Als ich nach Hause kam, parkte in der Auffahrt ein Streifenwagen, dahinter das Auto von Dad und dann stand da noch ein ramponierter roter Jeep. Eine böse Vorahnung überkam mich. Ich stapfte auf die Haustür zu und schloss sie auf.
»Gott sei Dank!«, rief Mom aus, düste vom Wohnzimmer zur Eingangstür und warf sich mir um den Hals.
»Mom …?«, sagte ich. »Was ist …«
Ein Polizist in Uniform folgte ihr in den Flur. Er sah aus, als wäre er nur äußerst ungern hier. Direkt hinter ihm tauchte Dad auf, der noch unwilliger wirkte als der Polizist. Ich spähte ins Wohnzimmer und sah Dr. Hieler dort auf der Couch sitzen. Die Falten in seinem Gesicht ließen es hart und müde erscheinen.
»Was ist los?«, fragte ich und machte mich von Mom los. »Dr. Hieler …? Ist irgendwas passiert?«
»Wir wollten gerade eine Vermisstenmeldung aufgeben«, sagte Dad, seine Stimme war brüchig vor Wut. »Herrgott noch mal, was kommt denn noch alles?«
»Eine Vermisstenmeldung? Wieso?«
Aber da kam schon der Polizist auf mich zu. »Bestimmt willst du nicht als Ausreißerin aufgegriffen werden«, sagte er zu mir. »Und genau das wäre passiert.«
»Ausreißerin? Das stimmt doch gar nicht. Ich bin nicht abgehauen. Mom …«
Der Polizist steuerte auf die Eingangstür zu, gefolgt von Mom, die sich bei ihm bedankte und sich entschuldigte. Weil das Funkgerät an seiner Schulter quäkte, konnte ich kaum verstehen, was sie sagten.
Dr. Hieler stand auf und zog sich seine Jacke über. Als er auf mich zukam, wirkte sein Gesicht durcheinander und traurig und wütend und erleichtert, alles zugleich. Wieder dachte ich an seine Familie zu Hause. Welchen häuslichen Frieden hatte ich heute wohl gestört? Hoffte seine Frau vielleicht insgeheim, dass ich nie mehr auftauchen würde?
»Das Grab?«, fragte er ganz leise. Weder Mom noch Dad bekamen es mit. Ich nickte, er nickte. »Bis Samstag«, sagte er. »Dann reden wir.« An der Haustür sprach er leise mit Mom – diesmal war es eine Unterhaltung, in der sich beide Seiten entschuldigten – und schüttelte Dad im Weggehen die Hand. Ich beobachtete, wie der Polizist in seinem Streifenwagen davonrauschte und wie Dr. Hieler in seinen Jeep kletterte und ohne großes Trara losfuhr.
»Ich muss zurück«, sagte Dad zu Mom. »Sag Bescheid, wenn du irgendwas brauchst. Und meine Meinung kennst du. Sie braucht mehr Hilfe, als sie im Augenblick kriegt, Jenny. Du darfst nicht zulassen, dass sie uns immer weiter alle unglücklich macht.« Er warf mir einen schneidenden Blick zu. Ich schaute weg.
»Ich hab dich gehört, Ted«, sagte Mom seufzend. »Ich hab dich gehört.«
Dad legte Mom eine Hand auf die Schulter und tätschelte sie kurz, dann verschwand er durch die Haustür.
Mom und ich standen im leeren Eingang und blickten uns an.
»Das war mal wieder richtig großes Theater«, sagte sie bitter. »Reporter haben das Grundstück belagert. Schon wieder. Dr. Hieler musste sie verscheuchen. Ich hab mich bemüht, dir zu vertrauen, Valerie, und jetzt schau dir an, was diesmal dabei herausgekommen ist. Vielleicht hat dein Vater recht. Wenn man dir den kleinen Finger gibt, nimmst du die ganze Hand.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung. Ich wollte nicht abhauen, das schwöre ich dir. Ich bin nur spazieren gewesen.«
»Du warst stundenlang weg, Valerie. Du hast keinem gesagt, wo du hingehst. Ich hab gedacht, du wärst entführt worden. Oder Schlimmeres. Ich hab gedacht, dieser Troy hätte seine Drohung wahr gemacht und dir was angetan.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das war mir wirklich alles nicht klar.«
»Schwachsinn«, kam eine Stimme vom Treppenabsatz her. Frankie stand da, in Boxershorts und T-Shirt, die Haare standen ihm zur Seite weg.
»Frankie«, ermahnte ihn Mom, aber er unterbrach sie.
»Dad hat recht – sie macht bloß Ärger.«
»Ich hab gesagt, es tut mir leid«, wiederholte ich. Mir fiel nicht ein, was ich sonst hätte tun können. »Ich wollte kein Drama verursachen. Ich war auf dem Friedhof und habe dort mit Duce geredet, dabei muss ich die Zeit aus den Augen verloren haben. Ich hätte anrufen sollen.«
Mom sah mich entsetzt an. »Duce Barnes?«
Ich senkte den Blick.
»Oh, Valerie, das ist doch einer von denen«, keuchte sie. »Einer von diesen Nick-Typen. Hast du denn gar nichts gelernt? Nach allem, was passiert ist, fällt dir wirklich nichts Besseres ein, als mit Jungs rumzuhängen und dich wieder in irgendwelchen Ärger reinziehen zu lassen?«
»Nein, so ist das nicht«, sagte ich.
»Ich hätte heute ein Probespiel gehabt für die Fußballmannschaft«, brüllte Frankie von der Treppe her. »Aber ich konnte nicht hin. Mom und Dad sind nämlich komplett durchgedreht, weil du weg warst. Verdammt noch mal, Valerie. Ich versuch ja, auf deiner Seite zu sein, aber du denkst echt nur an dich selbst. Du bildest dir ein, du und Nick, ihr wärt die armen Opfer gewesen«, sagte er. »Aber sogar jetzt, wo Nick weg ist, tust du nur Sachen, die die Leute um dich herum unglücklich machen. Dad hat recht. Du bist unmöglich. Ich hab die Schnauze voll davon, dass sich mein Leben immer nur um dich dreht.« Er stürmte zurück in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Na wunderbar«, sagte Mom und deutete an die Stelle, wo eben noch Frankie gestanden hatte. »Warum kannst du uns nicht mal einen einzigen guten Tag erleben lassen? Ich hab dir wirklich vertraut und –«
»Und ich hab nichts Verkehrtes getan«, unterbrach ich sie beinahe schreiend. »Ich bin spazieren gegangen, Mom. Ich hab dir den Tag nicht ruiniert. Du hast ihn dir selbst ruiniert, weil du mir nicht vertraut hast.« Mom blieb der Mund offen stehen, ihre Augen wurden groß. »Wann kapiert ihr das denn endlich? Ich hab keinen erschossen! Ich bin’s nicht gewesen! Hört endlich auf, mich wie eine Verbrecherin zu behandeln. Ich bin es so leid, dass ihr immer alles mir in die Schuhe schiebt.« Ich hörte, wie Frankies Tür sich leise quietschend öffnete, blickte aber nicht nach oben. Stattdessen schloss ich kurz die Augen, atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen. Frankie noch mehr zu belasten war das Letzte, was ich wollte. »Ich habe einen Spaziergang gemacht, um mich zu verabschieden«, sagte ich beherrscht. »Du solltest dich freuen. Nick ist jetzt offiziell aus meinem Leben getreten, für immer. Vielleicht kannst du mir jetzt endlich vertrauen.«
Mom schloss den Mund und ließ die Arme sinken. »Tja«, sagte sie nach langer Zeit. »Immerhin ist dir nichts zugestoßen.« Sie drehte sich um, ging die Treppen hoch und ließ mich allein im Eingang stehen. Über mir hörte ich, wie Frankies Zimmertür leise wieder ins Schloss fiel. Klar, dachte ich, mir ist nichts zugestoßen.