Fran Burke würde niemals wegen seines Vornamens fälschlich für eine Frau gehalten werden. Er war auf Francis Xavier getauft worden, doch jeder nannte ihn Fran, zumindest seit er beim Theater war. Er war ein Roadmanager, der darauf spezialisiert war, Gastspielreisen und Probevorstellungen zu organisieren. Obwohl von Arthritis geplagt und auf einen Stock angewiesen, war Fran mit siebzig noch immer auf Draht. Es hieß, daß Fran den Schwarzmarkt mit Theaterkarten in der Hand hatte.
Nicht zum erstenmal wunderte sich Wetzon darüber, daß man ihre zwei Berufe als »The Street« bezeichnete — einmal war es der Broadway, das andere Mal die Wall Street. Und die Ähnlichkeiten hörten hier nicht auf. In beiden gab es Produzenten und Manager — Stars mit ungeheuren Egos. Der robuste, verläßliche, gewerkschaftlich organisierte Schauspieler/Tänzer konnte sein Ebenbild in dem ehrlichen, verantwortungsbewußten Makler der Wall Street finden. Und Wetzon wußte, daß es am Broadway beinahe ebenso viele Möglichkeiten des Betrugs gab wie in der anderen »Street«. Gewinnabschöpfung, Schmiergelder und gefälschte Zahlen fielen alle in dieselbe Rubrik.
In ihrer Verwirrung über Susan Orkins Namen auf der Tantiemenlisle der Hotshot-Truppe hatte sie den Mann mit dem Stock nicht wahrgenommen, bis sie mit ihm zusammenstieß, »Oh, Entschuldigung, tut mir leid«, stotterte sie, dann erst merkte sie, daß es Fran Burke war, und er begrüßte sie mit einem großen, breiten Lächeln, das schwindendes Zahnfleisch und nikotinverfärbte Zähne entblößte.
»Leslie Wetzon! Wo hast du gesteckt, Mädchen? Ein paar Kinderchen aufgezogen?« Er drückte ihre Hand und faßte sie zärtlich unters Kinn. Fran trug einen zerknitterten blauen Anzug unter seinem schwarzen Regenmantel, und kein Hut bedeckte sein dickes gelblichweißes Haar, das er straff zurückgekämmt hatte. Einmal vor langer Zeit, als Company in Chicago gelaufen war, hatte er Wetzon nicht die Gage gekürzt, obwohl sie eine Vorstellung wegen eines verstauchten Knöchels versäumte. »Du gehörst zur Familie«, hatte er gesagt, als sie sich bedankte.
»Nee«, sagte sie jetzt. »Ich bin immer noch solo, Fran, verdiene bloß eine Menge Geld mit meiner Firma.«
»Komm, begleite mich zur Shubert Alley.« Erwartete nicht ab, bis sie es sich überlegt hatte, sondern nahm sie fest am Ellenbogen. »Stimmt, dein Kumpel Carlos hat so was gesagt.« Wetzon wußte, daß Fran zu der Generation gehörte, die Karrierefrauen nicht mochte. Oh, es war schon in Ordnung, wenn ein junges Mädchen theaterbesessen war, aber sobald die Begeisterung nachließ, sollten Frauen heiraten und Kinder haben. Fran hatte zwei Frauen überlebt, an die Wetzon sich erinnerte. Seine dritte befand sich in einem Pflegeheim in Spring Lake, und er lebte jetzt mit einer Frau zusammen, die in den sechziger Jahren Sekretärin eines Produzententeams am Broadway gewesen war. Nun musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Du siehst keinen Tag älter aus, Leslie.« Trotz seines Zustandes führte er sie in einem ziemlich strammen Tempo.
»Fran, du bist ein prima Kerl. Wie immer. Es war herrlich, wenn du uns begleitet hast. Auf einer Tournee mit dir als Manager fühlte man sich wie ein Rädchen an einer gut geölten Maschine. Nie gab es Pannen.«
Seine fleischige, von Leberflecken übersäte Hand umklammerte den Griff des Spazierstocks. Durch seine dicken Finger sah sie einen geschnitzten hölzernen Schädel. »Du bist ein braves Mädchen.«
Sie stellte fest, daß es ihr nichts ausmachte, von Fran ein braves Mädchen genannt zu werden, denn das traf ja zu. Als sie vom Broadway in die 45. Street einbogen, bestätigte eine Neonreklame nach der anderen die Tatsache, daß der Broadway mit der aktiven und von viel Reklame begleiteten Beteiligung der Engländer und erfolgreichen Musicals wie Cats, Phantom, Miss Saigon und Les Mis durchhielt.
»Hallo, Fran!« Fran wurde von zwei kräftigen Bühnenarbeitern gegrüßt. Beide kamen Wetzon bekannt vor.
In der Shubert Alley wurde ein Bus beladen. Abgenutzte Gepäckstücke jeder Art, von schmuddeligen Matchsäcken bis Louis Vuitton, wurden an der offenen Seite des Busses übereinandergestapelt, und der Fahrer, der eine blaue Kappe und eine ärmellose Daunenjacke über einem Marinepullover trug, stritt sich mit einem Tänzer, der einen champagnerfarbenen Pudel an einer Leine führte. Der Pudel kläffte unaufhörlich. Er bekam Antwort von einem besonders reizbaren Yorkie im Bus, der seine winzige Schnauze durch einen Fensterspalt streckte.
Fran Burke nahm die Sache sofort in die Hand. Im Handumdrehen war alles geklärt und geregelt. Frieden und Ordnung waren wiederhergestellt.
Wetzon schaute zu, wie Darsteller und anderes Theaterpersonal in den Bus stiegen, ausstiegen, dann wieder hinein, manche mit zugedeckten Pappbehältern voller Kaffee oder Tee. ^lit jedem Atemzug sog sie einen Hauch von Nostalgie in die Lunge. Die Hotshot-Truppe packte für Boston, und Fran brachte sie hin. Doch Leslie Wetzon, Tänzerin, war nicht dabei.
»Fran, hör dir das an, Avery will zwei Sitzplätze für sich...« Wetzon erkannte eine der Schauspielerinnen, die am Samstag mit Carlos im Theater gewesen war. Sie blieb stehen und starrte Wetzon an, und Wetzon dachte: Glaubt sie, ich springe für jemanden ein? Sie erinnerte sich auch an diese Gefühle. Sie gehörten nicht zu dem Teil des Showbusineß, den sie vermißte.
»Laß ihn.« Fran zwinkerte Wetzon zu. Die Schauspielerin zuckte die Achseln und stieg wieder in den Bus.
Eine Limousine bog in die Shubert Alley. Sie fuhr vorsichtig am Bus vorbei, um vor der Tür zu den Büroräumen der Shubert Organization zu halten. Drei Männer stiegen aus, von denen Wetzon einen als Cameron Macintosh erkannte, den englischen Produzenten. Sie wurden gleich darauf von Ber-nie Jacobs, dem Präsidenten der Shubert Organization, begrüßt und gingen in Richtung Shubert Theatre, wo immer noch Crazy for You gesungen und getanzt wurde.
»Entsetzlich, das mit Dilla«, sagte Wetzon. Sie fröstelte. Fran nahm ihren Arm und führte sie in die Vorhalle des Booth, das bequemerweise an der Ecke Shubert Alley und 45. Street lag.
Fran brummte. Er schob seine Zigarette mit zusammengepreßten Lippen in den anderen Mundwinkel. Weder Trauer noch Freude zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. »Es ist ein Wunder, daß es nicht früher passiert ist.«
Wetzon horchte auf. Bewußt beiläufig fragte sie: »Warum sagst du das?«
Frans wäßrig blaue Augen nahmen einen abweisenden Ausdruck an. »Sie spielte ständig einen gegen den anderen aus.« Er machte eine wegwerfende Bewegung, während er wachsam das Treiben um den Bus beobachtete. »Verdammt, was soll’s. Dilla hat immer bekommen, was sie wollte...bis Samstag-Glaub mir, ich habe Lenny gewarnt, ihr nicht zu trauen...«
»Lenny?« Wer zum Teufel war Lenny?
»Vergiß es. Es ist lange her. Wir nehmen Phil mit, und er ist ein anständiger Junge. Das geht in Ordnung.«
Gut, wenigstens wußte sie, daß er von Phil Terrace sprach. »Ja, er scheint ein netter Kerl zu sein. Meinst du, er kommt mit der Show klar?«
Fran lächelte grimmig. »Wir werden ihm alle helfen, darauf kannst du dich verlassen.« Er klopfte ihr auf den Rücken und öffnete die Tür der Halle. »Ich muß die Show auf den Weg bringen.«
»Ich bin zur Premiere oben, Fran.«
»Prima.« Seine Aufmerksamkeit war bei der Aufgabe des Augenblicks, nämlich seine Truppe in Bewegung zu setzen. Er hielt die Tür auf, um einen schneidenden Windstoß und eine Frau mit Nerzmantel und riesigen goldenen Ohrringen hereinzulassen. Sie bedankte sich und ging zur Kasse weiter, um Karten für Someone Who’ll Watch Over Me zu kaufen.
Das Thermometer fiel rapide. Die Hände in den Taschen vergraben, folgte Wetzon Fran hinaus in die Shubert Alley und sah ihm nach, wie er in seinem schaukelnden Gang zum Bus ging. Er griff in seine Manteltasche und zog einen Notizblock heraus. Die Blätter flatterten im Wind. »Fehlt jemand?« Seine Stimme trug kaum bis zu Wetzon zurück.
Der Fahrer schlug das Gepäckfach mit einem Knall zu und stieg in den Bus. Der Motor sprang an, dann füllte sich die Gasse mit Auspuffqualm. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Fran stieg mit einiger Mühe die Bustreppe hinauf, blieb stehen, schaute heraus und winkte Wetzon zu. Die Tür schloß sich. Der Bus kroch aus der Shubert Alley auf die 45. Street in Richtung Broadway.
Wetzon sah ihm gedankenverloren nach, bis er verschwunden war.
Um schnell aus der Kälte zu kommen, eilte sie zur 47. Street und zum Edison Hotel, das genau in der Mitte zwischen Broadway und Eighth lag. Der Coffee-Shop war sehr beliebt geworden, besonders bei den Produzenten, Theaterbesitzern, Regisseuren und Choreographen, seit das alte Gaiety Deli, lange ein Broadwayliebling in der West 47. Street, in den späten Siebzigern geschlossen, wiedereröffnet, geschlossen, wiedereröffnet und wieder geschlossen hatte. Für die Stammgäste wurde es schließlich zu schwierig, mit der Ungewißheit seiner Existenz zurechtzukommen.
An der Ecke der 47. Street durchwühlte ein Stadtstreicher einen Abfalleimer, machte Essensbehälter aus Plastik auf und warf den Müll auf die Straße. Leute eilten vorbei, wichen sei-nen Geschossen aus, beachteten ihn nicht, wenn ein Karton seinen Inhalt über ihre Schuhe oder Stiefel ergoß, weil sie Angst hatten, sich womöglich der Gewalt eines gestörten Menschen stellen zu müssen. Wetzon fing sich. Was war los mit ihr? Vielleicht hatte Silvestri recht. Vielleicht sollte sie mit jemandem reden. Vielleicht sollte sie einfach zum Telefon greifen und Sonya Mosholu anrufen. Sonyas Spezialität war Bioenergetik gewesen, aber sie war auch Psychotherapeutin, bearbeitete Körper und Geist. Ja, sie würde Sonya anrufen, sobald sie heute abend zu Hause war.
Sie schritt schneller aus. Sie wollte Carlos sehen, bevor er die Stadt verließ.
Auf der Markise über dem Eingang zum Polish Tea Room stand Café, was Wetzon immer zum Lachen brachte, aber schließlich griff jeder am Broadway nach den Sternen, Hotels und Restaurants eingeschlossen.
Die Fenster zur Straße waren beschlagen. Sehen konnte man nur ein cremefarbenes Schild mit dem Hinweis auf das Angebot des Tages:
KOHLSUPPE
RINDERGULASCH MIT NUDELN
$ 9.95
Ein günstiges Angebot, durchaus. Wetzon stieß die Tür auf und sah sich um. Rechts trennte ein Seil einen für die Theaterhonoratioren reservierten Bereich ab. Die Shuberts, Produzent Manny Azenberg und andere, die zu der privaten Theatergemeinde gehörten, aßen hier mittags oft polnische Spezialitäten, die nicht auf der Speisekarte auftauchten.
Eine Theke und ein Raucherbereich befanden sich hinten im Restaurant. Direkt links von Wetzon gab es etwa ein Dutzend Tische. Nur ganz wenige waren besetzt. Carlos saß am letzten Tisch, vor dem beschlagenen Fenster. Er wirkte eindeutig unglücklich, und er war nicht allein.
Silvestri saß bei ihm.