Es hatte aufgehört zu schneien. Der Public Garden, das Ritz und die Newbury Street sahen aus wie ein Druck von Charles Aubry. Boston unter einer Schneedecke hatte eine Ausstrahlung, die einen ins 19. Jahrhundert versetzte.

Carlos und Wetzon plauderten im Taxi, eifrig darauf bedacht, das Thema Smitty zu meiden.

Am Colonial standen die Leute schon vor der Tür und auf dem Bürgersteig Schlange. Ein Übertragungswagen war im Parkverbot vor dem Theater geparkt. Zwei Reporter interviewten Leute in der Kartenschlange. Ein Fotograf machte Aufnahmen mit dem Blitzlicht. Als ihr Taxi abbremste, lief eine Frau mit einer Kamera auf sie zu.

»Fahren Sie zur Gasse herum«, wies Carlos den Fahrer an.

»Das gibt heute ein volles Haus, trotz Schnee und Klohäuschen«, sagte Wetzon.

Die Frau mit der Kamera folgte ihnen die halbe Straße entlang, dann gab sie auf und ging zum Theater zurück.

Allen’s Alley war von einem Streifenwagen blockiert. Ein junger Officer stieg aus und wartete auf sie.

»Dafür, daß wir trockene Füßchen behalten haben.« Carlos bezahlte den Taxifahrer, und sie schoben sich an dem Streifenwagen vorbei. »Carlos Prince und Leslie Wetzon, Choreograph und Assistentin.«

Der Polizist ließ sie durch.

»Ich sehe, ich habe einen neuen Beruf.«

»Wenn es nur wirklich so wäre.«

Die Tür am Bühneneingang wurde von einem Backstein offen gehalten. Ein stumpfer Gegenstand, dachte Wetzon. Wo war er hergekommen?

Ein ausgezehrter Mann mit verquollenen Augen spielte heute abend Cerberus. Er hielt einen kalten Zigarrenstummel zwischen schmalen gelblichen Lippen; seine Raucherstimme nuschelte um den Stummel herum. Gerade berichtete er Walt Greenow, wie schwierig es gewesen war, bei dem Sturm und Schnee von Needham hereinzukommen.

Wetzon trat den Schnee von ihren Wildlederpumps ab.

Noch eine gute halbe Stunde, und die köstliche Furcht vor dieser ersten Vorstellung vor einem Publikum war hinter der Bühne zum Greifen real. Die süße Spannung wirkte berauschend.

»Häschen, Fran hat eine Karte für dich. Du sitzt neben mir.«

»Ich fühle mich geehrt.«

Carlos gab ihr einen gebremsten Faustschlag ans Kinn. »Er ist wahrscheinlich vorn. Ich muß weg und meinen Tänzern merde wünschen.«

»Merde für dich, Lieber.« Sie küßte ihn leicht auf die Lippen.

Die Aufregung war greifbar, und Techniker eilten hin und her, testeten Beleuchtung, Klang, Winden. Jeden Augenblick würden sie jetzt die Türen öffnen und das Publikum einlassen.

»Aber wenn du die Palette veränderst, ruinierst du meine Kostüme.« Peg Buttons Stimme übertönte das Surren eines elektrischen Bohrers.

»Sprich mit Mort. Ich streite nicht mehr«, erwiderte Kay.

Auf der Bühne stand ein Elektriker auf einer hohen Leiter und wechselte eine durchgebrannte Birne aus.

Ein leiser Trommelwirbel, dann der Klang von Saiteninstrumenten, die gestimmt wurden, drang durch das Haus und die Vorhänge und unter dem Bühnenboden hervor. Alles trug zu der beschwingten, erwartungsvollen Atmosphäre bei.

Wetzon ging die Treppe hinunter in das leere Haus. Die Holzplanken und Computer waren verschwunden, ebenso die Drähte und Kabel, die den Mittelgang zur gefährlichen Hindernisbahn gemacht hatten. Der erste Schub von Kartenbesitzern drängte sich an den Eingängen. Die Leute warteten ungeduldig auf Platzanweiser.

Gegen den Strom kämpfte sich Wetzon durch den Seitengang vor. Bostoner Theaterbesucher machten sich immer noch fürs Theater fein, was man von den nachlässigen New Yorkern nicht gerade behaupten konnte.

Drei Monitore hingen an der Kante des Ranges, unpassende High-Tech zwischen dem überladenen Schnitzwerk und Blattgold des alten Theaters.

Zu dem Widerspruch trugen auch die drei weißen transportablen Toiletten bei, die wie riesige Wächter im Foyer standen.

Fran Burke stand vor der rückwärtigen Wand bei der Tonkabine und sprach mit Sunny Browning. Er bewegte seine geschwollene Hand auf dem Griff eines Aluminiumstockes. Als er Wetzon entdeckte, winkte er sie mit einer Neigung des Kopfes zu sich.

»Möchtest du, daß ich mit dem Jungen rede?« sagte Fran gerade, als Wetzon zu ihnen trat.

Sunny schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, es ist besser, wenn ich das mache. Ich hole Twoey. Er kennt ihn seit Jahren.« Sie sah Wetzon anerkennend an. »Wie ich höre, untersuchen Sie den Mord an Dilla.«

»Klatsch verbreitet sich schnell. Aber ehrlich, ich weiß nicht mehr als Sie...«

»Ich würde mich nicht hineinziehen lassen, wenn ich an deiner Stelle wäre, Mädchen.« Fran langte in eine seiner geräumigen Taschen und zog eine Sammlung gelochter und mit einem Gummiring zusammengehaltener Karten heraus. Totes Holz wurden sie genannt, weil Freikarten fürs Theater ursprünglich aus Holz gemacht wurden. »Ich habe eine Karte für dich.« Er blätterte den Packen durch, zog eine heraus und gab sie ihr. L 102. »Carlos hat 101.«

»Wo ist dein schöner Stock geblieben?« Wetzon steckte die Karte in die Manteltasche.

»Der hier ist bei Schnee besser«, antwortete er beiläufig.

»Fran!« Aus dem Foyer tauchte ein junger Mann auf. »Bill möchte wissen, ob du drei Karten für Joel Kidde reserviert hast.«

»Ja. Entschuldigt mich, meine Damen.« Fran setzte sich langsam in Bewegung, als würden seine Gelenke blockieren, wenn er längere Zeit Stillstand, was wahrscheinlich zutraf. Während Wetzon ihm nachschaute, dachte sie: Er ist der große alte Mann der Tourneemanager. Es klang durchaus plausibel, daß er den Kartenschwarzmarkt kontrollierte — falls es tatsächlich einen gab.

»Ist was mit Smitty?« Wetzon und Sunny wurden von der hereindrängenden Menge an die Wand gedrückt.

»Mort möchte, daß ich ihn abserviere.«

»Wann?«

»Jetzt. Heute abend. Ich werde bis nach der Vorstellung warten, aber das ist doch beschissen — den Jungen nicht bis zur Premiere zu behalten.«

»Große Klasse, dieser Mort Hornberg.« Wetzon verspürte plötzlich Gewissensbisse, als sie auf den Mittelgang zuging. Es war ihre Schuld, aber warum mußte Mort so streng sein? Er hätte Smitty nach der Premiere wegschicken können.

Die Lichter im Haus wurden ein wenig matter. Wetzon sah Smith und Joel Kidde, die weiter vorn ihre Plätze einnahmen. Audrey Cassidy und Gideon Winkler saßen neben ihnen. Gideons goldenes Haar fiel locker auf seine Schultern. Er trug sein Cape und hätte mit einem Vampir verwechselt werden können.

Wetzon saß auf dem zweiten Platz vom Gang, und während die Lichter im Zuschauerraum noch dunkler wurden, erschien JoJo am Pult, ein dicker Pinguin in seinem Frack. Ein Beben lief durch das Publikum, dann brandete Applaus auf. JoJo hob die Arme, deutete auf den Beckenschläger. Wetzons Herz pochte. Dies war der Augenblick der Geburt. Die Becken klirrten, und die Ouvertüre — ein seltenes Ereignis im modernen Musical — begann, melodisch und komplex, Blechbläser im Marschrhythmus, im nächsten Augenblick übergehend in eine unvergeßliche Ballade der Streicher. Das Publikum war begeistert.

Carlos glitt auf den Randplatz neben ihr und drückte ihre Hand. Seine war trocken und kalt.

Das Licht im Zuschauerraum erlosch. Der rote Samtvorhang hob sich wie eine Girlande, und dahinter zeigte sich ein grell bemalter Leinenvorhang mit einer Karnevalsszene, eine Schießbude, die vor ihren Augen in tausend Lichter zu explodieren schien und sich zum vollständigen Bild der ersten Nummer öffnete.

Durch den Lärm des hingerissenen Publikums sagte Wetzon: »Toll.«

Carlos strahlte sie an und schien sich zu freuen.

Der erste Akt rauschte vorbei, während jede Nummer begeistert beklatscht wurde und JoJo Pausen für den Applaus einlegen mußte. Carlos konnte nicht stillsitzen. Zweimal sprang er auf und verschwand im hinteren Foyer, wo die Schöpfer des Musicals nervös auf und ab gingen, wie Wetzon wußte.

Als nach dem ersten Akt der Vorhang mit einer Explosion aus Licht und einem Crescendo der Becken fiel, war Wetzon schon aufgestanden und spitzte auf dem Gang die Ohren. Denn so lange sie im Showbusineß gewesen war, hatten sich alle, die mit der Show zu tun hatten, Freunde und Familie, in den Pausen unter das Publikum gemischt, um die Stimmung der Kommentare aufzuschnappen.

»Wo ist es passiert?«

»Ich habe gehört, im Orchestergraben.«

»Nein, ich glaube, es war im Pissoir.«

»Kannst du dir vorstellen...«

»Ich habe gehört, er war spielsüchtig und daß es ein Bandenmord war.«

»Wirklich? Ist er nicht von einer Exgeliebten oder so auf Unterhalt verklagt worden?«

»Sie reden über den Mord.« Wetzon war so irritiert, daß ihr die Worte fehlten. »Was hören Sie, Aline?«

»Das gleiche wie Sie.« Aline sah sie von der Seite an. »Ich habe gehört, daß Sie Detektiv sind.«

»Oh, bitte. Ich habe jemandem einen Gefallen getan, mehr nicht. Die Show ist wunderbar.« Wie sie gehofft hatte, klappte alles so, wie die Schöpfer der Show es wollten, und der erste Akt lief, wenn er auch ein wenig zu lang war.

»Es klappt. Aber der erste Akt ist zu lang.« Aline trug ein rotes Kleid, das fast nur aus Fransen zu bestehen schien. »Die meisten sind nur gekommen, weil sie Blut lieben. Leichenfledderer. Wir hatten erst das halbe Haus verkauft, bis die Nachricht von Sams Ermordung durchsickerte.«

»Aber es läuft prima.« Wetzon wollte sich nicht von Alines negativer Einstellung beeinflussen lassen. Auf der anderen Seite des Foyers entdeckte sie einen strahlenden Twoey, der sich mit Smith und Joel unterhielt.

»Es gibt immer noch den zweiten Akt«, bemerkte Aline bedrückt.

Die Lichter wurden wieder matt, und JoJo stand am Pult.

Wetzon machte es sich auf ihrem Platz bequem, und Carlos saß neben ihr, als sich der Vorhang zum zweiten Akt hob. »Hast du Mort gesehen? Ist er zufrieden?«

»Er ist draußen auf der Gasse und kotzt, Schatz.«

»Oh, gut.«

In der Mitte der ersten Nummer zuckte ein Blitz aus blauem Licht über die Bühne, gefolgt von gelbem, rotem, dann einem kreisenden Kaleidoskop aus buntem Licht, das von einem scharfen Zischen begleitet wurde. Sämtliche Farben des Spektrums lösten sich in Sekundenbruchteilen ab. Ein Zittern, wie ein Nachbeben, pflanzte sich durch das Publikum fort. Carlos stöhnte und stand auf. Das Orchester klang quietschend aus, wurde von Jojo ermahnt weiterzuspielen und setzte wieder voll ein.

Beunruhigte Rufe kamen aus verschiedenen Ecken des Theaters. Die Darsteller waren in dem heftig wirbelnden bunten Licht kaum zu erkennen. Eilige Schritte hallten dumpf vom Seitengang her. Kay. Morts Stimme. Gedämpfte Schreie.

Carlos lief zum Orchestergraben vor und flitzte vor der ersten Reihe zum Bühnendurchgang hinüber, hinter Kay her.

Ohne Vorwarnung erloschen alle Lichter, als ob jemand einen riesigen Stecker herausgezogen und das ganze Theater in Dunkelheit gestoßen hätte. Dem Publikum stockte der Atem. Das Orchester stotterte, schwieg, begann erneut. Hatte jemand geschrien?

Ein Licht. Eine nackte weiße Birne erhellte plötzlich die Bühne.

»Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Mort stand unter dem Arbeitslicht. Der Strahl vergrößerte ihn grotesk, erlaubte sich unheimliche Spiele mit seinem Gesicht.

»Wer ist das?«

»Mort Hornberg. Erkennst du ihn nicht? Sein Foto war heute morgen in der Zeitung...«

»Er ist älter, als ich dachte...«

Mort sagte: »Wir haben ein Problem mit einem unserer Computer, die die Beleuchtung steuern, aber wenn Sie Nachsicht üben wollen, setzen wir die Show mit dem Arbeitslicht fort und hoffen, daß Sie den Rest Ihrer Phantasie überlassen. Wer lieber zu einer der folgenden Aufführungen kommen möchte, möge im Gehen an der Kasse Bescheid sagen. Aber ich möchte Sie bitten dazubleiben. Es wird ein paar Hindernisse geben, aber ich verspreche Ihnen eine tolle Aufführung.«

Mort erhielt großen Beifall. Kein einziger ging. Es war, dachte Wetzon, als blieben sie hier, um Blut zu sehen.

Trotz Morts Versprechen war der zweite Akt durchwachsen. Das Ensemble war nervös, und es war beinahe eine Erleichterung, als der Vorhang fiel und das Publikum stehend applaudierte. Die Leute hatten schon begonnen, schnell im Halbdunkel hinauszugehen.

Auf der Bühne sah man nur betretene Gesichter. Die Darsteller, noch im Kostüm, wuselten zerstreut durcheinander, drängten sich um das Beleuchtungspult.

Mort brüllte: »Du gottverdammter Idiot! Nichts kannst du richtig machen! Du hättest es abbekommen sollen, nicht Dilla.«

Phils Gesicht sah zerknittert und krank aus. »Fick dich selber, Mort.«

»Was hast du gesagt? Was war das?«

»Ich habe gesagt, fick dich selber. Du hättest es abbekommen sollen, nicht Sam.«

»Raus aus meinem Theater!« Mort sprang auf und ab. »Raus aus meinem Theater! Ich sorge dafür, daß du nie wieder Arbeit bekommst.«

Wetzons Blick wurde von Phil und Mort weggezogen zu den leeren Reihen des Theaters gegenüber der Bühne. Jemand stand in der Dunkelheit, schaute zu.

»Hast du sie gesehen?« Eine Frauenstimme in der Nähe.

»Die arme Kay.«

»Kay?« fragte Wetzon. »Was ist Kay passiert?« Sie richtete die Frage an Jojo, der aus dem Orchestergraben gekommen war.

»Weiß nicht. Joclyn, ist etwas mit Kay passiert?«

Joclyns Gesicht war fleckig vom verschmierten Make-up. »Sie kam heraufgerannt, um noch etwas zu retten, stieß gegen Phils Hocker neben der Treppe und fiel kopfüber hin. Der Knöchel ist gebrochen.«

Wetzon strengte die Augen an und konnte hinten auf der Bühne gerade noch Nomi erkennen, die vor einer Krankentrage kniete.

»Hei, ho, hei, ho, gehen wir zur Totenmesse«, sang Gideon grinsend.

»So?« fragte Mort. »Was meinst du?« Er stemmte die Hände auf die Hüften und blickte streitlustig.

»Natürlich ist es zu retten. Du brauchst eine neue Partitur. Mit dieser geht es jedenfalls nicht.«

Smith nickte begeistert. Wetzon entfernte sich. Was zum Henker wußte Smith davon? In den Seitenkulissen stand Smitty, aschfahl, und beobachtete Mort. Wie sein Schatten.

Jemand stand oben auf der Leiter und probierte die Lampen aus, während Walt am Computer spielte. Wetzon schlenderte hinüber, und als sie hinsah, flackerte der Computer und war wieder im Programm.

»Ich hab’s!« rief Walt, während sich eine kleine Gruppe um ihn und den Computer versammelte.

»O Scheiße«, sagte jemand.

»Da.«

Auf dem Bildschirm zeigte sich über dem Beleuchtungsplan ein weißes Band, auf das die Worte getippt waren:

 

MÖRDERISCHES MUSICAL