit, Sie auch?« Sunny stand neben ihr, in der Hand ein Clipbrett mit einem Packen Blätter. Heute trug sie braune Reithosen, Stiefel, ein blau-grünes Flanellhemd von Ralph Lauren und ein Parfüm, das Wetzon kannte, eins, das sie früher verwendet hatte. Replique. Ein weicher hellbrauner Lederhut bedeckte ihr blondes Haar.

Wo haben Sie Ihr Pferd angebunden, war Wetzon in Versuchung, sie zu fragen, doch sie sagte statt dessen: »Ich auch.« Wetzon konnte die Erregung schmecken. Heute abend, soviel wußte sie aus Erfahrung, würde fast alles funktionieren. Die meisten Mängel auf der technischen Seite würden sich in nichts auflösen. Und dahinter würde die Produktion zum Vorschein kommen, ob sie einem gefiele oder nicht. Es war wie ein Geburtsvorgang.

»Ich habe gehört, was heute morgen passiert ist«, tuschelte Sunny, während sie mit einer Fingerspitze den Hut nach hinten schob. »Mort ist leicht reizbar...«

»Das ist die Mutter aller Untertreibungen.«

»Ich will damit nur sagen, daß man es nicht zu sehr aufbauschen soll. Sie und Carlos stehen sich nahe. Sie können dazu beitragen, die Show durch diese Krise zu bringen. Und wir alle wissen, daß nur die Produktion zählt. Wenn die Show ein Hit wird, vergißt jeder diese lächerlichen kleinen Differenzen.«

»Lächerliche kleine Differenzen? Ich weiß. Aber Mort tickt nicht richtig. Man müßte ihn einsperren.«

»Sie verstehen nicht, Leslie. Mort hatte alle Hände voll mit Sam zu tun. Sam hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und weigert sich, >Who’s that Killer?< umzuschreiben. Sam weiß genau, daß Joclyn kein As treffen kann. Außerdem ist die Melodie bei Marvin Hamlisch geklaut. Wenn wir damit starten, verklagt uns Hamlischs Anwalt bis aufs Hemd. Und er hätte recht. Und jetzt macht Aline Theater und behauptet, Mort macht ihr kostbares Buch kaputt.«

»Buch? Bei dieser Show geht es doch nicht ums Buch, oder bin ich nicht im Bilde?« Verdammt, Mort kam mit Mark durch den Mittelgang, und sie hielten sich an der Hand, aber nicht wie Vater und Sohn. Wetzon setzte sich in Bewegung, vorsichtig, damit sie nicht über die Kabel stolperte, die sich vom Computerpult mitten im Haus über den Boden schlängelten. »Mark!« Sie winkte ihnen und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen, doch Mort war stehengeblieben, um JoJo etwas mitzuteilen, der, einen Arm um Poppys Schulter, in der Mitte des Zuschauerraumes saß. Im selben Augenblick war Wetzon klar, daß JoJo und Poppy ein Verhältnis hatten. Sie legte das zu den Akten, um sich wieder dem aktuellen Problem zuzuwenden. »Mark...« Mort gab Marks Hand nicht frei.

»Was ist los?« Sunny war ihr gefolgt. Hinter ihnen hörte Wetzon Smith’ sprödes Lachen.

»Wir müssen Mark warnen, daß seine Mutter im Haus ist«, sagte sie.

»Wer ist Mark?«

»Entschuldigung, Smitty.«

»Was? Was macht Smittys Mutter hier?« Sunny wirkte verwirrt.

»Seine Mutter ist meine Geschäftspartnerin, Xenia Smith, und Mark — Smitty - ist kaum siebzehn.« Sie versuchte, an Mort vorbeizukommen. »Mark!« Verdammt, sie schrie beinahe...

»Weiß Mort Bescheid?« Sunny zupfte an Wetzons Mantel und hielt sie fest.

Hol’s der Teufel. »Mark, paß auf.« Alles um sie herum hielt inne, Gespräche und Arbeit. Alle Blicke waren auf Wetzon gerichtet.

Endlich hob Mark den Kopf. Entweder hatte er einen sechsten Sinn und spürte, daß seine Mutter da war, oder er hatte Wetzons Warnung vielleicht doch gehört. Er entzog Mort seine Hand und steckte sie in die Tasche. Es ging alles so schnell, daß sogar Mort verblüfft aussah, also hatte Smith vielleicht nichts gesehen. Und selbst wenn, war es nicht so schlimm. Es könnte völlig harmlos gewesen sein. Klar.

»Ist das nicht toll?« schwärmte Smith, die sie eingeholt hatte. Es folgte einer jener sogenannten bedeutungsschwangeren Augenblicke. Dann sagte Smith mit erstickter Stimme: »Baby?«

Wetzon beobachtete ihre Partnerin scharf. Smith’ Gesicht drückte überhaupt nichts aus.

»Mom.« Mark ging um Wetzon herum, um seine Mutter zu begrüßen. Er war schon einen halben Kopf größer als Smith und noch im Wachsen.

»Smitty«, rief Mort besitzergreifend. Vielleicht hatte Carlos ihm nichts von Marks Verbindung mit Smith gesagt.

»Mom, ich habe zu arbeiten. Ich kann jetzt nicht reden.«

»Wir sehen uns später, Schatz«, sagte Smith, deren Stimme bei >Schatz< stockte. Sie schien in seinem Gesicht zu forschen. »Joel und ich verbringen den Nachmittag in Gloucester...«

»Prima Idee«, sagte Wetzon mit mehr Begeisterung, als sie empfand. Smith war sichtlich aus der Fassung. »Das ist eine gute Idee, was meinst du, Mark?« Sie stellte sich zwischen Mark und Mort Hornberg mitten in den Zuschauerraum zu JoJo und Poppy. Mort winkte Mark und rief noch einmal: »Smitty.«

»Smitty?« Smith blinzelte, als wäre ihr Asche ins Auge gekommen.

»Smitty ist Marks Spitznamen hier«, erklärte Wetzon. Sie versperrte Mort, der aus der Sitzreihe auf sie zukam, den Weg und zischte: »Meine Partnerin ist Smittys Mutter. Also halte dich zurück.« Sie widerstand dem Drang, ihm einen Hieb auf die alte Wunde zu verpassen, wie Smith es getan hatte. Statt dessen nahm sie seinen gesunden Arm, drehte ihn um und steuerte Mort entschlossen auf den Orchestergraben zu. Vielleicht könnte sie ihn mit ein bißchen Glück hinunterschubsen.

»Ich wußte nicht, daß er eine Mutter hat, um Himmels willen.« Mort riß seinen Arm von ihr los. »Laß mich.«

»Verschone mich, Mort.« Als sie einen heimlichen Blick riskierte, war Smith verschwunden, und Smitty stand im Mittelgang, als wären seine Glieder eingerostet und müßten geölt werden. Poppy, die Opportunistin, stand von ihrem Platz bei JoJo auf, doch ihr Mann war schneller als sie. Mort schoß an Wetzon vorbei und forderte Smitty zurück.

»Verdammt!« Wetzon schlug mit der Faust auf die Handfläche, und ihre Umhängetasche rutschte in die Armbeuge. War die Premiere einer neuen Show nicht schwer genug, auch ohne diese ganze Sexintrige obendrein?

»Setz dich hin, Mädchen, und beruhige dich.« Eine kühle, glatte Hand berührte ihre. »Du wirst doch nichts ändern.«

»Fran, siehst du, was hier los ist?« Was für eine Frage. Sie wußte aus Erfahrung, daß Fran nichts entging.

»Ich habe Augen im Kopf.« Er rieb die geschwollenen Knöchel an seiner Hand, die den Totenkopfstock umklammerte. »Und ich bin seit fast fünfzig Jahren Tourneemanager gewesen. Am besten hält man sich raus.«

»Er ist noch so jung, Fran, und Mort ist so ein...« Sie hielt inne. Es hatte keinen Sinn, sich darüber auszulassen. Er verstand es nicht, aber das ging in Ordnung. Er gehörte einer anderen Generation an.

»Dilla war diejenige, die ihn für Mort angeschleppt hat.«

»Wie gemein — sogar für Dilla. Ich glaube, niemand hat gewußt, wie jung er ist.«

Frans Blick war freundlich, trotz des kalten Blaus seiner Augen. Er drückte ihre Hand. »Laß der Natur ihren Lauf.«

»Ich schätze, du hast das die ganzen Jahre beobachtet.« Vielleicht war das ein günstiger Augenblick, ihn über Lenny Kaufer auszuhorchen. Sie setzte sich auf den Randplatz eine Reihe vor ihm. »Ich wette, du kannst allerhand Geschichten erzählen.«

Jojo rutschte aus der Mittelreihe und ging auf die Bühne zu. Er warf ihr einen wissenden Blick zu. Was hatte das nun zu bedeuten?

»Mhm.« Fran zwinkerte ihr zu. »Aber ich rede nicht. Ich möchte in meinen Stiefeln hinausgehen.«

»Wie bist du zu dem Beruf gekommen, Fran?« Sie knöpfte ihren Mantel auf.

Der alte Mann brummte. »Mein Onkel Bert war im Geschäft. Hausverwalter am Palace. Er kannte jeden. Wirklich jeden. Man mußte damals Beziehungen haben.«

»Das wird sich nicht geändert haben. Bei wem hast du angefangen?«

»Beim besten«, sagte er. »Lenny Käufer.«

Sie zwang sich zu einem beiläufigen Ton. »Lenny Käufer? Er ist eine Legende.«

»Es gibt keinen wie ihn. Lenny hat mich ausgebildet.«

»Das muß ein unglaubliches Erlebnis gewesen sein, Fran. Ich habe immer gehört, daß an keiner Kasse, gleich wo, etwas passierte, ohne daß Lenny Kaufer davon wußte und es guthieß.«

»Er war der beste...«

»Wer? Rück ein bißchen, Leslie.« Aline quetschte sich auf den Randplatz, daß Wetzon kaum Zeit hatte, einen Platz weiter zu rutschen. Sie hüllte sich in ihren Cashmere-Umhang. Ihr Handgelenk war in Gips.

Bei Fran fiel die Klappe. Wetzon spürte es. Blöde Aline. Andererseits könnte sie vielleicht beide dazu bringen, etwas Interessantes auszuspucken. Aline war schließlich beinahe genauso lange dabei wie Fran.

»Also?« sagte Aline. Ihr Mopsgesicht war mit einer dichten Puderschicht bedeckt, der blaue Eyeliner verschmiert. Ein Ring Mascara lag auf den dicken Tränensäcken.

»Ach, Fran hat in Erinnerungen an die alten Zeiten geschwelgt — mit Lenny Käufer.«

Frans geschwollene Hand krampfte sich um den Stock.

»Lenny Käufer«, sagte Aline nachdenklich. »Ein klasse Typ.«

»Ja«, stimmte Fran zu, der wieder etwas auftaute.

»Und was für eine Macht. Er hat über Jahre den Kartenschwarzmarkt bei jeder Show kontrolliert.«

»Was redest du für Zeug, Aline?« Auf den Stock gestützt, kam Fran auf die Beine. Wetzon glaubte ihn sagen zu hören: »Blöde Kuh«, doch Aline hörte offenbar nichts.

»Hör schon auf, Fran. Man hat ihn nicht umsonst den Kartenkönig genannt.«

»Solcher Klatsch«, sagte Fran, während er den Griff seines Stockes streichelte, »ist nicht gut für deine Gesundheit.«