Wetzon in ihrer Holmes-Rolle spürte ein Prickeln des Vergnügens. Es war elementar. Ein Kokainsüchtiger könnte aus jenem winzigen Stückchen mehrere Kicks bekommen. Warum hatte niemand bisher den Ring erwähnt?

Ein anderer Gedanke kam ihr. Konnte der Diamantring etwas mit dem Beutel voller Schmuck, den Izz in Dillas Wohnung zu Wetzon gebracht hatte, zu tun haben? Sie hatte vom Inhalt des Beutels nicht viel sehen können. Die Frage war, ob Dilla den Ring getragen hatte, als sie starb.

Die in den Beutel gestickten Namen waren Lenny und Celia. Susan hatte Dillas Mutter Ruth genannt. Sunny könnte recht haben. Dilla war vielleicht wegen des Ringes ermordet worden. Wenn nicht Susan... nein, das war nicht möglich... Aber Wetzon wußte nur zu gut, daß selbst sie unter bestimmten Umständen fähig wäre zu... Und wenn Dilla Susan wegen einer anderen Person verlassen wollte? Der mysteriöse Investor für Hotshot, der sich nie gemeldet hatte. Vielleicht gehörte der Ring Susan. Wenn Susan es getan hatte, könnte sie den Ring genommen und... Um Gottes willen, nein. Nicht Susan. Genug davon, schalt sie sich. Schluß damit, steck es weg, denk an die Show.

Sie waren um sieben wieder im Theater, und die Technik- und Kostümprobe für den zweiten Akt begann. Die Truppe war jetzt bei »zehn von zwölf«, was bedeutete, daß die Gewerkschaften den Produzenten gestatteten, bis zur Premiere zehn von zwölf aufeinanderfolgenden Stunden ohne Überstundenstrafe zu proben. Verträge der Theatergewerkschaft legten einen Tag aus achteinhalb zusammenhängenden Stunden zugrunde, von denen sieben Stunden mit Proben zugebracht werden durften. Doch in den letzten Tagen vor einer Premiere außerhalb änderte sich alles. Produzenten bekamen mehr Spielraum. Die Proben gingen von acht bis Mittag, eins bis sechs und sieben bis Mitternacht — dann brach alles schlagartig ab. Denn nach Mitternacht war »goldene Stunde«, da erhielten Bühnenarbeiter den doppelten Lohn — fünfzig, sechzig, siebzig Dollar die Stunde — , obwohl sie sowieso schon Überstunden bezahlt bekamen.

Wetzon suchte sich einen Randplatz drei Reihen hinter dem Computertisch, der mit noch mehr zerknüllten Servietten, Kaffee- und Imbißbehältern übersät war, und hielt nebenbei ständig nach Mark Ausschau. Das Theater war kalt und ungelüftet.

Das Lichtstichwort kam wieder zu spät.

»Halt!«

Mort stürzte aus der Dunkelheit rechts im Proszenium und schrie nach Kay. Aber als er sich umwandte, sah Wetzon, daß es nicht Mort war, sondern Sam Meidner, der die gleiche Mütze wie Mort trug. Mit seinem grauen Bart sah der Komponist auf den ersten Augenblick bei der trüben Beleuchtung Mort erstaunlich ähnlich. Doch der saß in der dritten Reihe bei Carlos.

Fran schlurfte den Mittelgang hinunter und setzte sich in die Reihe hinter Wetzon. Sein Stock klapperte gegen die Lehne des Sitzes. Er drückte fest ihre Schulter. »Wie fühlst du dich?« Er sprach in normalem Plauderton, versuchte nicht zu flüstern.

Wetzon nickte und lächelte ihn an.

»Von oben«, gab JoJo an.

Sam zog sich zurück, und die Schauspieler begannen die Nummer von vorn. Als sie schließlich ohne Unterbrechung zum ersten Finale kamen, stießen alle einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Dakapo ging glatt bis zur letzten Note. Dann kam ein für einen zügigen Szenenwechsel entworfener Prospekt viel zu schnell herunter und krachte auf die Bühne. Die Schauspieler sprangen beiseite. Für einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen. Wie eine Eruption, ohne Schlinge und Stützkragen, kam Mort von seinem Platz hinter JoJo hoch.

»Phil! Wo ist der Arsch? Phil!. Verdammt. Ich bring’ ihn um.«

»Alle okay?« rief JoJo.

Alle bejahten.

Hinter Wetzon murmelte Fran leise vor sich hin, gab Unmutsäußerungen von sich.

Als Phil endlich auftauchte, am Boden zerstört, schrie Mort: »Verdammt noch mal, was ist mit dir los? Kriegst du denn überhaupt nichts hin?«

Der Inspizient ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid, Mort. Ich weiß nicht, was passiert ist.«

»Scheißer«, murmelte Fran.

»Faß den Jungen nicht so hart an, Mort. Wir fühlen uns alle ein wenig überfordert«, warf Carlos ein.

Mort wollte sich auf Carlos stürzen, besann sich jedoch eines Besseren. Er stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte beide Fäuste. Rumpelmortchen bekam einen Anfall. »Stell fest, was passiert ist!« brüllte er.

Walt Greenow und ein Bühnenarbeiter traten auf die Bühne. Sie blickten nach oben in die Soffitten und zeigten auf etwas. Walt sprach mit Phil, der in den Seitenkulissen verschwand.

»Alles okay«, rief Walt in Morts Richtung. Dann: »Zieht ihn auf.« Der Prospekt ruckte. Ein Stöhnen kam aus dem Orchestergraben. »Langsam!« drängte Walt.

Der Prospekt ging wieder hoch, neigte sich kurz, kam herunter, ging dann hoch.

Die Erleichterung war hörbar. Wetzon wollte etwas zu Fran sagen, aber als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da.

»In Ordnung, steigen wir am Ende des Dakapo ein.« Mort hatte sich anscheinend beruhigt. Er legte einen Arm um Carlos’ Schultern und flüsterte etwas. Carlos lachte.

Diesmal senkte sich der Prospekt, wie er sollte. Vereinzelter Applaus aus verschiedenen Ecken des Zuschauerraumes begrüßte ihn.

JoJo hob die Hand, und die Kostümprobe nahm ihren Fortgang. Blitzlichter leuchteten auf. Der Fotograf war tatsächlich Irwin Rodgers. Wetzon erkannte ihn, als er sich umdrehte, um einen neuen Film einzulegen. Sein Toupet saß schief.

Wetzon suchte das dunkle Haus ab. Sie sah Fran schwerfällig durch den Seitenvorhang in die Kulissen gehen.

Poppy Hornberg stand ziemlich weit hinten im Mittelgang, die Hände auf die breiten Hüften gestützt, und unterhielt sich mit Peg Button, die ein großes Musterbuch aus einem glänzenden Material in der Hand hatte.

Wo war Mark? Gerade als Wetzon an ihn dachte, sah sie ihn aus der Durchgangstür zu den Garderoben rechts kommen, mit einem Pappkarton in den Händen, den er so vorsichtig trug, daß Wetzon wußte, daß er Flüssiges brachte. Kaffee, Cola Light. Die Pflichten des Laufburschen.

Wetzon schob sich durch die Sitzreihe zum anderen Gang durch. Vielleicht konnte sie Mark erwischen. Sie sah ihn bei Mort und Carlos stehenbleiben. Mort reichte einen Becher an Carlos weiter und nahm Mark den nächsten ab, den er auf die Lehne des Sitzes stellte. Er streckte den Arm aus und streichelte Marks Hals, und Mark kam der Zärtlichkeit entgegen, als wäre Mort seine einzige wahre Liebe. O Scheiße, dachte Wetzon. Smith fällt tot um.

»Aufhören!«

Diesmal war es Carlos, der die Show unterbrach. Er klatschte in die Hände und lief zur Vorbühne. »Fünf, sechs, sieben, acht. Bleibt im Takt. JoJo, hilf uns dabei. Der Takt, Jungs. Ihr macht die Nummer kaputt. Ihr macht den Applaus kaputt.« Er griff sich an die Brust. »Ihr macht mich kaputt. Okay, JoJo...«

Mark blieb am Computertisch stehen und wurde drei weitere Getränke los, dann ging er durch den Mittelgang auf Poppy zu. Die Frau des Produzenten hatte sich in der letzten Reihe des Parketts niedergelassen. Sie klopfte auf den Platz neben sich. »Setz dich zu mir, Smitty«, hörte Wetzon sie sagen.

»Ich komme sofort«, sagte Mark zu Poppy. »Ich muß das erst zu Kay bringen.«

Wetzon, im Dämmerlicht kaum zu sehen, folgte Mark. »Kay ist auf der Toilette«, rief sie.

Mark fuhr zusammen und ließ den Karton fallen. Aus dem letzten Becher schwappte Kaffee durch das Trinkhalmloch im Plastikdeckel und sickerte durch den Karton auf den Teppich. Er machte ein Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen. »O Gott, Wetzon. Sag bitte Mom nichts.« Er bückte sich und hob mit zitternden Händen die Schachtel auf.

»Mark, was soll denn diese Smitty-Geschichte und daß du allen sagst, du wärst zweiundzwanzig?«

»Ich möchte am Theater sein, Wetzon. Dafür würde ich alles tun. Ich möchte nicht aufs College gehen«, flüsterte er wehleidig.

»Du kannst zum Theater gehen — niemand wird dich daran hindern, wenn du es wirklich willst — , aber bring erst das College hinter dich. Deine Mutter wird sich furchtbar aufregen, wenn sie es erfährt.«

»Bitte sag ihr nichts.« Der Junge war so unglücklich, daß sie ihn am liebsten in die Arme genommen hätte, aber dafür war er zu alt, und zu viele Leute waren im Augenblick scharf darauf, ihn in die Arme zu nehmen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich dich hier treffe«, sagte Mark.

»Aber du wußtest, daß Carlos mein Freund ist.«

»Er ist wirklich sehr nett gewesen. Mort und Poppy auch. Mort will mir helfen, Arbeit am Theater zu bekommen.«

»Mark, du kannst dich auf Carlos verlassen, aber Mort und Poppy würden dich eher zweiteilen, als zuzulassen...« Sie zögerte. »...daß dich der oder die andere bekommt. Verstehst du? Poppy benutzt dich.«

Er senkte den Kopf. »Wetzon, es ist nicht so, wie du denkst... ich bin... nicht... Poppy ist...« Er biß sich auf die Lippen.

»Was, Mark? Du weißt, daß du mir alles erzählen kannst.«

Da sah er sie beinahe trotzig an. »Wetzon... ich bin...« Seine Stimme schnappte über. Er schluckte. »Ich bin schwul.«

Wetzons erster quälender Gedanke galt Smith. Doch Marks Not war größer. Sie berührte die Wange des Jungen, stellte sich dann auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in die Hände und sah ihm in die Augen. »Mein Lieber, du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß mir deine sexuellen Vorlieben egal sind. Ich möchte, daß du glücklich bist. Aber deine Mutter...«

Kay kam aus der Toilette; verlegen lösten sich Mark und Wetzon voneinander. Die Lichtregisseurin blickte amüsiert vom einen zur anderen.

»Hier ist Ihr Kaffee, Kay«, sagte Mark.

»Mann, o Mann, Smitty, du bist mir einer.« Bewunderung klang in Kays Stimme an. Sie nahm den Kaffee.

»Es ist nicht, was du denkst, Kay«, sagte Wetzon.

»Was denke ich denn, Leslie?«

Sie sahen Kay nach, die den Seitengang hinunterging. Wetzon schaute sich um. »Komm hier herein, Mark.«

»Aber das ist die Damentoilette.«

Sie lachte. »Wir sind im Showbusineß.« Sie machte die Tür auf und rief: »Jemand hier?« Als niemand antwortete, zog sie Mark herein und schloß die Tür. Sie nahm ihm den leeren Pappkarton ab und ließ ihn neben dem Abfalleimer auf den Boden fallen. »Wie lange weißt du es schon?«

»Ich habe mich anders gefühlt, aber ich wußte nicht warum. Als ich dann weggegangen bin, auf die Schule, ist es mir klargeworden...«

»O Kleiner, das wird nicht leicht für dich sein. Weißt du das?«

Er wußte es nicht, aber sie ließ es auf sich beruhen. »Wie bist du in dieses Theater geraten?«

»Dilla. Ich bin immer zu den Proben heimlich hereingekommen, und dabei hat sie mich einmal erwischt.«

Wetzon seufzte. »Und die Schule?«

»Ich habe gesagt, daß es meiner Mutter nicht gut geht, und mich nachmittags in den Zug gesetzt — ungefähr drei- oder viermal in der Woche, sooft ich konnte.«

»Wo hast du gewohnt?«

»Bei Dilla und Susan. Sie haben mich praktisch adoptiert. Ich habe ihnen gesagt, daß ich Waise bin.«

»Oje, Mark.« Smith würde total durchdrehen. »Deine Mutter ist hier, mußt du wissen, und sie wird dich sehen, also wirst du ihr sagen müssen...«

»Du lieber Gott, Wetzon, ich kann ihr doch nicht sagen, daß ich schwul bin.«

»Nein, das wohl nicht, aber du kannst ihr sagen, daß du bei der Show mitarbeitest. Versprichst du mir das?«

»Abgemacht.«

»Wie bist du überhaupt zu der Show gekommen?«

»Dilla hat mich Mort vorgestellt. Und natürlich auch Carlos.«

Mein Gott, dachte Wetzon. Dilla hat Mort Jungen zugeführt. »Hast du dich auch während der Besprechung in der Nacht, bevor Dilla ermordet wurde, im Theater herumgetrieben?«

Er nickte. »Ich war gerade hingekommen. Es hat stark geregnet, ich war völlig durchnäßt. Ich glaube, keiner hat mich so richtig bemerkt. Sie haben sich über irgendwas gestritten, und dann ist Carlos weggegangen. Er war furchtbar wütend. Ich habe noch eine Weile herumgelungert, bis Sam und Aline gegangen sind. Aber dann hatten Mort und Dilla einen heftigen Streit.«

»Worüber?«

»Ich weiß nicht. Daß sie ihn immer deckte oder so etwas und er sie im Regen stehen ließ, wenn sie ihn einmal brauchte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, und bin zum Bühneneingang hinausgegangen. Es hat gegraupelt und geregnet, und mir war kalt, aber ich hatte die Tür hinter mir zugezogen und konnte nicht zurück, weil sie verschlossen war. Und ich hatte keinen Schirm. Mort wollte eigentlich mit mir essen gehen — so war es geplant — , aber er hatte es wohl vergessen.«

»Wo hast du die Nacht verbracht?«

»Ich habe Carlos angerufen. Er hat mich bei sich übernachten lassen.«

»Nur diese eine Nacht?«

»Über das Wochenende.«

Wetzon seufzte entmutigt. »War das Theater zur Straße hin dunkel? War noch jemand da?«

»Meinst du, als ich ausgeschlossen war?«

Sie nickte.

»Ich bin um den Block herumgerannt, zum Haupteingang an der 45. Street, aber der war auch abgeschlossen«, sagte Mark. »Ich konnte jemand drinnen sehen, im Kassenraum, aber sie hat mich nicht hineingelassen.«

»Und?« Sie war richtig sauer auf Mort, aber vermutlich hatte sie dazu kein Recht. Wie