»Ist denn das die Möglichkeit?«

Aline rümpfte die Nase und wies mit dem Daumen über die Schulter, während Fran schwerfällig den Mittelgang nach hinten ging. Sie trug heute eine andere Brille, hundertprozentig fünfziger Jahre. Falsche Rheinkiesel zierten die geschwungenen Ecken. »Führt sich auf wie Herr Saubermann. Jeder weiß, daß er Lennys Geschäft geerbt hat.«

»Wirklich?«

Aline nickte nachdrücklich. Die Rheinkiesel glitzerten. »Warum sollte der alte Arsch sonst noch hier herumhängen? Er will nichts aus der Hand geben.«

»Ich dachte immer, Fran liebt den Beruf; deshalb ist er noch dabei.«

»Oh, ich denke, wir alle lieben den Beruf; sonst würden wir« — ihr Blick huschte über Wetzon — »in der Wall Street arbeiten.«

War das abfällig gemeint? fragte sich Wetzon. Sie wollte gerade entsprechend antworten, als Aline hinzufügte: »Glaub mir, Fran legt das Geld auf die hohe Kante.«

»Als eine Art Rente?« fragte Wetzon, die ihre Spitzen für sich behielt.

»Eher um krumme Sachen zu machen.« Sie zog ihren Umhang gerade und funkelte Wetzon an, als steckte diese mit Fran unter einer Decke.

»Wie haben Sie Ihre Hand verletzt?«

»Ach, das?« Aline streckte den Arm aus und betrachtete den Gipsverband, als sähe sie ihn zum erstenmal. »Wissen Sie, alte Knochen, ein Unfall zu Hause. Ich habe mit der Hand ausgeschlagen, um meine Worte zu unterstreichen, und bin mit einer offenstehenden Tür kollidiert.«

»Aline, gibt es eine Mrs. Lenny Käufer?«

»Ja. Celia. Aber sie hat Lenny nicht lange überlebt. Sie hat nie den Mund aufgemacht, nicht einmal dann, als sie es gekonnt hätte. Wissen Sie, sie war eine von der Sorte, die immer drei Schritte hinter ihrem Mann geht.« Aline reckte ihren fleischigen Hals. »Wo ist denn der Junge geblieben? Ich bin am Verhungern.«

Auf der Bühne wurde gelacht, und das Ensemble applaudierte. Carlos verschwand tanzend in den Kulissen, dann tauchte er im Parkett wieder auf, wo Mort stand. Die einzige Tür von der Bühne in den Zuschauerraum befand sich auf der linken Seite. Wetzons Hände umklammerten die Armlehnen, doch Carlos und Mort wechselten nur ein paar Worte, dann umarmten sie sich.

»Was habe ich gesagt?« rief Sunny. Sie saß auf der anderen Seite des Mittelgangs hinter Twoey, eine Hand ganz locker auf seiner Schulter.

»Ich gebe mich geschlagen, Sunny.« Wetzon wandte sich wieder Aline zu. »Vermutlich hat Lenny Kaufer bestens für seine Familie vorgesorgt.«

Alines gewaltiger Busen bebte, als rüttelte etwas in dem fleischigen Käfig, das herauswollte. »Hm, das steht auf einem anderen Blatt... Da bist du, Goldstück.« Alines Assistent, Edward Gray, war mit einer prall gefüllten Plastiktasche erschienen. Verlockende Düfte nach allen möglichen Schnellgerichten stiegen aus der Tasche auf. Wetzons Magen knurrte. Eindeutig Zeit fürs Mittagessen. Erinnerungen an Tourneen wurden aus tiefsten Tiefen nach oben gespült, wie alles nach Essenspausen gemessen wurde. Probe, Essenspause, Probe...

»Häschen! Wollen wir essen gehen?« Ein völlig wiederhergestellter Carlos stand zapplig vor ihr, ein richtiges Energiebündel.

»Ich muß nur noch schnell im Büro anrufen, dann bin ich dabei.«

»Und ich dachte, hier habe ich dich ganz für mich.« Erfuhr sich mit dem Handballen über die Stirn. »Aline, Schatz.« Er beugte sich vor und tauschte mit Aline Wangenküsse.

»Ich muß mich wirklich um mein Geschäft kümmern.« Wetzon stand auf. Das Theater wirkte wie Treibsand, sog sie zurück, ließ sie beinahe vergessen, daß sie Teil des dynamischen Headhunterteams Smith und Wetzon war.

Carlos machte einen tiefen Plié. »Habt ihr Sam gesehen? Ich brauche eine klitzekleine Änderung...«

Aline schüttelte den Kopf. »Du hast sicher den Globe gelesen.«

»Wie hätte mir der entgehen können? Häschen, ich treffe dich in fünfzehn Minuten im Remington’s. Komm nicht zu spät.« Und weg war er, um mit JoJo zu konferieren.

Als Wetzon sich wieder Aline zuwandte, fütterten sich Aline und Edward gegenseitig mit Pommes frites. Ein Hamburger, aus dem geschmolzener gelber Cheddar lief, lag in einer offenen Plastikschachtel, bedenklich schwankend auf der Armlehne von Alines Platz. Völlig mit Edward und dem Essen beschäftigt, hob Aline nicht einmal den Kopf, als Wetzon sagte: »Bis später.«

Überall befand sich ein Telefon in der Nähe des Bühneneingangs. Sie trat durch die Bühnentür auf die Seitenbühne. Auf der anderen Seite der Bühne sagte jemand wütend: »Ich bin es leid, den Kopf für dich hinzuhalten.« Kays Stimme, hart und unnachgiebig. »Streng dich verdammt noch mal an.«

Mit wem redete sie?

Die Bühne war in einem steilen Winkel geneigt und mit unzähligen Markierungen übersät. Wie sie es gehaßt hatte, auf so einer schiefen Fläche zu tanzen. Jede Menge Verletzungen. Sie hoffte, daß die Tänzer heutzutage Gefahrenzulagen dafür bekamen; zu ihrer Zeit hatte es das natürlich nicht gegeben. Wetzon schlüpfte an der Backsteinwand entlang hinter die Bühne. Wie oft hatte sie das als Tänzerin getan?

Inspizientenpult und Monitore befanden sich auf der linken Bühnenseite, und sie konnte gerade noch Kay und Phil erkennen. Armer Phil. Er war in Hotshot ganz klar überfordert. Kays Assistentin Nomi stand direktneben ihr. Zwei gegen einen. Ob sie... Nein, dachte sie. Halte dich heraus. Das müssen die unter sich ausmachen.

Unmittelbar hinter der Bühne waren die Stargarderoben, zwei oder drei, je nachdem, wer der Star war; eine konnte nämlich als Suite verwendet werden — für einen Star vom Kaliber einer Liza Minelli. Da keine richtigen Stars in Hotshot mitwirkten, waren die Garderoben durch das Los zugeteilt worden. Drei unten, der Rest oben.

Zwei Schauspieler kamen lachend und eifrig die Treppe herunter. Wetzon wußte, daß die Garderoben oben wie die Dienstmädchenstuben in alten Herrenhäusern waren: Kaninchenställe. Sie drängten sich mit unaufmerksamen Entschuldigungen an ihr vorbei, und sie folgte ihnen zum Bühneneingang. Irgend etwas in der Luft, die von der Gasse hereinwehte, etwas seltsam Beißendes, kitzelte sie in der Nase. Sie unterdrückte ein Niesen.

Das altertümliche Schwarze Brett war ein Dickicht aus privaten Botschaften, Telefonnummern und Werbung: die schmutzigen Speisekarten mehrerer Restaurants in der Nähe. Auf einem mit einem Kissen gepolsterten Drehstuhl aus dem Secondhandshop saß eine untersetzte Frau in grauer Cordhose und grauen Halbschuhen mit Gummisohle. Ihr steifes orangefarbenes Haar sah wie eine ungepflegte Hecke hinter dem Revolverblatt vor, das sie las. The Improper Bostonian. Wetzon hatte den Namen noch nie gehört.

Eine Schauspielerin turtelte am einzigen Telefon in der Nähe der Außentür.

»Entschuldigen Sie, gibt es noch ein Telefon hier hinter der Bühne, das ich benutzen kann?«

Die Frau mit dem orangefarbenen Haar sah von ihrem Blättchen auf. Sie hatte ein Muttermal am Kinn, aus dem zwei steife schwarze Haare wuchsen. »Im Herrensalon — gehen Sie zurück, dann rechts...«

In diesem Augenblick hängte die Schauspielerin ein und stürmte durch den Bühneneingang. Das Telefon begann zu läuten.

»Ach, verdammt«, brummte die Portiersfrau hinter ihrer Zeitung. »Diese Schauspieler.«

Das Telefon läutete unentwegt. Wetzon nahm ab. »Ja?«

»Bitte zahlen Sie weitere fünfundsiebzig Cent«, verkündete eine Digitalstimme.

»Ich habe nicht telefoniert...« Wetzon sah sich nach der Frau um. Keine Regung hinter der Zeitung.

»Bitte zahlen Sie weitere fünfundsiebzig Cent«, wiederholte die Vermittlung.

»Hören Sie«, begann Wetzon, »ich muß in New York anrufen. Die Dame, die Ihnen fünfundsiebzig Cent schuldet, hat das Haus verlassen. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Leitung frei machen könnten, damit ich telefonieren kann.« Sie hängte ein und wartete. Das Telefon blieb stumm. Ihre Nase kitzelte wieder, und sie schnupperte. Angefaulte Apfel.

Sie nahm den Hörer ab, warf eine Münze ein, wählte »O« und die Nummer ihres Büros. Als sich die Vermittlung meldete, sagte sie: »R-Gespräch bitte«. Sie mußte niesen.

Walt Greenow im karierten Flanellhemd kam mit einem Bühnenarbeiter von der Gasse herein. Beide schleppten Kabel und in Kisten gepackte Geräte. »Hallo, Leslie«, sagte Walt. Sie quetschten sich an Wetzon vorbei und verschwanden am Ende des Ganges. Sie schienen den fauligen Geruch mitgebracht zu haben.

»Entschuldigen Sie«, rief sie der Frau mit dem orangefarbenen Haar zu. »Riecht es hier nicht irgendwie komisch?«

Die Frau senkte äußerst widerstrebend ihre Zeitung, dann schnaubte sie lautstark. »Oh, verdammt! Die haben es wieder getan.« Sie stand auf und warf die Zeitung auf den Stuhl.

»Würden Sie die Tür im Auge behalten?« Sie wartete die Antwort nicht ab.

Das Telefon hörte auf zu läuten. »Smith und Wetzon«, meldete sich B. B.

»Ich habe ein R-Gespräch von Wetzon in Boston...« begann die Vermittlung.

»Geht in Ordnung«, unterbrach B. B. sie.

»Hallo, Häschen!« Phil Terrace tauchte aus dem Korridor auf. »Hat jemand Mort gesehen?«

»Tag, B. B.« Wetzon beantwortete Phils Frage mit einem Kopfschütteln, und er öffnete die Tür und ging auf die Gasse hinaus.

»Was stinkt denn hier so scheußlich?« Poppy Hornberg trug ein Stück silbrigen Stoff. »Leslie? Haben Sie Mort gesehen?«

Niemand nahm zur Kenntnis, daß Wetzon telefonierte. »Nein, habe ich nicht«, sagte sie. Poppy runzelte die Stirn und ging ins Haus zurück.

»Wetzon...« sagte B. B.

»Ist Phil hinausgegangen?« Fran Burke stand direkt hinter ihr.

»Bleib dran, B. B.« Zu Fran sagte sie: »Ja, vor einem Moment.«

Fran schleppte sich an ihr vorbei, stieß die Tür mit seinem Stock auf und rief: »Phil?« Obwohl keine Antwort kam, ging Fran dennoch hinaus und kam kopfschüttelnd ins Theater zurück. Er wirkte wütend. »Wenn du ihn siehst, sag ihm, daß ich ihn suche.« Er stapfte denselben Weg zurück, den er gekommen war.

»B. B.? Bist du noch...« Aber die Worte blieben ihr im Halse stecken, als jemand vorbeiraste, zur Tür hinaus, und Wetzon hart gegen die Wand stieß. Sie vertrat sich den Fuß. »Autsch!« Sie ließ den Hörer fallen.

»Hallo? Wetzon? Wetzon?« Sie hörte B. B.s Stimme, während der Telefonhörer hin und her schwang und an die Wand schlug.

Sie griff danach und sprach hinein: »B. B., entschuldige. Hier geht es zu wie an der Grand Central Station. Ich rufe dich später an.« Sie hängte das Telefon ein. Dann verlagerte sie ihr Gewicht schwungvoll auf den schmerzenden Fuß. Du Tolpatsch, dachte sie. Sie hatte nicht den Eindruck, daß sie sich den Knöchel verstaucht hatte, aber sie würde gut daran tun, ihn mit Eis zu behandeln, und zwar sofort. Verdammt! Alle, die mit der Show zu tun hatten, liefen wie Invaliden herum. Handgelenke in Gips, Beulen an den Köpfen, Arme in Schlingen, verstauchte Knöchel. Dabei hatte sie nichts als einen einfachen Anruf erledigen wollen.

Wer hatte sie über den Haufen gerannt? Wohin war er in solcher Eile gerannt? Wütend stieß sie mit der Schulter die Tür auf und trat auf die Gasse. Der Schnee war eine Wohltat. Sie atmete tief und befreiend durch und entdeckte Mark, der zitternd an der Backsteinmauer des Theaters lehnte. Sein Gesicht war abgespannt, verängstigt. Er schien seine Hände im Schnee zu reiben.

Besorgt streckte Wetzon die Hand nach ihm aus, aber er wich zurück. »Was ist los? Ist dir übel?« Mark stolperte, und sie erwischte ihn. »Komm lieber mit hinein.« Er hatte keinen Mantel an, und seine Lippen waren blau.

Mark wehrte sich nicht, als sie seinen Arm um ihre Schulter legte, ihn ins Theater schleppte und auf den leeren Stuhl des Cerberus fällen ließ, auf die zerknitterte Zeitung.

Er klammerte sich verzweifelt an ihre Hand. »Laß mich nicht allein«, bat er inständig.

Anscheinend wollte er noch etwas sagen, doch sie unterbrach ihn. »Noch nicht. Komm erst zur Ruhe.« Als sie die Augen schloß, tanzten blutige Tupfen auf ihren Lidern. Blutige Tupfen und blitzende Lichter. Ihr Knöchel pochte.

Sie öffnete die Augen, während sie immer noch Marks zitternden Rücken tätschelte. Auf dem Boden verschmolzen Schnee und Sand zu einer rostigen Suppe. Mark wackelte unruhig und summte leise vor sich hin. Wetzon schlug ein Bein über. Ihr rechter Stiefel hatte unten herum, nahe der Sohle, einen Rand aus verkrustetem rötlichem Schlamm. Und als sie an der Sohle ihres linken Schuhs nachsah, entdeckte sie eine Schmiere aus Blut und geschmolzenem Schnee.

Langsam dämmerte es ihr: Jemand hatte eine Blutspur bis zum Bühneneingang hinterlassen, wo sie sich mit dem Schnee vermischte.