Wetzon legte Anita Shreves neuen Roman beiseite und schaltete das Licht aus. Dunkelheit umfing sie sofort. Sie lag lange reglos da und lauschte ihrem Herzschlag.
Aber das ist albern, schalt sie sich. Du hast mit Silvestri und Sonya gesprochen, also ist es erledigt, und du wirst diesen Traum nicht noch einmal träumen.
Denk an andere Dinge. Okay. Wovor hatte Susan Orkin solche Angst? Und hatte der versuchte Einbruch etwas mit dem Mord an Dilla zu tun? Warum war Susan nicht zur Polizei gegangen? Was war aus dem Drohbrief geworden? Wußte Susan, wer der Mörder war? Schützte sie ihn — oder sie — aus irgendeinem Grund? Herrgott. Sie wälzte sich auf die Seite.
Und dann die überraschende Information über Edna Terrace, die Kassenleiterin des Imperial war. War Edna in der Kasse gewesen, als das kreative Team in der Nacht vor Dillas Tod seine stürmische Sitzung hatte? War sie am Samstag dagewesen, als Dillas Leiche entdeckt wurde? Dann mußte es Edna Terrace gewesen sein, mit der Phil an jenem Nachmittag im Kassenraum gesprochen hatte.
Und Bernstein war tatsächlich weniger unangenehm gewesen, hatte sich für ihre Hilfe bedankt und sie gebeten, in Boston die Augen offenzuhalten. Er hatte ihr sogar seine Karte gegeben und seine Privatnummer auf die Rückseite geschrieben, damit sie ihn anrufen könnte.
Sie legte sich wieder auf den Rücken. Beginne tief und langsam zu atmen, entspanne zuerst die Zehen. Silvestri hatte nicht angerufen. Entspanne die Füße. Atme hinein. Wie auch immer. Alton würde in vier Tagen zurück sein, und dann würde sie sich mit seinem Antrag befassen müssen. Entspanne die Knöchel. Spüre, wie die ganze Spannung abfließt. Sie hoffte, Smith würde in Boston nicht zur Strapaze werden. Entspanne Schienbeine und Waden...
Sie wußte sogar im Schlaf, daß es anfing, und flehte, nein, nein, nein. Sie kämpfte dagegen und verlor. Unerbittlich wurde sie in ein riesiges Vakuum gesogen.
Das Licht explodierte in ihrem Gesicht heiß wie eine Flamme, und ihre Nase brannte vor beißendem Qualm. Ihr Kopf, ihre Augen — »Nein, nein, halt!« Ihre wilden Schreie rissen sie aus dem Traum. Sie wachte verkrampft in einer Embryolage auf, zitternd und schwitzend, mit hämmerndem Herzen.
Ihre Digitaluhr zeigte 3:35 an.
»Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung«, redete sie sich laut ein. »Es ist ein Traum. Setze dich damit auseinander. Du brauchst Silvestri nicht. Du brauchst überhaupt keinen Menschen.« Sie beruhigte sich, und kalter Schweiß ließ sie sogar unter der Steppdecke frösteln.
Als sie endlich nicht mehr zitterte, stand sie auf, schlüpfte in den Bademantel und tappte über den Flur in die Küche. Dort bereitete sie sich eine Tasse heiße Schokolade aus In-stantkakao und Magermilch. In sehnsüchtiger Erinnerung an mütterliche Fürsorge kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Sie trank ein paar kleine Schlucke, dann stellte sie den Becher auf den alten Waschständer neben dem Bett und legte sich wieder hin. Noch ein Schluck Kakao. Das Gähnen überraschte sie; sie ließ sich in das Kissen sinken.
Der Radiowecker weckte sie um halb sieben. Ungefähr ein Drittel der Schokolade war noch im Becher, und die Nachttischlampe brannte. Aber sie hatte die Nacht einigermaßen gut überstanden. Nur auf sich gestellt.
Zur Belohnung machte Wetzon auf dem Weg ins Büro bei Mangia in der 48. Street halt und kaufte ein Vollkornbrötchen zum Frühstück und ein Sandwich mit Mozzarella und sonnengereiften Tomaten zum Mittagessen.
Sie straffte die Schultern und schritt zielstrebig auf der 49. Street nach Osten auf ihr Büro zu. Der Fetzen einer Melodie aus einem Song, den Gwen Verdon in New Girl in Town gesungen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. »It’s good to be alive«, summte Wetzon. Ihr kam eine junge Frau in einem glänzenden schwarzen Regenmantel mit gelbem Flanellbesatz und gelben Gummistiefeln entgegen. Ein Golden Retriever an einer langen Ausziehleine sprang einige Schritte vor ihr her. Wetzon war gerade stehengeblieben, um den freundlichen Hund zu streicheln, als sie einen schrecklichen Schrei hörte. Das Gesicht der Hundebesitzerin war zur Grimasse verzerrt. Wetzon trat sofort zwischen einem schwarzen BMW und einem roten Kombi in den Rinnstein, um auf die andere Seite zu gehen.
»Wissen Sie, wie viele Tiere verbluten mußten, damit Sie diesen Mantel tragen können?« schrie die junge Frau sie an. Der Golden Retriever begann zu bellen und rannte zu seiner Besitzerin zurück.
Wütend ging Wetzon auf den Bürgersteig zurück. »Wissen Sie, was Ihre kostbaren Synthetics unserer Ozonschicht angetan haben?« erwiderte sie. »Sehen Sie sich an und weinen Sie. Sie sind eine wandelnde Reklame für Ozonvernichtung.«
Die Frau wirkte verdutzt, was Wetzon genügte. Sie hatte sie restlos satt, die modischen Reichen, die sich zu Richtern aufschwangen und Fleischesser und Pelzträger verurteilten, wo es hungernde Kinder gab und man überall problemlos Waffen kaufen konnte.
Fröhlich winkte Wetzon Steve Sondheim zu, der gerade aus seinem Haus kam.
Alles in allem, dachte sie, als sie die Second Avenue zu ihrem Büro überquerte, ein sehr guter Anfang für den Tag.
»Rich McMartin sitzt bei SMQ«, verkündete Max, als Wetzon hereinkam. Köstlicher Kaffeeduft füllte das Büro.
»Das ist mal eine Nachricht, wie sie mir gefällt.«
»Was dagegen, Max?« Smith erschien in der Tür. Ihre Augen funkelten Max warnend an. »Es ist nicht deine Aufgabe, über Einstellungen zu berichten«, sagte sie streng.
Wetzon drohte Smith mit dem Finger. Verstohlen formte sie mit den Lippen, bitte nicht.
Smith achtete nicht darauf. »Wir werden ein paar Wochen warten müssen, bis seine Zulassung überprüft ist, bevor wir die Rechnung schreiben.«
»Wirklich? Warum? Rich hat gesagt, daß er sauber ist.«
»Eine kleine Computeranfrage hat drei Defekte auf seiner Registration an den Tag gebracht.«
»Verdammt. Was für Defekte?« Wetzon hängte ihren Mantel auf und goß sich einen Becher Kaffee ein.
»Geringfügige Sachen — wie unbefugter Wertpapierhandel. Rügen, aber keine Gerichtsverfahren.«
»Unbefugter Wertpapierhandel ist eine geringfügige Sache?« Max war entsetzt. Er war in seinem früheren Leben ein pedantischer Buchhalter gewesen.
»Glaub mir, Mäxchen.« Smith gab ihm einen gönnerhaften Klaps auf die hängenden Schultern. »In einer Welt, wo es Geldwäsche und Insidergeschäfte gibt, ist ein bißchen unbefugter Wertpapierhandel ein geringfügiges Vergehen. Besonders, wenn niemand klagt.«
Max runzelte die Stirn. Er trug ein blaugestreiftes Hemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten und eine knallrote Fliege. Als er die Stirn in Falten zog, hüpfte seine Fliege auf und ab. »Warum bekommt McMartin dann nicht grünes Licht?«
»Wenn ein Makler mit einem einwandfreien Zeugnis die Stelle wechselt«, erklärte Wetzon, »überträgt die New Yorker Aktienbörse seine Lizenz elektronisch innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und der neue Geschäftsführer bekommt eine mündliche Unbedenklichkeitserklärung über den Makler sogar noch schneller. Aber wenn irgend etwas, gleich was, auf seiner Registration vermerkt ist, muß alles per Hand geprüft und genau unter die Lupe genommen werden. Es kann Wochen dauern, manchmal Monate.«
»Was macht denn der Makler ohne seine Zulassung?«
Smith warf die Arme in die Luft und verschwand in ihrem Büro. Sie schlug die Tür zu.
Wetzon blickte ihr mit hochgezogener Braue hinterher. »Die meisten Firmen lassen den Makler unter dem Namen des Geschäftsführers oder der Zweigstelle arbeiten. Nicht ganz legal, aber alle drücken ein Auge zu. Max, gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»Sie ist schlecht gelaunt«, sagte Max.
»Das hätte ich nie erraten.«
Max blickte verständnisvoll auf die geschlossene Tür. Seit er vor zwei Jahren zu ihnen gestoßen war, behandelte er Smith stets mit Nachsicht. »Hat was mit Mr. Hartmann zu tun, glaube ich.«
»Oje. Danke, Max. Du bist ein Schatz.« Wetzon ertappte sich dabei, daß sie ihm einen Handkuß zuwerfen wollte, und bremste sich gerade noch. Was zum Henker war mit ihr los? Wurde sie wie Smith? Sie machte die Tür zu ihrem Büro auf, ging hinein und schloß die Tür. In Wahrheit würde sie sich ausgesprochen freuen, wenn Smith mit Hartmann Schluß machte. Sie ließ die Aktentasche auf den Stuhl fallen und stellte den Becher auf ihren Tischkalender.
»Du gehst immer viel zu kumpelhaft mit dem Personal um.« Smith saß halb auf dem Schreibtisch, während sie ein Bein ärgerlich hin und her schwang. Ihr Gesicht war gewitterdunkel.
»Hör schon auf, Smith. Worüber ärgerst du dich so?«
Das Telefon läutete, wurde abgenommen, und eine andere Leitung begann zu läuten. Die Lämpchen blinkten auf.
»Also?« fragte Wetzon.
Smith verzog das Gesicht und brach in Tränen aus.
»Um Gottes willen, was ist los?«
Wetzon stürzte zu ihr. Smith schluchzte an ihrer Schulter. »Es ist furchtbar. Furchtbar.«
»Was ist furchtbar?«
»Dickie ist verhaftet worden.«
»Wirklich, Richard Hartmann, Esquire, verhaftet? Weshalb? Los, sag schon. Haben sie endlich herausbekommen, daß er Geld gewaschen hat?«
Smith machte sich los, trocknete die Augen mit einem Papiertuch und schneuzte die Nase. »Du brauchst dich gar nicht so zu freuen. Und ich lasse dich wissen, daß es nicht wegen Geldwäsche war, sondern wegen Mißachtung des Gerichts.« Sie schneuzte sich noch einmal und ließ das zerknüllte Taschentuch in den Papierkorb fallen. »Ich wollte nach Miami fliegen, um bei ihm zu sein, aber er will nichts davon hören.«
»Mißachtung, so? Das ist phantastisch. Mißachtung des Gesetzes, des Rechtssystems, der Richter, der Menschen. Weißt du was, dieser Mann ist es nicht wert, daß auch nur eine einzige Träne seinetwegen vergossen wird. Andere Leute sind dem schnurz und piepe. Ich habe dich gewarnt, dich mit ihm einzulassen. Du hast Besseres verdient.«
»Du bist herzlos, weißt du das? Absolut herzlos.« Smith holte die Puderdose vor und begann, sich die Nase zu pudern. »Ich weiß, du meinst es gut, aber...«
»Twoey nun, der steht auf einem ganz anderen Blatt.«
»Twoey!« Die goldene Puderdose klappte mit einem Knall zu. »Wie ich die Loblieder auf Twoey satt habe. Wenn du ihn so magst, kannst du ihn haben.«
»Fang nicht damit an, Smith. Außerdem habe ich im Augenblick mehr als genug am Hals. Aber Twoey Barnes ist Gold Wert, durch und durch. Schieb ihn nicht so schnell beiseite.«
Smith fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen dunklen Locken und lächelte. Der Sturm war vorüber. »Wir werden sehen. Ich habe ein Auge auf Joel Kidde geworfen. Er scheint zur Zeit ungebunden zu sein.«
Max klopfte an die Tür, während Wetzon aufstöhnte.
»Herein, Mäxchen«, befahl Smith.
»Carlos auf drei für dich, Wetzon.«
»Der liebe Carlos«, sagte Smith. Sie zog ihre Strümpfe an den Knöcheln glatt und bedachte Wetzon mit einem völlig unschuldigen Lächeln. »Richte ihm bitte meine besten Wünsche aus.«
Wetzon nahm den Hörer ab. Was hatte es mit Smith’ plötzlichem Wetterumschwung auf sich? »Hallo. Wie geht’s so?«
»Häschen, es könnte nicht schlimmer sein.« Carlos’ Stimme war so heiser, daß er krächzte. »Jeder kämpft hier gegen jeden. Mort macht Szenen wie ein Irrer. Dein Freund Twoey Barnes läuft herum, als hätte es bei ihm eingeschlagen, und Mort ordnet immer mehr Ausstattung an, und wer braucht die? Wir haben uns alle schon früh darauf verständigt, daß weniger mehr wäre...«
»Ich dachte, es wäre kaum genügend Geld vorhanden, um in Boston zu spielen?«
»Sein neuer Partner scheint tiefe Taschen zu haben.«
»Du meine Güte, Twoey...«
»Ich kann es nicht erwarten, bis du kommst. Mort hat immer auf dich gehört.«
»Das ist lange her, Carlos.«
»Schatz, ich kann dir jetzt schon verraten, daß dies meine letzte Show mit Mort ist. Du hast keine Ahnung, wie furchtbar es ist. Er hat Sam einen untalentierten Schreiberling genannt. Das nächste war ein Tobsuchtsanfall wegen der Instrumentation, weil sie Poppy nicht gefiel.«
»Was versteht Poppy von Instrumentation?«
»>Was versteht Poppy von Instrumentation?< fragt sie. Was braucht Poppy Hornberg überhaupt von irgendwas zu verstehen? Sie gibt einfach solche Sprüche von sich, und alle hören auf sie, besonders Mort. Poppy hält die Beleuchtung für zu dunkel, also sagt Mort zu Kay, sie könnte sich nicht einmal selbst heimleuchten.«
»Originell.«
»Dann beschimpft er Phil vor der ganzen Truppe und Mannschaft als Idioten, weil er einen falschen Einsatz gegeben hat.«
»Das schafft gewiß Vertrauen allerseits.«
»Und als Aline Phil verteidigen wollte, bezeichnete Mort sie als fette Lesbe, die sich als Frau verkleidet.«
»Was soll’s. Der übliche Mort-Hornberg-Koller. Wie bist du davongekommen?«
»Bin ich ja nicht, Schatz. Er hat mir gesagt, daß er jemand kommen läßt, der weiß, wie man eine Broadway-Show choreographiert.«
»Mann.« Das war ernst. »Wie hast du reagiert?«
»Ich habe gesagt, wenn er das tut, werde ich ihn mit Vergnügen umbringen.«
»Ich helfe dir gern dabei, wenn du wartest, bis ich dort bin.«
»Zu spät, Schatz. Jemand anderes könnte schon vor uns hingekommen sein.«