Das Ritz-Carlton in Boston war Wetzons bisher unübertroffenes Lieblingshotel. Als Tänzerin hatte sie es sich nie leisten können, hier abzusteigen, und sie und Carlos hatten in Bruchbuden wie dem Avery und dem Bradford kampiert, die an Schauspieler und Musiker auf Tournee und manchmal auch an Nutten Zimmer vermieteten. Einmal vor vielen Jahren — vor Poppy — hatte Mort, der immer im Ritz wohnte, Wetzon mit nach oben genommen, um ihr seine Suite vorzuführen. Wetzon war sie prachtvoll erschienen, Fin de siècle, mit Rokokomöbeln und hohen Decken. Mort hatte sie gebeten, ihm einen Martini zu mixen, während er sich umzog, und sie hatte nicht gewußt, wie. Er hatte sie ausgelacht, ihr einen Klaps auf den Po gegeben und es ihr gezeigt. In seiner Anfangszeit als Regisseur hatte Mort versucht, sich mit jedem gut zu stellen. Zu bald nach seinem Erfolg interessierte es ihn nicht mehr.
Wetzon wurde in ein Zimmer im siebten Stock geleitet, das auf den Public Garden blickte, wie der Page sagte, doch waren die Vorhänge wegen der Kälte zugezogen, so daß nichts zu sehen war. Sie gab ihm einen Dollar für ihre kleine Tasche, die sie selbst hätte tragen können, schloß die Tür hinter ihm und lehnte sich kurz dagegen.
Dann ließ sie den Mantel und die Lucas-Tasche auf das Bett nächst der Tür fallen. Auf dem zweiten Bett konnte man bequem seine Sachen ausbreiten. Auf dem Nachttisch stand neben dem Telefon eine Schale mit Pralinen in Goldpapier. Sie schlüpfte aus den Schuhen, ließ sich auf das andere Bett plumpsen und zog die Beine zum Yogasitz hoch. Auf ihrer Uhr war es Viertel vor sieben. Sie war am Verhungern.
Morgen abend würde die erste — und einzige — Voraufführung von Hotshot stattfinden, weshalb Wetzon ziemlich sicher war, daß heute alle bis tief in die Nacht zur letzten Technik- und Kostümprobe im Theater sein würden. Nach ihrer Erfahrung brachte niemand die Technikprobe jemals vor der ersten Voraufführung durch, aber durch irgendein Theaterwunder klappte dann alles von allein.
Sie könnte zum Theater hinüberlaufen und sehen, wann sie eine Pause zum Essen machen würden. Anderenfalls wäre sie zum Essen allein. Wetzon hatte angenommen, Smith würde mit ihrem Sohn Mark speisen, doch Smith war ungewöhnlich verschwiegen über ihre Essenspläne gewesen, was Wetzon recht war. Dies war Wetzons Welt: wesentliche Stücke ihrer Vergangenheit, ihrer Seele, ihrer Jugend, ihrer engsten Freundschaften, Freuden und Schmerzen waren darin verwoben wie in einer alten grobgewebten Tagesdecke.
Genug, dachte sie, und stand auf. Sie packte die Tasche aus, verstaute sie auf dem Schrankboden und hängte das neue kleine Schwarze neben einen dicken weißen Frotteebademantel — eine Gefälligkeit des Ritz, selbstverständlich — , dann baute sie ihre Toilettensachen im Bad auf dem Bord über dem Waschbecken auf.
Mußte sie ihr Make-up auffrischen? Das Gesicht, das aus dem Spiegel schaute, war ihr nach einem Jahr immer noch fremd. Irgendwie erwartete sie immer, die alte Leslie Wetzon zu sehen, die ihr aschblondes Haar zu dem glatten Ballerinaknoten hochgesteckt trug. Als Folge der Schießerei hatte sie zunächst einen Bürstenschnitt gehabt, und es wuchs so quälend langsam nach, daß ihr Haar auch jetzt noch kaum zum Kinn reichte und wegen ihres langen Halses bis zur Schulter noch ein gutes Stück zu wachsen hatte. Ganz zu schweigen von den verräterischen weißen Härchen, die an der Schläfe um die winzige Narbe erschienen waren.
Sie tupfte die Nase und Stirn mit Tonic auf einem Wattebausch ab. Genaugenommen machte diese Frisur sie jünger und ließ sie weniger streng aussehen als mit dem Knoten. Doch sie vermißte die Sicherheit, und sei sie bloß eingebildet, die sie empfunden hatte. Wenn ihr Haar wieder zum Knoten nachgewachsen war, würde vielleicht der Alptraum verschwinden.
Nach reiflicher Überlegung verdrehte sie die grauen Augen zu ihrem Spiegelbild. So lange konnte sie auf keinen Fall warten. Ein bißchen Puder auf die glänzenden Stellen, mit den Fingern durchs Haar gefahren, geplante Unordnung, eine Spur Lippenstift, und voilà: Leslie Wetzon, die erfolgreiche Geschäftsfrau.
Sie teilte die Vorhänge und blickte hinunter auf den verschneiten Public Garden. Die Straßenlaternen verbreiteten einen blanken Glanz. Ihre Gedanken sprangen von Alton zu Silvestri und blieben dann an Carlos hängen. Er würde sich über Gideon Winkler furchtbar aufregen.
Mort war dafür bekannt, daß er jeden, wie sich selbst, an den Rand der Hysterie trieb. Was Magengeschwüre, Ausschläge, Durchfall, Migräne und Tränen bei allen in seiner Umgebung verursachte. Er gehörte zu der großen Masse von Theaterleuten, die tatsächlich glaubten, Kreativität entstünde aus Geschrei und Chaos.
Du lieber Himmel, gib’s zu, Wetzon. Keine einzige Minute davon vermißt du.
Sie zog die Stiefel und den Mantel an, nahm Handschuhe und Baskenmütze, hängte die Handtasche über die Schulter und ging aus dem Zimmer. Sie ließ alle Lampen brennen, um später ein warmes Nest vorzufinden. In diesen Tagen waren ihr Lampen viel wert.
In der Halle stellte sie sich an der Rezeption an, um eine Nachricht zu hinterlassen, falls Carlos anriefe. Zwei Frauen standen vor ihr und baten den Empfangschef, ihnen ein Restaurant zu empfehlen. Als Wetzon an der Reihe war, gab sie dem Mann ihre Zimmernummer und bat ihn, Carlos Prince im Falle eines Anrufs auszurichten, sie sei auf dem Weg zum Theater.
»Ms. Wetzon«, sagte der Empfangschef mit diskret gesenkter Stimme. »Jemand hat nach Ihnen gefragt. Er wartet in der Bar.«
»Prima. Dann vergessen Sie die Nachricht an Mr. Prince.«
»Es ist nicht Mr. Prince«, sagte der Empfangschef. »Es ist...« Ein unterdrückter Schrei hinter ihr; der Blick des Empfangschefs löste sich von Wetzon und konzentrierte sich auf etwas über ihrer Schulter.
Wetzon wandte sich um. Eine ältere Frau lag auf dem Teppich vor einer der Aufzugskabinen, ihre Gehhilfe umgekippt neben ihr.
»Du meine Güte, Mrs. Kennedy.« Das ganze Personal an der Rezeption war plötzlich abgelenkt.
Ein Mann in Chauffeursuniform und eine große Frau mittleren Alters halfen Mrs. Kennedy auf die Beine. Mrs. Kennedy rückte ihre schwarze Glocke zurecht, die bedenklich über ein Ohr gerutscht war. Sie lächelte und schien unverletzt.
Wetzon schlenderte in die Bar. Was für eine hervorragende Art, die Aufmerksamkeit abzulenken. Das würde sie sich merken.
Es herrschte ein schummriges Licht in der Bar, dunkler als sonstwo im Hotel, obwohl das flackernde Feuer im Kamin zur Beleuchtung beitrug. Mehrere Tischchen waren besetzt. Der Barkeeper schenkte Manhattans in zwei Gläser ein. Manhattans? Wer trank heutzutage noch Manhattans?
Sie sah sich rasch um, ohne jemanden zu erkennen. Vielleicht hatte sich der Empfangschef verhört. Ihr Magen knurrte leise; sie mußte bald etwas zu essen bekommen.
Am Eingang zur Bar auf einem polierten Nußbaumtisch stand eine riesige Schale mit Schnittblumen, so bunt und frühlingshaft, daß Wetzon stehenblieb und eine rosarote Tulpe berührte. Sie war tatsächlich echt.
Jemand starrte sie an. Sie spürte den bohrenden Blick im Rücken. Als sie sich schnell umdrehte, sah sie eine groteske Gestalt im Halbdunkel sitzen. Er winkte sie mit seinem Spazierstock herbei.