[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Morris Kline, 47 – Kline, Chemielehrer und Leichtathletiktrainer an der Garvin-Highschool, war sowohl 2004 wie auch 2005 zum beliebtesten Lehrer der Schule gewählt worden. »Mr Kline hat alles für uns getan«, erklärte Schülerin Dakota Ellis der Presse. »Einmal hat er auf der Autobahn angehalten, weil meine Mom und ich eine Reifenpanne hatten. Er hat uns geholfen, den Reifen zu wechseln, obwohl er schick angezogen war, als wäre er unterwegs zu einem Fest. Keine Ahnung, was er noch vorhatte, aber anscheinend hat es ihm nichts ausgemacht, schmutzig zu werden. So war er eben.«
Seine Schüler sind tief betroffen über seinen Tod, aber niemand wundert sich über die Art, wie er gestorben ist – als Held. Beim Versuch, eine Gruppe von Schülern zu beschützen, traf ihn ein Schuss in die Brust; kurz zuvor hatte er noch auf Nick Levil eingeredet, er möge seine Waffe niederlegen. Schon bei Eintreffen der Rettungskräfte »hing sein Leben am seidenen Faden«, wie sich einer der Sanitäter ausdrückte. Kline verstarb kurz darauf im Kreiskrankenhaus.
Er hinterlässt eine Frau und drei Kinder. Renée Kline sagte der Presse: »Nick Levil hat meinen Kindern die Zukunft mit ihrem Vater geraubt und ich persönlich bin froh, dass er sich umgebracht hat. Nach allem, was er so vielen Familien angetan hat, verdient auch er selbst keine Zukunft.«
Moms Auto war das erste in der Schlange – ich war wahnsinnig dankbar, als ich ihren braunen Buick dort entdeckte. Kaum hatte die Glocke geläutet, sprintete ich los, so gut ich konnte. Dass ich vorher wegen der Hausaufgaben noch zu meinem Schließfach gemusst hätte, vergaß ich komplett.
Ich schlüpfte ins Auto und atmete zum ersten Mal an diesem Tag richtig durch. Mom musterte mich, die Stirn in Falten gelegt. Sie waren ziemlich tief, als hätte sie lange an ihnen gearbeitet.
»Wie ist es gelaufen?«, wollte sie wissen. Sie bemühte sich, unbekümmert und fröhlich zu klingen, das merkte ich, aber die Sorge in ihrer Stimme war unüberhörbar. Wahrscheinlich hatte sie auch an diesem Tonfall schon lange gearbeitet.
»Okay«, sagte ich. »Eigentlich ätzend. Aber irgendwie okay.«
Sie legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz. »Hast du mit Stacey gesprochen?«
»Ja.«
»Schön. War doch bestimmt nett, deine alten Freunde zu sehen.«
»Mom«, sagte ich. »Lass es einfach gut sein.«
Mom löste den Blick von der Straße und sah mich an. Ihre Stirnfalten waren nun noch tiefer geworden und sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass ich mir fast wünschte, ich hätte gelogen und ihr vorgemacht, alles wäre super gelaufen. Ich wusste ja, wie dringend sie hören wollte, dass ich den Tag über mit meinen Freunden von früher zusammen gewesen war und vielleicht sogar ein paar neue Leute kennengelernt hatte, dass mich in der Schule niemand mit dem Amoklauf in Verbindung brachte und dass auch ich jetzt zu der großen, glücklichen Schulfamilie gehörte, von der im Fernsehen dauernd die Rede war. Aber ihr Blick lag nicht länger als eine Sekunde auf mir, dann sah sie wieder auf die Straße.
»Mom, ehrlich, mach dir nicht so viele Gedanken.«
»Ich hab’s ihrer Mutter gesagt. Ich hab ihr erklärt, dass du nicht verantwortlich bist für das, was passiert ist. Ich hatte gehofft, sie hört auf mich. Schließlich bist du in der Pfadfindergruppe gewesen, die sie geleitet hat, verflucht noch mal.«
»Ach komm. Du weiß doch, was Dr. Hieler gesagt hat. Kann eben sein, dass ein paar Leute komisch auf mich reagieren.«
»Ja, aber bei den Brinks sollte es wirklich anders sein. Die müssten es doch besser wissen. Wieso müssen wir die erst überzeugen? Das ist doch nicht richtig. Ihr seid gemeinsam aufgewachsen. Wir beide haben euch zusammen großgezogen.«
Auf dem restlichen Heimweg waren wir beide still. Mom lenkte den Wagen in die Garage und stellte den Motor aus. Dann legte sie die Stirn auf dem Lenkrad ab und schloss die Augen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war nicht richtig, einfach auszusteigen und sie sitzen zu lassen, fand ich. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie auch nicht unbedingt zum Reden aufgelegt war. Sie sah aus, als hätte sie einen richtig miesen Tag gehabt.
Endlich brach ich das Schweigen. »Stacey hat mir erzählt, dass du mit ihrer Mutter gesprochen hast.« Mom reagierte nicht. »Sie hat behauptet, du hättest gesagt, sie soll sich ihr Gerede in den Arsch stecken.«
Mom gluckste. »Na ja, du weißt, wie Lorraine manchmal drauf ist. Die trägt ihre Nase reichlich hoch. Ich wollte ihr schon lange mal sagen, dass sie sich ihr Gerede in den Arsch stecken soll.« Sie gluckste wieder, dann kicherte sie, immer noch mit geschlossenen Augen und dem Kopf auf dem Lenkrad. »Das war einfach die erste Gelegenheit, wo es gepasst hat. War ein ziemlich gutes Gefühl.«
Sie blinzelte mich mit einem Auge an und begann dann, laut loszulachen. Ich konnte nicht anders, ich musste auch kichern. Einen Augenblick später brüllten wir vor Lachen, und dass wir dabei auf den Vordersitzen ihres Autos in der verschlossenen Garage saßen, störte uns kein bisschen.
»Willst du hören, was ich genau zu ihr gesagt hab? Sie soll sich ihr blödsinniges Gewäsch in ihren widerlichen Fettarsch stecken!« Wir lachten noch mehr. Nach Luft ringend fügte Mom hinzu: »Und ich hab ihr erzählt, dass Howard mich letztes Jahr auf der Poolparty angebaggert hat.«
Jetzt schnappte ich nach Luft. »Machst du Witze? Staceys Dad hat dich angebaggert? Ekelhaft! Der ist doch so haarig und so alt und so fies.«
Sie schüttelte den Kopf und bekam jetzt wirklich kaum noch Luft zum Reden. »Ich hab … mir das doch … bloß ausgedacht. Herrje, ich wär zu … gern dabei gewesen … als sie ihn … drauf angesprochen hat.«
Wir ließen uns nach hinten in die Sitze fallen und hörten Ewigkeiten lang nicht auf zu lachen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gelacht hatte. Mein Mund hatte ganz vergessen, wie Lachen geht. Jetzt kam es mir fast so vor, als hätte es irgendeinen besonderen Geschmack.
»Du bist unmöglich«, sagte ich, als wir wieder normal atmen konnten. »Ich find’s ja super, aber du bist unmöglich.«
Sie schüttelte wieder den Kopf und wischte sich mit dem kleinen Finger die Tränen aus den Augenwinkeln. »Nein. Unmöglich sind die Leute, die dir keine zweite Chance geben.«
Ich blickte auf meinen Rucksack und zuckte mit den Achseln. »Na ja, das kann man vielleicht sogar verstehen. Schließlich hat es schon so ausgesehen, als hätte ich Schuld. Du brauchst mich nicht zu verteidigen, Mom. Das wird schon wieder mit mir.«
Jetzt wischte sich Mom mit den Ärmeln ihrer Kostümjacke über die Augen. »Aber die müssen doch einsehen, dass Nick der Täter war, Liebling. Er ist der Böse. Das hab ich dir schon vor Jahren gesagt. Du bist so hübsch – du hast einen netten Jungen als Freund verdient. Nicht so einen wie Nick. So jemand wie Nick hat nie zu dir gepasst.«
Ich verdrehte die Augen. Nicht schon wieder diese Tour. Andauernd hatte Mom auf mich eingeredet, Nick würde mir nicht guttun. Ich solle nicht mit Typen wie ihm rumhängen. Irgendwas würde nicht stimmen mit Nick – das könnte sie an seinen Augen ablesen. Und jetzt vergaß sie auch noch, dass er tot war und es überhaupt keinen Sinn ergab, mir weiter Vorträge darüber zu halten, wie schlecht er war, denn das zählte ja sowieso alles nicht mehr.
Ich tastete nach dem Türgriff. »Bitte nicht schon wieder. Im Ernst, Mom. Nick ist tot. Können wir das jetzt alles endlich mal vergessen?« Ich drückte die Tür auf und stieg aus, meinen Rucksack im Schlepptau. Ein stechender Schmerz fuhr durch mein Bein und ich verzog das Gesicht.
Mom schnallte sich ab und stieg auf der anderen Seite aus. »Ich will mich doch nicht mit dir streiten, Valerie«, sagte sie. »Ich möchte nur, dass du glücklich bist. Nie wirkst du glücklich. Dr. Hieler hat vorgeschlagen …«
Am liebsten hätte ich sie wütend angefunkelt und ihr ins Gesicht gesagt, was meine Erfahrung mit dem Glück war: Dass man nie weiß, wann es sich in Entsetzen verwandelt. Dass es nichts ist, was bleibt. Dass ich vor Nick die meiste Zeit unglücklich gewesen war und dass sie und Dad ja wohl wüssten, wieso. Und überhaupt, sie selbst war doch auch nicht glücklich, ob ihr das schon mal aufgefallen war? Aber als ich sah, wie sie in ihrem zerknitterten Kostüm dastand und mich über das Autodach hinweg anguckte, mit Tränen in den Augen und einem vom Lachen geröteten Gesicht, wäre es mir gemein vorgekommen, diese Dinge zu sagen. Auch wenn sie der Wahrheit entsprachen.
»Mom. Ist schon okay«, sagte ich. »Ich denk nicht mal mehr an Nick, ehrlich.« Ich drehte mich um und ging ins Haus.
Drinnen lehnte Frankie am Küchentresen und aß ein Sandwich. Seine Haare wirkten etwas mitgenommen. Er hielt sein Mobiltelefon in der Hand und tippte wie wild eine SMS an irgendwen.
»Was ist los?«, wollte er wissen, als ich reinkam.
»Mom«, sagte ich. »Frag lieber nicht.«
Ich machte den Kühlschrank auf und nahm mir eine Cola, lehnte mich neben ihn an den Tresen und öffnete sie. »Warum kriegt sie’s einfach nicht in ihren Kopf, dass Nick tot ist und dass sie aufhören kann, mich dauernd wegen ihm zu nerven? Warum muss sie mir andauernd Vorträge halten?«
Frankie drehte sich zu mir und sah mich kauend an. »Wahrscheinlich hat sie Angst, du wirst wie sie und heiratest jemanden, den du nicht ausstehen kannst«, sagte er.
Ich wollte etwas erwidern, aber da hörte ich am Klappern der Garagentür, dass Mom gleich reinkommen würde. Darum schlich ich mich nach oben in mein Zimmer.
Konnte gut sein, dass Frankie recht hatte. Mom und Dad waren alles andere als glücklich. Vor letztem Mai hatten sie ständig darüber geredet, sich scheiden zu lassen, was echt ein Segen gewesen wäre. Frankie und mir war fast schwindlig geworden vor Glück bei der Vorstellung, dass endlich Schluss wäre mit den ewigen Streitereien.
Aber ironischerweise hatte der Amoklauf, der jede Menge andere Familien ins Unglück gestürzt hatte, meine eigene wieder zusammengebracht. Angeblich wollten meine Eltern »der Familie nicht ausgerechnet in dieser Zeit extremer Belastung auch noch eine Trennung zumuten«, aber ich wusste, wie es wirklich war.
1. Dad war ein ziemlich erfolgreicher Anwalt und das Letzte, was er brauchen konnte, waren Zeitungsartikel, die den Eindruck entstehen ließen, dass die tiefere Ursache für das Massaker an unserer Schule in seinen Eheproblemen zu suchen war.
2. Mom hatte zwar einen Job, aber der war lange nicht so gut wie der von Dad. Sie verdiente zwar Geld, aber nicht genug. Und uns allen war klar, dass noch einige saftige Rechnungen für meine psychiatrische Behandlung ins Haus kommen würden.
Frankie und ich mussten uns also mit dem Stand der Dinge zwischen unseren Eltern arrangieren. Normalerweise bestand er in mühsam gewahrter Gleichgültigkeit, aber manchmal kochte er auch zu einer solchen Feindseligkeit hoch, dass wir am liebsten alle ihre Sachen in den Abfall geworfen und den beiden Flugtickets ans andere Ende der Welt in die Hand gedrückt hätten.
Ich ging also in mein Zimmer, das mir nun viel muffiger und unordentlicher vorkam als heute Morgen. In der Türöffnung blieb ich stehen und schaute mich um, ein wenig verwundert darüber, dass ich mich seit Mai fast ausschließlich in diesem Zimmer aufgehalten hatte, ohne dass mir aufgefallen wäre, wie mies es hier war. Geradezu deprimierend. Ich war auch vorher nicht besonders ordentlich gewesen, aber seit dem Amoklauf war hier monatelang überhaupt nichts mehr weggeräumt oder geputzt worden, wenn man von Moms großer Nick-Austreibung einmal absah.
Ich nahm ein Glas, das schon – na ja – seit einer ganzen Ewigkeit auf meinem Nachttisch gestanden hatte, und stellte es auf einen Teller. Ich beugte mich vor, zerknäulte ein Stück Küchenrolle, das ich achtlos auf den Boden geworfen hatte, und stopfte es in das Glas.
Für einen kurzen Moment überlegte ich, das Zimmer komplett aufzuräumen. Einen neuen Anfang zu machen. Eine große Valerie-Austreibung durchzuziehen, und zwar freiwillig. Aber dann glitt mein Blick über all die Klamotten, die zerknüllt auf dem Boden lagen, über die Bücher, die sich neben dem Bett stapelten, den Fernseher mit seinem verdreckten und eingestaubten Bildschirm und ich beschloss, es bleiben zu lassen. Es war einfach zu viel Arbeit. Meine Trauer ließ sich nicht mal eben wegräumen.
Ich hörte, wie Mom und Frankie unten in der Küche miteinander redeten. Moms Stimme klang schrill und angespannt, so ähnlich wie bei den Gelegenheiten, bei denen sie und Dad zu lange zusammen im selben Raum waren. Ich spürte einen Anflug von Schuldgefühlen, weil ich Frankie allein dort unten gelassen hatte und er ihren Frust voll abbekam. Zumal ich ja für ihre miese Laune verantwortlich war. Andererseits erwischte es Frankie nie so schlimm wie mich. Im Grunde existierte er seit dem Amoklauf kaum noch. Niemand sagte ihm, wann er abends zu Hause sein sollte, er musste nichts im Haushalt machen, es gab überhaupt keine Grenzen für ihn. Mom und Dad waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu streiten und sich Sorgen um mich zu machen; sie erinnerten sich überhaupt nicht daran, dass sie noch ein Kind hatten, um das sie sich Sorgen machen könnten. Ich wusste nicht, ob ich Frankie beneiden sollte oder ob er einem nicht eher leidtun musste. Vielleicht beides.
Plötzlich fühlte ich mich wieder ganz schwach. Ich ließ das Glas und den Teller in den Abfalleimer fallen und warf mich auf mein Bett. Ich griff in meinen Rucksack, kramte mein Notizheft hervor und schlug es auf. Während ich die Bilder betrachtete, die ich im Lauf des Tages gezeichnet hatte, kaute ich auf meiner Lippe herum.
Ich rollte mich auf die Seite, machte Musik an und drehte sie voll auf. In ein paar Minuten kam garantiert Mom angeschossen und brüllte durch die geschlossene Tür, ich sollte gefälligst leiser stellen. Aber sie hatte mir sowieso schon alle Musik abgeknöpft, die irgendwie »heikel« sein könnte – alles, wovon sie und Dad und vielleicht auch Dr. Hieler und sämtliche alten Säcke in der Welt dachten, es könnte mich auf die Idee bringen, mir in der Badewanne die Pulsadern aufzuschlitzen. Was mich immer noch stinkwütend machte, denn ich hatte mir diese Sachen fast alle von meinem eigenen Geld gekauft. Also drehte ich die Musik so laut, dass ich Mom nicht mal hören würde, wenn sie hochkam. Dann konnte sie gegen die Tür hämmern, so viel sie wollte. Sie hätte früher die Schnauze voll von ihrem Gehämmer als ich.
Ich griff wieder in meinen Rucksack und holte einen Bleistift raus. Eine Weile lang kaute ich oben auf dem Radiergummi herum und betrachtete das Bild, das ich von Mrs Tennille zu zeichnen begonnen hatte. Sie wirkte so traurig. Schon komisch – es war noch gar nicht lange her, da hätte ich ihr jede Traurigkeit der Welt an den Hals gewünscht. Ich hatte sie nicht ausstehen können. Aber heute war es mir richtig schlecht gegangen, als ich gemerkt hatte, wie traurig sie war. Ich fühlte mich verantwortlich. Ich wollte sie lächeln sehen und fragte mich, ob sie wohl lächelte, wenn sie nach Hause zu ihren Kindern kam. Oder ob sie sich bloß mit einem Wodka in ihren Fernsehsessel legte und trank, bis sie die Schüsse in der Cafeteria nicht mehr hörte.
Ich beugte den Kopf vor und begann zu zeichnen – und ich zeichnete sie, wie sie beides auf einmal tat: wie ihr Körper einen kleinen Jungen ganz einhüllte, der dort geborgen wie eine Erdnuss in der Schale lag, während sich ihre Hand um eine Flasche Wodka klammerte wie Efeu um eine Weinrebe.