Wetzon seufzte. »Wann?« Gut, daß er es ihr und nicht Smith mitteilte. Smith hätte ihn in der Luft zerrissen.

»Im Frühjahr. Ende April.«

»Warum?« Der Appetit war ihr vergangen. Der Gedanke, einen Neuen auszubilden, war ihr gerade jetzt ein Greuel.

»Wendy und ich heiraten.«

»B. B., du bist noch so jung.« Warum war es für diesen Jungen kein Problem, sich zu binden?

»Ich bin jetzt fünfundzwanzig, Wetzon.« B. B. sprach es aus, als wäre fünfundzwanzig uralt. »Wendys Vater und Großvater sind Weinhändler. Wir ziehen nach Oregon, und ich steige ins Familienunternehmen ein.«

Er war so ernst und aufrichtig. »Das ist wunderbar«, sagte sie. »Wir werden es bedauern, dich zu verlieren.«

»Wetzon, ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich.« Von seinem Essen war nichts übrig als ein zusammengerollter Karottenstreifen und ein paar Brotkrümel.

»Bin ich nicht. Du mußt deinen Weg gehen.«

»Smith wird sauer sein...«

»Ich kümmere mich um Smith.« Sie tätschelte seine Hand. »Geh wieder ins Büro. Wir sprechen morgen ausführlicher darüber.«

Sie trank ihren Kaffee und sah zu, wie B. B. seine leeren Behälter zusammenstellte und wegwarf. Er war ein ordentlicher, anständiger junger Mann, und er verabschiedete sich aus ihrem Leben. O ja, Smith würde toben. Sie hatten Monate gebraucht, um Max zu finden, nachdem sie Leute eingestellt hatten, die dann entweder nicht aufkreuzten, es nicht aushielten oder weder mit Smith noch mit der Verkaufstechnik per Telefon umgehen konnten. Oder beides. Einen Neuen auszubilden bedeutete immer eine Einbuße am Verdienst, weil die Beaufsichtigung Zeit kostete. Diese Pflicht würde Wetzon zufallen. Ein Problem mehr.

Vorwärts und aufwärts, dachte sie, als sie aufstand. Sie warf den Plastikbehälter und den Kaffeebecher in den Abfallkorb und ging durch die Grand Central Station zur Lexington Avenue-U-Bahn. Die Leute, die Mittagspause machten, mischten sich mit den Reisenden, die mit dem Zug aus Westchester und Connecticut kamen. Imbißstände verströmten Pizza-, Popcorn- und Hot-dog-Düfte, und die Sonne schien strahlend durch das Oberlicht.

Sie stieg in den Zug unter der Lexington und setzte sich hin. Sekunden später setzte sich ein Penner in ausgezackt zerrissenen Jeans und schmutziger Nylonjacke neben sie. In seinen Poren hatte sich unangefochten Ruß festgesetzt. Er kaute M & M’s, die er eins nach dem anderen aus einem Zellophanbeutel nahm. Sie rückte von ihm ab und überlegte, ob sie aufstehen sollte.

»Willst’n paar?« Er hielt ihr das Päckchen hin, lächelte und entblößte eine doppelte Zahnlücke.

»Wie?«

Seine verschlagenen Augen starrten sie an.

»Nein, danke.« Sie stand auf und entfernte sich von ihm, doch er grinste sie weiter an und streckte ihr den Beutel hin. Warum bekam sie ein schlechtes Gewissen, seine Gefühle zu verletzen? Sie wurde rot und blickte hinaus in den dunklen Tunnel mit seinen aufblitzenden roten Lichtem. Sie hatte ihren Sinn für Humor verloren.

Sie stieg an der 68. Street-Station aus, nahe dem Hunter College und dem mächtigen roten Backsteinbau der Seventh Armory, dem Zuhause der Zweiten Brigade, 42. Infanterie-Division, wie das Schild verriet. Das Neunzehnte Revier lag an einem Straßenzug, der größtenteils aus Wohnbauten bestand. Das Gebäude, eine der alten steinernen Polizeiwachen, die man hier und da in der Stadt noch finden kann, war vor kurzem gereinigt und renoviert worden. Die Renovierung war offenbar 1991 durchgeführt worden, denn unter jeder Hängelampe beiderseits der Tür befand sich eine Tafel, 1887 auf der linken Seite, 1991 auf der rechten.

Sie stieg die Außentreppe hinauf und wunderte sich über die babyblau gestrichenen Fenster und Türleisten. Fehlten nur die anheimelnden Blumenkästen voller Stiefmütterchen.

Innen im Gebäude war es kälter als auf der Straße. Eine Frau mit kurzgeschnittenem weißem Haar und einem breiten, ungeschminkten Gesicht saß zusammengekauert in einem blauen Mantel an einem Metalltisch, ein großes Anmeldungsbuch aufgeschlagen vor sich. Rechts stand ein rot-weißer Colabecher, durch dessen Deckel ein Strohhalm kam. Das Schild auf dem Schreibtisch lautete: Alle Besucher müssen sich eintragen.

»Ich habe eine Verabredung mit Detective O’Melvany.«

»Name?«

»Leslie Wetzon.«

»Tragen Sie sich ein. Da unten. Gehen Sie nach rechts. Nehmen Sie die Treppe. Der Aufzug funktioniert nicht. Die Detectives sind im ersten.« Sie war keine Frau vieler Worte.

Zwei kräftige junge Männer in Trainingsanzügen mit Matchsäcken in der Hand kamen die Treppe herunter. Sie musterten sie, und sie lächelte. Es hob ihre Stimmung, und, hol’s der Teufel, sie mußte zugeben, daß sie für Polizisten etwas übrig hatte.

Der Bereitschaftsraum sah aus wie jeder beliebige Bereitschaftsraum. Detectives an Schreibtischen, an Telefonen, mit Kaffeetassen herumstehend, an Berichten arbeitend. An den Wänden befanden sich unordentlich vollgesteckte Anschlagbretter und Pappschilder. Ein älteres Paar, das sich gegenseitig stützte, wurde von einem weiblichen Detective getröstet. Arg mitgenommene Schreibmaschinen waren über den ganzen Raum verteilt. Was, keine Computer?

O’Melvany kam ihr auf halbem Weg entgegen und brachte sie in sein Büro. Er war sehr freundlich, nahm ihren Mantel, bat sie, auf einem der Metallstühle Platz zu nehmen, und bot ihr eine Cola Light an, was sie ablehnte. Ein Stapel Schnellhefter und ein Kassettenrecorder lagen auf seinem Schreibtisch. Hinter dem Tisch hing ein großes Schwarzes Brett. Ein Plan des Reviers war daran befesdgt. Er sagte: »Ich würde Ihnen Kaffee anbieten, aber er ist wirklich giftig.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ist Susan ermordet worden?«

O’Melvany schaltete den Recorder ein und leerte einen mit Kippen gefüllten Aschenbecher in einen Papierkorb, bevor er antwortete. »Sieht so aus. Sie hat nicht versucht, den Sturz abzubremsen. Keine Schrammen an den Händen. Sie war tot oder bewußtlos, als sie diese Treppe hinunterfiel. Ihr Kopf sah aus wie bei dieser Crosby. Er hat sie mitten ins Gesicht geschlagen.«

»Er?«

»Allgemein gesagt.«

»Immer noch keine Mordwaffe?«

»Ein Rohrstück vielleicht.«

»Oder ein Spazierstock?«

»Vielleicht.«

»Tod durch einen unbekannten stumpfen Gegenstand.« Wetzon schloß die Augen und preßte eine Hand auf den Mund. Ich stehe das nicht durch, dachte sie.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte.

»Sie sehen nicht danach aus.« Als sie die Augen aufmachte, stand er über ihr, besorgt, als würde er sie besser kennen als in Wirklichkeit. Es war verwirrend.

»Doch, es geht mir gut«, beruhigte sie ihn. »Machen wir weiter.«

»Sind Sie bereit, eine Aussage zu machen?« Er setzte sich auf die Schreibtischkante.

»Bin ich nicht deshalb hier?«

»Okay, dann der Reihe nach.«

»Susan und ich wollten am Samstag zusammen zu Mittag essen, aber... sie hatte vor jemandem Angst. Sie hatte Angst, seit Dilla ermordet worden war. Susan glaubte, sie würde die nächste sein.«

»Warum glaubte sie das?«

»Das wollte sie mir nicht sagen. Ich glaube aber, daß sie es wußte. Sie sagte, daß jemand sie verfolgte, daß jemand versucht hatte, in ihre Wohnung einzubrechen. Als sie nicht auftauchte, rief ich in der Wohnung an und hörte das Besetzzeichen. Ich dachte, sie wäre zu Hause, also ging ich rüber.«

»Wie sind Sie hineingekommen?«

»Ich traf unten ihre Haushälterin, Rhoda, mit Izz, Susans Hund. Der Hund erkannte mich, deshalb bot ich an, ihn hinaufzubringen, während Rhoda ihre Einkäufe erledigte.«

»War die Wohnungstür geschlossen?«

»Sie war abgeschlossen. Izz hatte einen Hausschlüssel in ihrem Halsband versteckt. Das wußte ich von meinem ersten Besuch.«

Diese Auskunft schien ihn zu überraschen. »Also schlossen Sie die Tür auf. Was dann?«

»Ich erinnere mich nicht. Ich wachte auf, in eine Decke gewickelt, während der Hund meine Hand leckte und der Hausmeister über mir stand. Ich habe eine Beule am Kopf, hier.« Sie faßte sich an die Stirn. »Also denke ich, daß ich entweder einen Schlag bekam oder hinfiel.« Smitty, o Smitty.

»Was haben Sie gemacht, als Sie zur Besinnung kamen?«

»Der Hausmeister und ich schauten uns um. Die Wohnung war durchwühlt und demoliert. Wir fanden Susan auf dem Treppenabsatz. Das ist alles.«

»Wer ist Smitty?«

Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie sah ihn scharf an. »Versuchen Sie, mir ein Bein zu stellen?«

O’Melvany grinste und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Ich prüfe nur nach. Wir haben Mrs. Orkins Terminkalender gefunden, und darin steht sein Name. Wir wissen, daß Smitty Mark Smith ist.«

»Mark Smith hat Susan nicht getötet.«

»Seine Fingerabdrücke befanden sich auf der Hintertür.«

»O Gott. Eddie... Detective O’Melvany...«

»Eddie ist mir recht.«

»Eddie, das alles hat nichts mit Smitty zu tun, glauben Sie mir. Wer war die Frau, wegen der Susan Freitag nacht die Polizei anrufen mußte, um sie loszuwerden?«

»Werfen wir erst einen Blick auf die Bilder.« Er griff hinter sich und hob den Aktendeckel auf.

»Muß ich Susan ansehen?«

»Wenn Sie können.« Er reichte ihr die Mappe. Sie biß die Zähne zusammen und blätterte die Aufnahmen vom Tatort durch. Es war viel schlimmer als in ihrer Erinnerung. Der Salat Niçoise hob und senkte sich in ihrem Magen. Sie blätterte nun die Fotos von der Wohnung durch, indem sie immer eines hinter das andere steckte. Langsam. Sie zog das letzte wieder vor. »Was ist das?« Sie reichte es O’Melvany. Er warf einen Blick auf das Foto. »Der Mülleimer vor Ms. Orkins Tür.«

»Sehen Sie das an.« Sie deutete auf etwas, das in der Nähe des leeren Eimers lag. »Es sieht wie ein Stirnband aus.«

»Richtig. Es muß Ms. Orkin gehört haben.«

»Ein Stirnband. Susan trug keine Stirnbänder. Außerdem kam sie gerade aus der Dusche.« Wetzon starrte auf das Bild. Ein Stirnband. Wer, den sie kannte, trug ein Stirnband? An irgend jemandem hatte sie eines gesehen. Sunny? »Die Frau, die sie Freitag nacht besuchen kam. Wer war das?«

O’Melvany legte die Fotografien wieder in die Mappe, alle bis auf das letzte. »Jemand namens Edna Terrace.«