»Ich weiß, es war der verschrobene Sinn für Humor von irgendwem... aber...« Mit der Fingerspitze zeichnete Wetzon ein W auf das gefrostete Glas. Sie sah zu, wie ihre Initiale feucht wurde und auf das leinene Tischtuch tropfte.
Carlos trank seinen zweiten Martini, als ihr gegrillter Thunfisch aufgetragen wurde. Auf der Tremont Street vor Hamersley‘s Bistro verkehrten immer noch Autos, obgleich sie nach dem Schneesturm nur langsam vorankamen. In seiner offenen Küche stellte Gordon Hamerley, die allgegenwärtige Red-Sox-Mütze auf dem Kopf, sein letztes Hauptgericht zusammen.
Gideon hatte eine Stunde lang auf der Bühne gestanden und die Show zerpflückt, während Mort und Carlos vor Wut kochten. »Wir müssen unbedingt Glenn Close bekommen. Diesen Stoff kann man nicht ohne einen Star machen. Ich weiß, Glenn würde es furchtbar gern machen.«
»Woher, verdammt noch mal, weißt du das?« fragte Mort.
»Na ja...« Gideon versuchte, ein bescheidenes Gesicht zu machen, was ihm jedoch nicht gelang. »Ich habe es auf mich genommen, sie während der Pause anzurufen. Und wir holen uns Guare, damit ein bißchen Pfiff hineinkommt. So hat es einen Bleiarsch.«
»Nur über meine Leiche.« Alines Gesicht war kreidebleich. Zweifellos wären John Guares Tage gezählt, wenn er nach Boston käme, um an dem Buch zu arbeiten.
Gideon lächelte. »Schatz, das läßt sich alles arrangieren.«
»Weckt mich, wenn es vorbei ist«, verkündete Carlos und entführte Wetzon auf schnellstem Weg zu Hamerley’s, wo er Gordon anflehte, ihnen trotz der späten Stunde noch etwas zu essen zu machen.
Nun, eine Stunde später, betrachtete Wetzon Carlos über den Tisch. »Du wirst langsam betrunken.«
»Darauf kannst du wetten.« Er bestellte seinen dritten doppelten Martini.
»Schlimm mit der Show«, sagte der Kellner.
»Gute Nachrichten verbreiten sich wirklich schnell.« Carlos verströmte eisigen Charme, doch der Kellner begriff nicht.
»Die Dame, die dort drüben sitzt. Sie hat mir gesagt, daß der erste Akt toll war, aber zu lang. Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie die Nummer über Revolver zusammenstreichen sollen.«
Carlos grüßte die weißhaarige Dame, die ihn anstrahlte.
»Du lieber Gott.« Wetzon hob den Blick zur Decke.
»Ich wollte, ich könnte morgen mitkommen.« Dann leise: »Häschen, Schatz, bleib in New York. Komm nicht zurück.«
»Warum?«
»Ich halte es nicht für sicher. Diese doofe Susan kann vielleicht wunderbare Verse schreiben, aber mit diesen anonymen Briefen hat sie dir keinen Gefallen getan. Ja, ja, ich habe alles darüber gehört. Versteht sich von selbst, daß alle davon reden. Ich glaube, wer auch immer Dillas Mörder ist, hat auch Sam getötet.«
»Warum bringt es mich nicht auf die Palme, wenn du mich nach Hause schickst, aber wenn Silvestri es sagt...«
»Wenn ich dich richtig verstehe, hat dich der Bulle nach Hause befohlen.« Er lachte.
»Ich kann Betrunkene nicht ausstehen.«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Arthur kommt morgen hoch.«
»Und wenn ich Susan nicht überreden kann mitzukommen?«
»O Herzblatt, keine Angst. Wir kriegen das schon hin. Du hast den ersten Akt gesehen. Es ist alles drin, egal, was Gideon sagt. Und wenn sich herausstellt, daß er die Show umkrempeln wird, bin ich im nächsten Augenblick in New York.«
Der Taxifahrer, der sie zum Ritz brachte, erkannte Carlos und sagte ihm, die Texte seien schwer zu verstehen. »Bringen Sie die Schauspieler dazu, deutlich zu sprechen«, drängte er Carlos.
Jeder hält sich für einen Kritiker, dachte Wetzon, als sie den Fahrer bezahlte und Carlos aus dem Auto schubste, weil er umgekippt war. »Die Nerven«, erklärte sie dem Fahrer.
Als sie die Tür zuschlug, sah sie, daß Carlos starke Schlagseite hatte.
»Ach, Mr. Prince«, sagte der Portier, während er ihnen ins Hotel folgte. »Entschuldigen Sie, wenn ich das sage... ich dachte, Sie möchten es vielleicht wissen...«
Carlos sah ihn an, als hätte er zwei Köpfe — wahrscheinlich hatte er die sogar für Carlos’ trunkenen Blick. »Heraus mit der Sprache, guter Mann.«
Der Portier tippte an seinen glänzenden schwarzen Hut. »Mein Cousin Sean hat Ihre Show heute abend gesehen.«
»Oh, prima. Und welchen Rat hat Cousin Sean für mich?«
Wetzon stieß Carlos mit dem Ellenbogen an.
»Er meint, Sie könnten es besser machen, wenn Sie die Nummer, mit der Sie den ersten Akt schließen, an den Anfang des zweiten stellen.«
»Erlöse mich«, stöhnte Carlos und ging weiter. »Es geht los, Häschen. Jeder Gepäckträger, Taxifahrer, Kellner und ihre Cousins werden ihren Senf zur Show dazugeben.«
»Vielen Dank und gute Nacht«, sagte Wetzon zum Portier und mußte laufen, um mit Carlos Schritt zu halten.
Er legte einen Arm auf ihre Schulter und stützte sich auf sie, wobei er sie mit Gindünsten einnebelte. »Bring mich bitte weit weg.«
Sie hatten den Aufzug für sich allein, was gut war in Anbetracht von Carlos’ Zustand. »Wenn ich nur könnte. Komisch, daß ich es nie vorher bemerkt habe. Ihr bringt euch gegenseitig Stück für Stück um. Jeder Tag ein kleiner Tod.«
»O Liebes, du bist so gescheit. Du und Sondheim.«
Sie traten aus dem Aufzug. Wetzon folgte Carlos, der Sprünge über den Flur machte. Jeden Augenblick konnte er auf die Nase fallen. Die Tür zu Wetzons Zimmer stand offen; Smith’ Make-up-Köfferchen und Reisetaschen standen im Gang.
»Ich habe doch eine gute Fee«, murmelte Wetzon.
»Natürlich hast du die, Herzblatt, und ihr Name ist Carlos Prince.«
»Das reicht. Geh in dein Zimmer.«
»Komm mit und deck mich zu, Häschen. Da ist noch eine Kleinigkeit, über die ich mit dir sprechen muß.«
Wetzon blieb vor ihrer offenen Tür stehen. Dick Hartmann half einer strahlenden Smith in den Mantel.
»Oh, das ist unsere kleine Miss Wetzon«, sagte Hartmann. Der Rechtsanwalt schielte auf einem Auge, so daß man immer meinte, er spräche mit jemandem neben oder hinter einem.
»Schatz! Ich bin so froh, daß wir uns treffen. Ich wollte dir gerade eine Nachricht hinterlassen.«
»Wie schade, du ziehst aus, Smith?«
»Dickie hat eine Suite im Four Seasons.«
»Wie reizend, Dickie. Smith, ich fliege morgen zurück. Artie Agrons Chef hat was spitzgekriegt. B. B. und ich wollen ihm helfen, rauszukommen und seine Bücher zu kopieren.«
»Selbstverständlich, das Geschäft geht vor. Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht.«
»Ich werde es überleben.«
Smith schürzte die Lippen. »Mein Baby ist auf dem Heimweg.«
»Nach New York?«
»Ja. Mort hat darauf bestanden und mit Recht, glaube ich. Meinst du nicht, Liebling?« Sie sah Hartmann an, der kaum merklich nickte. »Mark hat ihm nicht die Wahrheit über sein Alter gesagt, und Mort war sehr betroffen. Joel hat Mark in seinem Wagen nach Logan zum letzten Flugzeug gebracht.« Sie seufzte und plusterte ihr Haar auf, während sie an Wetzon vorbei auf den Flur trat. »Joel ist furchtbar nett.«
»Stimmt. Und er ist total in dich verschossen.«
Hartmann warf einen gehässigen Blick auf Wetzon, der über ihre Schulter flog. »Sie hätten ihn sehen sollen, Dickie. Er konnte gar nicht genug für Smith tun. Nacht zusammen.« Sie schloß lächelnd die Tür, dann überblickte sie das Zimmer. Es sah aus, als hätte ein Wirbelsturm darin gewütet. »Aber, Zuckerstück«, sagte Wetzon laut, »es gehört ganz dir.«
Sie hängte ihren Mantel auf einen Bügel. Dann sammelte sie alle Handtücher und stapelte sie auf Smith’ Bett. Den weißen Frotteemantel legte sie über ihr Bett. Sie verspürte den überwältigenden Drang, sich dazuzulegen.
»Doch nicht in Versuchung, etwas Törichtes zu tun?«
Sie hatte den Schlüssel im Schloß nicht gehört, und als sie sich herumwarf, stand Hartmann an der Tür. Er formte mit Finger und Daumen eine Pistole und zielte auf sie. Sein wanderndes Auge war beunruhigend.
Sie sah ihn mit ihrem treuherzigsten Blick an. »Sie haben sicher von Briefen mit der Aufschrift >Im Falle meines Todes zu öffnen< gehört, Liebling? Wir haben einen.«
Sein hageres Gesicht erstarrte. »Das ist eine Nummer zu groß für Sie«, sagte er. Die Tür schloß sich hinter ihm.
»Bald«, murmelte sie. »Bald.« Sie wartete, bis sie sicher war, daß Smith und Hartmann weg waren, dann trat sie auf den Flur hinaus. Sie überzeugte sich davon, daß die Tür verschlossen war, steckte den Schlüssel in die Tasche, ging zu Carlos’ Zimmer und klopfte an die Tür.
Carlos ließ sie ein und flüsterte: »Ich habe Mort dran.« Er schien sich zu freuen, legte aber einen Finger auf den Mund.
Gähnend setzte sich Wetzon auf die Bettkante.
»Sicher, Mort... Nein, du hast recht... Ich weiß. Mhm. Straffe den zweiten Akt. Ach? Gut. Ja, bis morgen.« Er legte auf und machte einen Jeté. »Hurra!«
»Was? Was?«
»Mort hat Gideon aus dem Theater hinausgeworfen und Joel gefeuert. Ich werde Joel selbst kündigen. Dieses eine Mal hat der Barrakuda hundertprozentig recht.« Er grinste sie an, zog sie hoch und tanzte Walzer mit ihr durch das Zimmer. »Mein liebes Häschen«, sagte er, als er innehielt. »Was für eine Freude. Was für ein Kummer. Meinst du nicht, wir kosten das Leben voll aus?«
»In Technicolor.«
»Hm, ja...« Seine Stimmung bekam einen Dämpfer.
»Smith zieht in Hartmanns Suite im Four Seasons.«
»Gut für sie, besser für dich.« Mit schrägem Kopf betrachtete er sie prüfend.
Sie kannte ihn so gut, als wären ihre Nervenenden verknüpft. Er versuchte, sie seine Gedanken lesen zu lassen, damit er ihr nicht sagen müßte, was er loswerden wollte. »Mort hat Smitty weggeschickt. Ich schätze, er hat sein Versprechen an mich eingelöst... Joels Limousine hat ihn heute nacht zum Flughafen gebracht.«
»Weg von dem Ganzen. Das ist gut.« Er setzte sich aufs Bett und warf einen Blick auf die Uhr, seufzte, sah Wetzon an.
»Bin schon weg, Lieber.« Wetzon öffnete die Tür.
»Warte, Häschen.« Er stand auf, langte um sie herum und zog die Tür zu. »Eines habe ich dir noch nicht erzählt.«
»Ach?«
»In der Nacht, in der Dilla starb... Ich habe dir gesagt, daß Smitty zu mir kam und Hilfe suchte...«
»Ja?«
»Er hat gesagt, er hätte versucht, einen Kampf zwischen zwei Pennern zu schlichten, und der eine hätte den anderen mit einer abgebrochenen Flasche geschnitten.«
»Um Gottes willen, Carlos.« Sie lehnte sich gegen die Tür. »Er sah ziemlich schlimm aus. Seine Kleider waren zerrissen, und er war voller Blut.«