Kurz vor halb sieben, der eingestellten Weckzeit, wachte Wetzon mit einem euphorischen Gefühl auf, das sie wie ein Wunder empfand. Es ähnelte den Nachwirkungen einer Migräne, wenn der Schmerz verschwunden ist, die Muskeln entspannt sind und das Gefühl von Frieden und Freude sich steigert. War es möglich, daß sie noch vor wenigen Stunden überzeugt gewesen war, sie würde sterben?
Sie lag in Silvestris Armen und dachte: Hier gehöre ich hin. Sie hatten sich während der Nacht zweimal geliebt, mit einer Intensität, die sie erstaunt und vielleicht sogar geängstigt hatte.
Sie legte den Kopf zurück und küßte sein Kinn mit den vertrauten dunklen Stoppeln. Er rührte sich und machte die Augen auf. Im ersten Augenblick war er verwirrt, wo er sich befand, dann spannten sich seine Arme fester um sie.
»Was empfindest du?« Seine Stimme klang rauh und kratzig.
»Frieden«, antwortete sie. Sie schob sich auf ihn. »Und Liebe.«
Seine Hände fanden ihr Kreuz und spazierten die Wirbelsäule hinauf. »Les...«
Sein Piepser ging los, und ehe sie darauf reagieren konnten, ihr Wecker. »Verdammt«, sagte sie.
Sie sahen einander an. Es war komisch. Wetzon rollte auf den Rücken herum, streckte eine Hand aus und schaltete den Wecker ab. Silvestri griff zum Telefon und meldete sich.
Das T-Shirt, das sie getragen hatte, lag vor dem Bett auf dem Boden. Sie zog es über den Kopf, spürte dabei Silvestris Blick und empfand plötzlich Scheu. Mit ihren Mokassins an den Füßen tanzte sie in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an, schloß die Wohnungstür auf und holte die Times und das Wall Street Journal von der Fußmatte herein. Sie war neugierig, was die Times über den Mord an Dilla brachte.
Silvestri sprach immer noch leise am Telefon, als sie den Kopf ins Schlafzimmer streckte, also putzte sie sich die Zähne und genehmigte sich eine dampfend heiße Dusche. Sie machte einige Kniebeugen und Dehnübungen. Alles in Ordnung soweit! Was also war letzte Nacht wirklich mit ihr passiert? Doch weiter kam sie nicht, weil Silvestri zu ihr unter die Dusche kam, und erst beim Kaffee kam er auf das Thema zu sprechen.
Er stellte den Becher ab. »Les, hast du mit jemandem über letztes Jahr gesprochen?« Sein Blick verlangte, daß sie ihm in die Augen sah.
»Was über letztesjahr?« Sie faltete ihre Serviette zusammen, faltete sie zum zweitenmal.
»Versteck dich nicht«, sagte er leise. »Daß auf dich geschossen wurde. Ich spreche von einem Psychotherapeuten.«
»Ach, Silvestri...« Sie tat seine Worte mit einer Handbewegung ab. Sie wollte sich bremsen, konnte es aber nicht. Es war, als hätte er auf die Knöpfe gedrückt, und es gab kein Halten mehr bei ihr.
»Nichts da, >ach, Silvestri<.« Er packte ihre Hand. »Was du letzte Nacht hattest, war ein ausgewachsener, klassischer Angstanfall.«
Sie starrte ihn entsetzt an. Ein Angstanfall? Sie kam sich albern vor. »Woher willst du das wissen?« Es kam unabsichtlich aggressiv heraus. Oder vielleicht war es doch absichtlich. Sie zog ihre Hand aus seiner.
»Ich habe es selbst einige Male erlebt. Die Therapeuten bezeichnen es als posttraumatisches Streßsyndrom. Mit besonders großer Wahrscheinlichkeit tritt es nach einer lebensbedrohenden Situation auf.«
»Aber das war letztes Jahr, Silvestri.« Sie wickelte den Handtuchturban um ihren Kopf ab, ließ das Tuch auf die Schultern fallen und fuhr mit den Fingern durch das feuchte Haar. Ihre Finger suchten den winzigen Wulst auf der Kopfhaut: sie fröstelte.
»Wann, spielt keine Rolle. Du hast dich nicht damit auseinandergesetzt. Du hast...«
»Ich glaube, ich habe mich durchaus damit auseinandergesetzt.«
»Setz dich nicht aufs hohe Roß, Les. Okay?« Er hörte sich ärgerlich an. »Ich kenne dich. Ich wette, du hast es irgendwo in deinem Kopf geparkt und dort stehengelassen. Und jetzt steckst du bis zum Hals in dieser neuen Geschichte.«
Sie war wütend. »Du kennst mich? Du kennst mich überhaupt nicht, Silvestri. Ich habe dich acht Monate nicht gesehen, und du denkst immer noch, du kannst mir sagen, was ich tun soll.«
»Neun.«
»Neun? Wirklich?«
»Mhm.«
»Du meine Güte, neun Monate...«
»Und ich wette, du hast diesen Traum mindestens einmal in der Woche.«
»Was für einen Traum?«
»Daß auf dich geschossen wird.«
»Woher weißt...«
»Ich sage es doch, Les. Ich habe Panikanfälle bei großen tapferen Polizisten und Soldaten erlebt.«
»Es kam mir real vor. Es ist nicht psychosomatisch.«
»Es war real.«
»Silvestri.« Ihre Stimme war so dünn, daß sie sich selbst kaum hören konnte. »Ich träume, daß ich den Blitz vom Mündungsfeuer sehe. Ich kann das Pulver riechen, spüre den stechenden Schmerz. Aber ich habe bis jetzt noch keinen Angstanfall erlebt.«
»Dann hast du Glück gehabt, Les. Was gestern passiert ist, war der Auslöser.«
»Was meinst du?«
»Ich meine den Dilla-Crosby-Mord.«
»Dilla.«
»Dein Unterbewußtsein versucht, dir etwas mitzuteilen, Les. Du bist überdreht. Hör darauf. Du bist erst völlig in Ordnung, wenn du gelernt hast, um Hilfe zu bitten.«
Sie seufzte. »Du hast dich verändert, Silvestri.«
Er schien verwirrt, runzelte die Stirn. »Es geht hier nicht um mich, Les. Bleib beim Thema.«
Sie hörte nicht darauf. Faltete die Serviette wieder andersherum. »Probierst du eines von deinen psychologischen Profilen an mir?«
»Vielleicht sollte ich. Ich könnte herausbekommen, warum ich...« Er brach mitten im Satz ab, stand auf und ging aus dem Zimmer.
Sie war niedergeschlagen. Sie schob die Kaffeebecher beiseite, legte den Kopf auf die Arme auf dem Tisch. Als er wieder hereinkam, war er bis auf die Jacke angezogen. Er rückte seine Schulterhalfter zurecht.
»Entschuldige«, murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. »Danke für letzte Nacht.«
Er legte seine Hand auf ihr Haar. »Les, du bist ein solcher Dickkopf.«
Sie wurde zornig — sie konnte nichts dagegen tun — und baute sich vor ihm auf, ganze stolze hundertachtundfünfzig Zentimeter. »Tausend Dank, Silvestri.«
»Sag mir, daß ich mich irre.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du noch mit Pinkus zusammen?«
Sie nickte.
»Er ist zu alt für dich.« Dann fügte er hinzu: »Und du hast ihn vermutlich um den kleinen Finger gewickelt. Er sagt bestimmt nie nein zu dir. Der arme Trottel.«
»Mach, daß du rauskommst, Silvestri. Hör endlich auf, mir zu sagen, was ich tun soll.« Sie war wütend; die Hände waren zu Fäusten geballt.
Doch Silvestri schien es nur zu belustigen, was sie noch mehr in Rage brachte. Und Alton sagte wirklich nie nein zu ihr. Da hatte Silvestri recht.
»Muß ein bißchen langweilig sein.« Er zog die Jacke an.
»Hm?«
»Wie ein guter Papi...«
Sie stürzte sich auf ihn, bearbeitete ihn mit den Fäusten, und er lachte, hielt ihre Hände fest und küßte sie, und sie waren wieder da, wo sie angefangen hatten.
»Verschwinde aus meinem Leben, Silvestri«, flüsterte sie in sein Hemd.
»Nicht im Traum«, erwiderte er. »Außerdem werde ich mit Bernstein an dem Crosby-Fall arbeiten.«