Ich lief zurück zur Schule. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können. Unterwegs sprach ich Mom auf ihre Mailbox.

»Hallo, Mom. Ich musste mir wegen einer Hausaufgabe helfen lassen und hab den Bus verpasst«, log ich. »Ich warte einfach hier, hol mich dann nach deiner Besprechung ab, ja?«

Bei der Schule angekommen, ging ich hinein und ließ meine Sachen neben der gigantischen Glasvitrine fallen, die allen Besuchern der Schule sofort ins Auge stechen sollte. Hier waren blinkende Football- und Leichtathletik-Pokale ausgestellt und dazu überdimensionale Fotos von ehemaligen Trainern, die ihre Zeiten des Ruhms längst hinter sich hatten. Sie waren einfach weg und das war’s.

Ich hockte mich neben der Vitrine auf den Boden und zog mein Notizbuch heraus. Ich wollte etwas zeichnen, wollte über ein Bild meine Gefühle zu fassen kriegen. Aber ich wusste nicht recht, was ich zeichnen sollte. Ich war dermaßen durcheinander, dass es mir schwerfiel zu sehen, was da war. Ich brachte es einfach nicht fertig, meinen Bleistift die Züge von Britnis/Brennas Gesicht kritzeln zu lassen. Ich schaffte es nicht, dieses Gesicht so zu formen, dass es in den Umriss von Dads schuldbewusstem Auge passte – sein großes Geheimnis in Nahaufnahme. Würde er sie heiraten? Würden die beiden Kinder miteinander haben? Ich brachte es nicht fertig, mir vorzustellen, wie Dad ein zartgesichtiges Baby in den Armen hielt, mit ihm herumschmuste und ihm erzählte, wie lieb er es hatte. Wie er mit diesem Kind auf den Sportplatz ging. Wie er ein Leben lebte, das er wahrscheinlich als sein »wahres Leben« empfand, als das Leben, das er verdiente, im Unterschied zu dem Leben, das er bekommen hatte.

Ich berührte mit der Bleistiftspitze das Papier und begann zu zeichnen – sofort entstand der kurvige Bauch einer schwangeren Frau von der Seite. Ich skizzierte einen gekrümmten Fötus darin, der an seinem winzigen Daumen saugte und sich um die Nabelschnur schmiegte. Dann zeichnete ich auf der gegenüberliegenden Seite eine weitere kurvige Linie. Eine Träne, die an einer schmalen Nase herabglitt. Die Augen meiner Mutter. Eine wütende Falte zwischen ihnen. Noch eine Träne, die an Wimpern hängen blieb, darin mein Name.

In der Ferne hörte ich, wie ein Schließfach zugeschlagen wurde und Schritte näher kamen. Ich klappte mein Notizbuch zu und tat so, als würde ich geistesabwesend durch die Eingangstüren nach draußen schauen. Meine Finger hielten das Buch mit den Zeichnungen eng umklammert. Bisher war es mir immer wie ein Mittel vorgenommen, die Welt so widerzuspiegeln, wie ich sie sah. Doch jetzt erschien es mir wie ein großes, beschämendes Geheimnis.

»Oh, hallo.« Jessica Campbell kam mit großen Schritten auf mich zu.

»Hallo«, antwortete ich.

Jessica blieb vor mir stehen und setzte ihren Rucksack ab. Sie linste zu den Eingangstüren hinaus, seufzte und hockte sich im Schneidersitz neben ihren Rucksack, nur ein paar Schritte von mir entfernt. »Ich warte auf Meghan«, erklärte sie, als müsste sie rechtfertigen, dass sie neben mir im Gang saß, obwohl von Angerson weit und breit nichts zu sehen war. »Sie schreibt ihre Deutsch-Arbeit nach. Ich hab ihr angeboten, sie hinterher nach Hause zu fahren.« Sie räusperte sich auffällig. »Soll ich dich mitnehmen? Ich meine, wenn’s dir nichts ausmacht, auf Meghan zu warten. Es dauert bestimmt nicht mehr lange.«

Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mutter kommt und holt mich«, sagte ich. »Bestimmt ist sie bald da.« Dann setzte ich hinzu: »Danke.«

»Schon in Ordnung«, murmelte sie und räusperte sich noch mal.

Wieder schepperte ein Schließfach, diesmal irgendwo im Naturwissenschaftstrakt, und wir drehten die Köpfe in die Richtung, aus der Schülerstimmen zu hören waren. Die Stimmen verklangen und wir hörten das Geräusch einer Holztür, die ins Schloss fiel, danach war es plötzlich wieder still.

»Kommst du morgen zum Schülerratstreffen?«, fragte Jessica. »Wir wollen darüber sprechen, wie es mit der Gedenkstätte vorangeht.«

»Oh«, sagte ich. »Ich hab gedacht, das Treffen wär eine einmalige Sache. Ich dachte … na ja, irgendwie hab ich euch ja hängen lassen letztes Mal. Außerdem, es ist ja so, man muss doch gewählt sein, damit man beim Schülerrat mitmachen kann. Und ich hab den Eindruck, dass es nicht gerade viele Leute gibt, die mich wählen würden.«

Sie zog ein seltsames Gesicht, dann stieß sie ein schrilles, nervöses Lachen aus. »Ja, das stimmt wohl«, sagte sie. »Aber ich sag dir doch schon die ganze Zeit, es ist okay. Jeder versteht, dass du bei diesem Projekt mitmachst. Das ist super so.«

Ich zog eine Augenbraue hoch und warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Sie lachte noch mal, diesmal ein bisschen echter und entspannter. »Wieso? Das stimmt!«, sagte sie.

Ich kam nicht dagegen an, ich musste auch lachen, und kurz darauf bogen wir uns beide vor Lachen, legten die Köpfe gegen die Backsteinwand hinter uns und ließen die Anspannung von uns abfallen.

»Hör mal«, sagte ich, während ich das Geschmiere unten an der Vitrine studierte, das sich direkt neben meinem Kopf befand. »Ich find’s ja toll, was du da tust, aber ich will nicht, dass Leute wegen mir aus dem Schülerrat austreten.«

»Ach, weißt du, es waren ja nicht alle gegen dich. Ein paar fanden die Idee von Anfang an gut.«

»Ja, so wie Meghan, was?«, sagte ich. »Die will echt meine beste Freundin sein. Ab morgen gehen wir im Partnerlook. Wie Zwillinge.«

Wir blickten uns kurz an und brachen wieder in Lachen aus.

»Na ja, nicht wirklich«, sagte Jessica. »Aber sie hat sich eingekriegt. Ich kann extrem überzeugend sein.« Sie grinste boshaft und ließ ihre Augenbrauen hüpfen. »Im Ernst, mach dir keine Sorgen wegen Meghan. Die kriegt schon noch die Kurve. Wir brauchen dich. Ich brauch dich. Du bist schlau und du bist auch, na ja, kreativ. Das brauchen wir. Bitte.«

Am anderen Ende des Korridors öffnete sich eine Tür und Meghan kam auf uns zu. Jessica nahm ihren Rucksack und ihre Jacke und zuckte mit den Achseln. »Du hast auf niemanden geschossen«, sagte sie. »Die haben keinen Grund, dich zu hassen. Das sage ich ihnen andauernd.« Sie erhob sich und hievte sich den Rucksack auf die Schulter. »Also dann bis morgen?«

»Okay«, sagte ich. Sie begann, Meghan entgegenzugehen.

Plötzlich blitzte etwas in mir auf. Was hatte Detective Panzella über das Mädchen gesagt, das mich entlastet hatte? Blond, groß. In der gleichen Klassenstufe wie du. Dauernd hat sie gesagt: »Valerie hat auf niemanden geschossen.«

»Jessica?«, rief ich. Sie drehte sich um. »Mhm, danke.«

»Alles okay«, sagte sie. »Komm einfach, ja?«

Ein paar Minuten später hielt Mom hupend vor der Schule. Ich humpelte nach draußen zum Auto und schob mich hinein. Mom saß mit finsterem Blick hinterm Steuer.

»Ich kann’s nicht fassen, dass du den Bus verpasst hast«, sagte sie. Diese Stimme kannte ich – ihre ärgerliche und frustrierte Stimme. Die Stimme, die sie oft hatte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hab einfach jemanden gebraucht, der mir bei dieser einen Aufgabe hilft.«

»Warum hast du Dad nicht gebeten, dass er dich fährt?«

Die Frage erwischte mich wie ein ausgestreckter Finger, der einem in die Brust sticht. Ich merkte, wie mein Herz schneller schlug. Spürte, wie es in meinem Magen rumorte, als ich kurz den Gedanken erwog, ihr die Wahrheit zu sagen. Hörte, wie mein vernünftiger Anteil mir ins Ohr schrie: Sie muss es wissen! Sie hat das Recht, Bescheid zu wissen!

»Dad hatte einen Klienten da«, log ich. »Auf ihn hätte ich genauso lange warten müssen wie auf dich.«

Wahrscheinlich hätte ich mich schuldig fühlen müssen, weil ich Mom verschwieg, was ich wusste. Aber andererseits hatte auch Dad schließlich auf niemanden geschossen.