»Du kannst jetzt nicht aussteigen«, sagte Jessica. Eine ärgerliche kleine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. »Wir haben nur noch ein paar Monate, um alles auf die Reihe zu kriegen. Wir brauchen deine Unterstützung. Du bist eine Verpflichtung eingegangen.«

»Na, dann löse ich jetzt eben die Verpflichtung«, antwortete ich. »Ich bin jedenfalls draußen.«

Ich klappte mein Schließfach zu und steuerte auf die Glastüren zu.

»Was ist dein Problem?«, zischte Jessica und rannte hinter mir her. Einen Augenblick lang schimmerte die Jessica von früher durch – ich hörte fast das Echo ihrer Stimme: Was glotzt du so, Todesschwester? Und in gewisser Weise erleichterte mir diese Erinnerung das, was ich tun wollte.

»Diese Schule ist mein Problem!«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Die Arschlöcher, mit denen du befreundet bist, sind mein Problem. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Meinen Abschluss machen und dann von hier abhauen. Warum verstehst du das nicht? Warum bedrängst du mich immer so und willst mich zu jemandem machen, der ich nicht bin?« Ich behielt mein Tempo bei.

»Herrje, Valerie, wann hörst du endlich auf damit? Dieses ewige Ich gehör nicht zu euch! Wie oft muss ich’s dir noch sagen, dass du das sehr wohl tust? Ich hab gedacht, wir wären Freundinnen.«

Ich blieb stehen und drehte mich abrupt zu ihr um. Das war ein Fehler. Ich fühlte mich plötzlich furchtbar schuldig, denn ich sah ihr an, wie verletzt sie war. Trotzdem musste ich einfach weg von ihr, das war mir klar. Weg vom Schülerrat. Weg von Meghan. Weg von Alex Gold, der mich so sehr ablehnte, dass er Josh auf seiner Party als Aufseher für mich organisiert und Troy dazu gebracht hatte, mich zu bedrohen. Weg von der Verwirrung, weg von all den Verletzungen.

Ich konnte Jessica über das, was auf der Party mit Troy passiert war, nicht die Wahrheit sagen. Sie hatte schon Meghan unter Druck gesetzt, damit sie mich akzeptierte. Troy würde sie wahrscheinlich die Tür einschlagen und ihn höchstpersönlich festnehmen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie für mich in den Kampf zog und alle in der Schule dazu verdonnerte, mich anzunehmen, ob sie wollten oder nicht. Ich hatte keine Lust mehr, das große Nächstenliebe-Projekt für die Schule abzugeben, immer unter Beobachtung, immer im Scheinwerferlicht. Ich hielt das einfach nicht mehr aus.

»Tja, dann hast du dich wohl geirrt. Wir sind keine Freundinnen. Ich hab das alles nur gemacht, weil ich mich wegen der Hassliste schuldig gefühlt habe. Die wollen mich hier nicht, Jessica. Und ich will auch nicht mehr hier sein. Nick konnte deinen kleinen Kreis von Leuten nicht ausstehen und ich kann es auch nicht.«

Sie lief rot an. »Falls du es noch nicht gemerkt hast, Valerie, Nick ist tot. Es spielt also überhaupt keine Rolle mehr, was er denkt. Und nur um das mal festzuhalten: Wahrscheinlich hat es nie eine Rolle gespielt, von den paar Minuten im Mai mal abgesehen. Aber ich habe gedacht, du wärst anders. Du hast schließlich mein Leben gerettet, weißt du noch?«

Ich blickte sie aus zusammengekniffenen Augen fest an und tat so, als wäre ich genauso selbstsicher wie sie. »Kapierst du das denn nicht? Ich hab dich nicht absichtlich gerettet«, sagte ich. »Ich wollte nur, dass er aufhört zu schießen. Du hättest auch irgendwer anderer sein können.«

Ihr Gesicht war ohne jeden Ausdruck, doch ihr Atem ging in harten, rasselnden Stößen. Ich beobachtete, wie sich ihre Brust auf und ab bewegte.

»Das glaub ich dir nicht«, sagte sie. »Ich glaub dir kein Wort davon.«

»Solltest du aber. Es ist nämlich wahr. Ihr könnt euer schönes Schülerrats-Projekt ohne mich fertig machen.«

Ich drehte mich um und lief weiter.

Gerade als ich bei den Doppeltüren ankam, erklang in meinem Rücken wieder Jessicas Stimme. »Meinst du im Ernst, das hier ist leicht gewesen für mich?«, rief sie. Ich hielt inne und wandte mich um. Sie stand immer noch da, wo ich sie hatte stehen lassen. Ihr Gesicht sah seltsam aus, als würde sie sich winden unter der Wucht ihrer Gefühle. »Meinst du das?« Sie ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und begann entschlossen auf mich zuzugehen, eine Hand auf ihrem Herz. »Das stimmt nämlich nicht. Ich hab immer noch Albträume. Ich hör immer noch die Schüsse. Und immer noch … seh ich jedes Mal Nicks Gesicht, wenn ich … dich anschaue.« Sie fing an zu weinen, mit zitterndem Kinn wie ein kleines Kind, aber ihre Stimme blieb fest und stark. »Ich hab dich nicht leiden können … früher. Das kann ich nicht mehr ändern. Ich hab mich mit meinen Freunden angelegt wegen dir. Und mit meinen Eltern. Immerhin bemühe ich mich.«

»Es hat keiner gesagt, dass du dich bemühen sollst«, gab ich zurück. »Keiner hat gesagt, du müsstest meine Freundin werden.«

Sie schüttelte wild den Kopf. »Das stimmt nicht«, sagte sie. »Der zweite Mai hat’s mir gesagt. Ich habe überlebt und das hat alles verändert.«

»Du bist doch verrückt«, sagte ich, aber meine Stimme klang wacklig und unsicher.

»Und du bist egoistisch«, sagte sie. »Wenn du jetzt gehst, bist du einfach nur egoistisch.«

Sie kam immer näher, bis uns nur noch ein paar Schritte trennten, und ich konnte an nichts anderes denken als ans Abhauen, egal ob das egoistisch war oder nicht. Ich stürzte durch die Türen nach draußen ins Freie, warf mich in Moms Auto und sank in den Beifahrersitz. Meine Brust fühlte sich kalt und schwer an. Ich hatte einen Krampf im Kinn und meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Lass uns nach Hause fahren«, sagte ich, als Mom den Wagen startete.