[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Als »entsetzlich« bezeichnen Ermittlungsbeamte, die derzeit die näheren Umstände des Gewaltausbruchs vom Freitagvormittag untersuchen, die Umstände am Schauplatz des Verbrechens, der Cafeteria der Garvin-Highschool.
»Mehrere Einsatzteams rekonstruieren zurzeit den Tatablauf in allen Details«, erklärte Sergeant Pam Marone. »Inzwischen haben wir ein verhältnismäßig klares Bild von dem, was sich gestern Vormittag dort ereignete. Die Ermittlungen sind für alle Beteiligten belastend. Auch einige unserer erfahrensten Beamten reagierten beim Eintreffen am Tatort mit großer Erschütterung. Das Ganze ist eine furchtbare Tragödie.«
Bei dem Amoklauf, der sich kurz vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde ereignete, starben mindestens sechs Menschen, etliche weitere wurden verletzt.
Das letzte Opfer war die 16-jährige Valerie Leftman. Nach dem Schuss auf sie richtete der mutmaßliche Täter Nick Levil die Waffe gegen sich selbst.
Valerie Leftman wurde aus nächster Nähe in den Oberschenkel getroffen und erlitt schwere Verletzungen. Sprecher des Kreiskrankenhauses bezeichnen ihren Zustand als kritisch.
»Sie hat enorm viel Blut verloren«, äußerte sich ein Rettungssanitäter gegenüber Journalisten. »Er muss sie direkt an einer Arterie getroffen haben.«
»Sie hat großes Glück gehabt«, kommentierte die diensthabende Intensivschwester. »Ihre Überlebenschancen sind gut, aber wir müssen sehr auf sie aufpassen. Zumal so viele Leute mit ihr sprechen wollen.«
Die Augenzeugenberichte über den genauen Tathergang weichen stark voneinander ab. Einige Zeugen sagen aus, Leftman sei ein Opfer des Amokläufers gewesen, andere bezeichnen sie als mutige Heldin, wieder andere geben an, sie habe gemeinsam mit Levil den Plan gehabt, diejenigen Schüler und Schülerinnen zu töten, die die beiden nicht mochten.
Nach Aussage von Jane Keller, einer Schülerin, die den Amoklauf selbst miterlebt hat, scheint der Schuss auf Leftman ohne Absicht erfolgt zu sein. »Es sah aus, als wäre sie gestolpert und auf ihn draufgefallen oder so, ich konnte es nicht richtig erkennen«, berichtete Jane Keller den Journalisten vor Ort. »Ich weiß nur, dass gleich danach alles vorbei war. Durch Valeries Sturz hatten ein paar Leute die Gelegenheit wegzurennen.«
Allerdings müssen weitere polizeiliche Ermittlungen klären, ob der Schuss auf Leftman tatsächlich Zufall war oder aber der missglückte Versuch eines Doppelselbstmordes.
Erste Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass sich Leftman und Levil ausführlich über das Thema Selbstmord ausgetauscht hatten und dass die beiden auch darüber sprachen, andere zu töten. Daher geht die Polizei nun der Frage nach, ob mehr hinter dem Blutbad an der Garvin-Highschool stecken könnte als bisher angenommen.
»Die beiden haben dauernd über den Tod geredet«, sagte Mason Markum, ein enger Freund von Valerie Leftman und Nick Levil. »Nick mehr als Valerie, aber Valerie hat auch darüber gesprochen. Wir haben alle gedacht, das wäre nur ein Spiel für sie, aber anscheinend haben sie es wirklich ernst gemeint. Ich kann’s kaum fassen – vor gerade mal drei Stunden habe ich noch mit Nick geredet und er hat keinen Ton gesagt. Nicht über das hier.«
Ungeachtet der Frage, ob Valerie Leftman zufällig zum Opfer wurde oder ob Levil gezielt auf sie schoss, herrscht bei den Ermittlungsbehörden kein Zweifel daran, dass sich Nick Levil vorsätzlich das Leben nahm, nachdem er fast ein halbes Dutzend Schüler der Garvin-Highschool getötet hatte.
»Augenzeugen berichten, dass er nach dem Schuss auf Leftman die Waffe gegen den eigenen Kopf hielt und abdrückte«, hielt Marone fest. Levils Tod wurde noch am Tatort offiziell bestätigt.
»Wir waren erleichtert«, gab Jane Keller an. »Ein paar haben sogar gejubelt, was ich nicht ganz richtig finde. Aber ich verstehe schon, warum sie das getan haben. Es war alles so unheimlich.«
Die Ermittlungsbehörden arbeiten nun daran, Leftmans mutmaßliche Beteiligung an dem Amoklauf zu klären. Ihre Familie war für eine Stellungnahme bisher nicht zu erreichen. Die Polizei ist nach eigenen Angaben jedoch »sehr interessiert« an einer Befragung Leftmans.
Nachdem ich auch das dritte Weckerklingeln ignoriert hatte, begann Mom, wie wild gegen meine Tür zu hämmern, damit ich endlich aufstand. So wie an jedem x-beliebigen Morgen. Nur war dieser Morgen kein x-beliebiger Morgen. Es war der Morgen des Tages, an dem ich es hinkriegen sollte, endlich wieder in den Alltag zurückzukehren. Aber Mütter bleiben eben gern bei ihren alten Gewohnheiten: Wenn nach dreimal Weckerklingeln nichts passiert, wird geschrien und gegen die Tür gehämmert, egal, was für eine Art von Morgen es ist.
Allerdings schrie Mom nicht einfach so, in ihrer Stimme lag auch dieses ängstliche Zittern, das sie in letzter Zeit so oft gehabt hatte. Man hörte ihr an, dass sie unsicher war, ob ich bloß herumzickte oder ob sie besser schnell den Notarzt rufen sollte. »Valerie!«, bettelte sie, »du musst jetzt aufstehen! Es ist ein großes Entgegenkommen von der Schule, dass du wieder hindarfst. Mach dir doch nicht gleich am ersten Tag alles kaputt.«
Als ob ich mich darauf freuen würde, zurück in die Schule zu können. Wieder durch diese Gänge zu laufen, in denen es von Gespenstern nur so wimmelte. Die Cafeteria zu betreten, wo im Mai die Welt, die ich kannte, in Schutt und Asche aufgegangen war. Als ob ich seither nicht jede Nacht Albträume von diesem Ort gehabt hätte, als ob ich nicht jedes Mal verschwitzt und weinend aufgewacht wäre, voller Erleichterung, in meinem Zimmer zu sein, wo ich mich geborgen und sicher fühlte.
In der Schule wussten sie nicht, ob sie mich als Heldin oder als Verbrecherin sehen sollten, und das konnte ich ihnen nicht einmal vorwerfen. Ich wusste es ja selbst kaum. War ich der Bösewicht, der den Plan ausgeheckt hatte, die halbe Schule abzuknallen, oder die Heldin, die sich selbstlos geopfert und das Morden beendet hatte? Manchmal fand ich, dass beides zutraf. Dann wieder schien weder das eine noch das andere zu stimmen. Alles war so unendlich kompliziert.
Allerdings hatte die Schulbehörde am Anfang des Sommers versucht, mir zu Ehren so was wie eine Feier abzuhalten. Das fand ich total verrückt. Ich hatte schließlich nie vorgehabt, eine Heldin zu sein. Ich hatte keine Sekunde lang nachgedacht, als ich mich zwischen Nick und Jessica warf. Garantiert habe ich nicht überlegt: »Das hier ist eine super Gelegenheit, um ausgerechnet das Mädchen zu retten, das mich so oft ausgelacht hat und mich Todesschwester nennt. Bevor sie stirbt, krieg ich doch besser den Schuss ab.« Natürlich gilt das, was ich getan habe, normalerweise als eine heldenhafte Tat, aber in meinem Fall … na ja, da war man sich eben doch nicht so sicher.
Ich habe mich geweigert, an diesem Festakt teilzunehmen. Mom gegenüber habe ich behauptet, mein Bein täte mir zu sehr weh und ich bräuchte meinen Schlaf. Außerdem wäre das Ganze sowieso eine total blöde Idee. Es sei mal wieder typisch für diese Schule, sich was derart Beknacktes auszudenken, habe ich ihr gesagt. Bei so einem Schwachsinn würde ich nicht für Geld mitmachen.
Aber in Wirklichkeit hatte ich einfach nur Angst. Ich fürchtete mich davor, all diesen Leuten gegenüberzutreten. Vielleicht glaubten sie ja, was über mich in der Zeitung gestanden hatte und was sie im Fernsehen gesehen hatten: dass ich eine Mörderin wäre. Ich hatte Angst, in ihren Augen zu lesen, was sie womöglich dachten, auch wenn sie es nicht laut aussprachen: Du hättest dich auch besser umgebracht, genau wie er. Aber noch schlimmer wäre es für mich, wenn sie mich als mutig und opferbereit hinstellen würden. Dann würde ich mich noch elender fühlen als sowieso schon, denn schließlich war es mein Freund, der all diese Leute umgebracht hatte, und anscheinend hatte er das Gefühl gehabt, dass ich ihren Tod genauso wollte wie er. Mal ganz davon abgesehen, dass ich außerdem auch noch die unendlich blöde Person war, die nicht kapiert hatte, dass der Typ, in den sie verliebt war, ein Blutbad in der Schule anrichten wollte – obwohl er ihr das im Grunde so ziemlich jeden Tag gesagt hatte.
Aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, um Mom zu erklären, was ich wirklich dachte, kam nichts anderes heraus als: Das ist Schwachsinn. Da würd ich nicht für Geld mitmachen. Anscheinend bleiben nicht nur Mütter gern bei ihren alten Gewohnheiten.
Das Ganze endete damit, dass Mr Angerson, der Direktor unserer Schule, am Abend des Festakts zu uns nach Hause kam. Er saß am Küchentisch und redete mit meiner Mutter über … na ja, keine Ahnung, über was. Gott, das Schicksal, traumatische Erfahrungen, irgendwas in der Art. Garantiert hat er darauf gewartet, dass ich mit einem Lächeln im Gesicht aus meinem Zimmer komme und ihm erzähle, wie stolz ich auf meine Schule bin und dass es mir eine Ehre war, das menschliche Schutzschild für die rundum perfekte Jessica Campbell zu spielen. Vielleicht hat er auch eine Entschuldigung erwartet. Ich hätte mich sogar entschuldigt, wenn ich bloß gewusst hätte, wie. Aber ich fand keine Worte, die groß genug waren für etwas so Schwieriges.
Also drehte ich, während Mr Angerson in unserer Küche saß und auf mich wartete, nur meine Musik lauter, verkroch mich in mein Bett und ließ ihn unten sitzen. Ich kam die ganze Zeit über nicht raus, auch nicht, als meine Mutter gegen die Tür zu hämmern begann und mich drängte, doch wenigstens aus Höflichkeit herunterzukommen.
»Valerie, bitte«, zischelte sie, nachdem sie die Tür einen Spaltbreit geöffnet und ihren Kopf hereingestreckt hatte.
Statt ihr eine Antwort zu geben, zog ich mir nur die Bettdecke über den Kopf. Dabei war es nicht mal so, dass ich nicht runterkommen wollte – ich konnte einfach nicht. Aber das würde Mom nicht begreifen. Sie war der Meinung, ich müsste mich umso weniger schuldig fühlen, je mehr Leute bereit waren, mir zu »verzeihen«. Für mich war es allerdings genau umgekehrt.
Nach einer Weile spiegelten sich Autoscheinwerfer in der Fensterscheibe von meinem Zimmer. Ich setzte mich auf und blickte in die Einfahrt hinunter. Mr Angerson fuhr gerade weg. Ein paar Minuten später klopfte Mom an meine Tür.
»Was ist?«, fragte ich.
Sie öffnete die Tür und kam rein. Sie wirkte wie ein kleines Reh, schüchtern und verzagt. Ihr Gesicht war rot und fleckig und ihre Nase verstopft. In der Hand hielt sie diese dämliche Medaille und dazu einen Dankesbrief von der Schulbehörde.
»Sie werfen dir nichts vor«, sagte sie. »Sie wollen, dass du das weißt. Sie möchten, dass du zurückkommst. Sie wissen zu würdigen, was du getan hast.« Sie drückte mir die Medaille und den Brief in die Hände. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf und sah, dass nur etwa zehn Lehrer unterschrieben hatten. Mr Kline war nicht dabei, natürlich nicht. Wohl zum millionsten Mal seit jenem Tag fuhr mir der gewaltige Schmerz meiner Schuld durch den Körper. Kline war genau der Typ von Lehrer, der so einen Brief unterschreiben würde. Aber er konnte ihn nicht unterschreiben, weil er tot war.
Einen Moment lang hatten Mom und ich uns nur angestarrt. Ich wusste, sie hätte gern irgendein Zeichen von Dankbarkeit in meinem Gesicht gefunden. Wenn die Schule nach allem, was passiert war, weitermachen konnte, könnte ich das vielleicht auch, fand sie. Und dann könnten wir alle endlich weitermachen mit unserem Leben.
»Na ja, Mom«, hatte ich gesagt und ihr die Medaille und den Brief zurückgegeben. »Das … das ist echt super.« Ich bemühte mich ernsthaft, ein Lächeln aufzusetzen, damit sie sich besser fühlte, merkte aber selbst, dass es mir misslang. Was, wenn ich noch nicht weitermachen wollte mit meinem Leben? Was, wenn mich diese Medaille nur daran erinnerte, dass ausgerechnet der Junge, dem ich vertraut hatte wie sonst keinem auf der Welt, Leute umgebracht, auf mich geschossen und sich dann selbst getötet hatte? Warum kapierte sie nicht, dass es mir zu sehr wehtat, den Dank der Schule anzunehmen? War denn Dankbarkeit das einzig mögliche Gefühl in meiner Lage? Ich sollte dankbar sein, dass ich überlebt hatte. Dass man mir verzieh. Dass man meinen Einsatz für das Leben meiner Mitschüler anerkannte.
Doch in Wahrheit fühlte ich mich kein bisschen dankbar, egal wie sehr ich es versuchte. Meistens bekam ich überhaupt nicht zu fassen, wie ich mich fühlte. Mal war ich traurig, mal erleichtert, mal durcheinander, mal fühlte ich mich missverstanden. Ziemlich oft war ich wütend. Noch schlimmer wurde meine Wut dadurch, dass ich nicht wusste, auf wen ich am wütendsten war: auf mich, auf Nick, auf meine Eltern, auf die Schule, auf die ganze Welt. Die schrecklichste Wut von allen war die Wut auf diejenigen, die gestorben waren.
»Val«, hatte meine Mutter gesagt und mich flehentlich angeschaut.
»Echt«, hatte ich geantwortet. »Ist doch toll. Ich bin bloß müde, Mom, wirklich. Mein Bein …«
Ich drückte den Kopf noch tiefer in mein Kissen und zog unter der Decke die Beine dicht an meinen Körper.
Mit hängendem Kopf und zusammengesunkenen Schultern verließ Mom das Zimmer. Mir war klar, dass sie Dr. Hieler auf meine »fehlende Reaktion« ansetzen würde. Ich sah ihn schon beim nächsten Termin in seinem Sessel sitzen und sagen: Tja, Val, wir sollten wohl mal über diese Medaille reden.
Ich weiß, dass Mom die Medaille und den Dankesbrief später in einer Schachtel mit Andenken verstaut hat, zusammen mit allem möglichen Krimskrams, den sie über die Jahre gesammelt hat. Bilder, die ich in meiner Kindergartenzeit gemalt habe, Zeugnisse aus der Mittelstufe und dazu eben einen Brief, in dem sich die Schule dafür bedankt, dass ich einen Amoklauf beendet habe. Für Mom passt das alles irgendwie zusammen.
Auf diese Art demonstriert sie, dass sie weiter störrisch an ihrer großen Hoffnung festhält, dass mit mir eines Tages wieder alles »bestens« sein wird, auch wenn sie sich garantiert nicht dran erinnern kann, wann mit mir zuletzt irgendwas »bestens« gewesen ist. Ich weiß das übrigens auch nicht. Vor dem Amoklauf? Bevor Jeremy in Nicks Leben aufgetaucht ist? Bevor Mom und Dad damit angefangen haben, sich zu hassen? Bevor ich mich auf die Suche machte nach jemandem, der mich vergessen ließ, wie unglücklich ich war? Oder müsste ich zurückgehen bis in die Zeit, als ich noch eine Zahnspange und Pullis in Pastellfarben trug, Musik aus den Charts hörte und mir einbildete, das Leben wäre ganz einfach?
Wieder klingelte mein Wecker. Ich tastete nach ihm und schubste ihn dabei versehentlich auf den Boden.
»Valerie, jetzt mach schon!«, rief meine Mutter. Wahrscheinlich hielt sie das schnurlose Telefon in der Hand, um im Fall der Fälle blitzschnell die Notrufnummer zu wählen. »In einer Stunde fängt die Schule an. Jetzt steh endlich auf!«
Ich krümmte mich um mein Kissen und starrte die Pferde auf meiner Tapete an. Als kleines Kind habe ich mich, wenn alles schiefging, immer aufs Bett gelegt und mir ausgemalt, auf eins dieser Pferde zu springen und wegzureiten. Einfach nur zu reiten, immer weiter weg, mit wehenden Haaren, auf einem Pferd, das nie müde wurde und auch nie Hunger bekam, unterwegs in eine Ferne, wo uns keine Menschenseele begegnete. Wo vor mir ein Land unendlicher Möglichkeiten lag, das sich bis ans Ende der Welt erstreckte.
Jetzt waren diese Pferde nur noch ein albernes Motiv auf einer Kindertapete. Sie trugen mich nirgendwohin. Sie konnten es nicht. Inzwischen war mir klar, dass sie das nie gekonnt hatten, und das fand ich furchtbar traurig. Es kam mir vor, als wäre mein ganzes Leben ein einziger großer, dummer Traum gewesen.
Ich hörte ein Geräusch an der Tür und stöhnte auf. Natürlich – der Schlüssel! Dr. Hieler, der sonst meistens auf meiner Seite war, hatte Mom erlaubt, einen Schlüssel zu benutzen und in mein Zimmer zu kommen, wann immer sie es nötig fand. Für alle Fälle. Nur als Vorsichtsmaßnahme natürlich. Immerhin steht das Selbstmordthema im Raum, stimmt’s? Von da an kam sie einfach in mein Zimmer, wenn ich auf ihr Klopfen nicht reagierte, mit dem Telefon in der Hand für den Fall, dass ich in einem Meer von Blut und Rasierklingen auf meinem Gänseblümchenteppich lag.
Ich sah zu, wie sich der Türknauf bewegte. Ich konnte nichts tun, als ihn von meinem Kissen aus anzuglotzen. Mom schob sich ins Zimmer. Ich hatte recht gehabt, sie hielt wirklich das Telefon in der Hand.
»Gut, du bist ja wach«, sagte sie mit einem Lächeln, eilte geschäftig zum Fenster und zog die Jalousien hoch. Ich blinzelte ins frühmorgendliche Sonnenlicht.
»Du hast ein Kostüm an«, stellte ich fest und legte mir den Arm über die Augen.
Mit der freien Hand griff sie nach unten und strich ihren kamelfarbenen Rock um die Oberschenkel herum glatt. Sie wirkte, als hätte sie sich zum allerersten Mal so schick angezogen. Einen Moment lang kam sie mir genauso unsicher vor, wie ich mich fühlte, und das machte mich traurig.
»Ja«, antwortete sie und tastete nach den Haaren in ihrem Nacken. »Ich hab mir gedacht, wenn du jetzt wieder in die Schule gehst, könnte ich doch, na ja, du weißt schon, mal ausprobieren, ob ich nicht wieder Vollzeit arbeiten kann.«
Ich rappelte mich hoch. Mein Kopf fühlte sich vom langen Liegen wie platt gedrückt an und in meinem Bein ziepte es ein bisschen. Unter der Bettdecke fingerte ich abwesend an der Delle in meinem Oberschenkel. »Gleich an meinem ersten Tag?«
Sie stakste in ihren kamelfarbenen High Heels zu mir herüber und musste dabei einen großen Schritt über einen Berg Schmutzwäsche machen. »Na ja … Ja. Das zieht sich jetzt ja schon seit Monaten hin. Dr. Hieler findet es völlig in Ordnung, dass ich wieder richtig arbeiten gehe. Und ich bin früh genug fertig, um dich nach der Schule abzuholen.« Sie setzte sich auf die Bettkante und strich mir übers Haar. »Alles wird gut!«
»Wieso bist du dir da so sicher?«, fragte ich. »Woher willst du wissen, dass alles gut wird? Das kannst du überhaupt nicht beurteilen. Letzten Mai war überhaupt nichts gut in meinem Leben, aber du hattest keine Ahnung.« Ich zwang mich aufzustehen. Mir war eng um die Brust und ich hatte das Gefühl, ich würde gleich in Tränen ausbrechen.
Sie saß da und hielt sich am Telefon fest. »Ich weiß es einfach, Valerie. So einen Tag wird es nicht noch einmal geben, Liebling. Nick ist … er ist weg. Zieh dich nicht selber runter, ja?«
Zu spät. Ich war schon ganz unten. Je länger sie hier an meinem Bett saß und mir auf die gleiche Art über die Haare strich, wie sie es getan hatte, als ich noch klein war, und je länger ich das Parfüm einsog, das für mich ihr »Karriere-Parfüm« war, desto wirklicher wurde das Ganze. Ich musste zurück in die Schule.
»Wir waren uns doch alle einig, dass es so am besten ist, Valerie, weißt du nicht mehr?«, sagte sie. »Wir haben bei Dr. Hieler zusammengesessen und beschlossen, dass Weglaufen keine Lösung für unsere Familie ist. Du fandest das auch. Du hast gesagt, Frankie sollte nicht leiden müssen wegen dem, was passiert ist. Und dein Vater hat seine Kanzlei … sie aufzugeben und anderswo neu anzufangen wäre finanziell furchtbar schwer …« Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Mom«, setzte ich an, aber mir fiel nichts ein, was ich vorbringen konnte. Sie hatte recht. Ich hatte selbst gesagt, dass Frankie seine Freunde nicht verlieren sollte, dass es nicht okay wäre, wenn er in eine andere Stadt ziehen müsste, nur weil er mein kleiner Bruder war. Und dass auch Dad nicht gezwungen sein sollte, anderswo noch mal von vorn anzufangen, nachdem er so viel Arbeit in seine Kanzlei gesteckt hatte. Ich selbst wiederum hatte auf keinen Fall mit einem Lehrer für mich allein zu Hause festsitzen wollen, und noch viel weniger wollte ich ausgerechnet im Abschlussjahr die Schule wechseln. Darum hatte ich gesagt, dass Wegziehen für mich das Allerletzte wäre – nie würde ich mich davonschleichen wie eine Kriminelle, wo ich doch gar nichts verbrochen hatte. »Und es ist ja auch nicht so, als wüsste anderswo keiner, wer ich bin«, hatte ich gesagt und mit den Fingerspitzen Linien auf die Sofalehne in Dr. Hielers Büro gemalt. »Eine Schule, wo noch niemand von mir gehört hat, gibt’s praktisch nicht. An einer neuen Schule würden sie mich wie eine Aussätzige behandeln. An der Garvin High weiß ich wenigstens, was mich erwartet. Und wenn ich jetzt abhaue, fühlen sich alle bestätigt, dass ich schuldig bin, das kommt noch dazu.«
»Es wird schwer werden«, hatte mich Dr. Hieler gewarnt. »Du musst ziemlich vielen Drachen ins Auge sehen.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Als ob das was Neues wär. Damit komm ich schon klar.«
»Bist du dir sicher?«, hatte Dr. Hieler gefragt und mich mit zusammengekniffenen Augen skeptisch angeschaut.
Ich hatte genickt. »Es ist einfach nicht fair, dass ich weggehen soll. Ich schaff das schon. Und wenn es komplett schiefgeht, kann ich am Ende vom Halbjahr immer noch wechseln. Aber ich krieg das hin. Ich hab keine Angst.«
Doch das war jetzt lange her – der Sommer hatte damals noch vor uns gelegen und ich hatte das Gefühl gehabt, er würde ewig dauern. Zu diesem Zeitpunkt war »zurückgehen« nur eine Vorstellung gewesen, aber noch keine Realität. An die Vorstellung glaubte ich immer noch. Ich trug keine Schuld außer der, dass ich Nick geliebt und die Leute gehasst hatte, die uns quälten, und ich wollte mich auf gar keinen Fall vor Leuten verstecken, die mir die Schuld für etwas ganz anderes gaben. Doch jetzt, wo es darum ging, meine Vorstellung in die Tat umzusetzen, hatte ich nicht nur Angst, sondern echte Panik.
»Du hast den ganzen Sommer Zeit gehabt, um es dir anders zu überlegen«, sagte Mom, die immer noch auf meinem Bett saß.
Ich kniff die Lippen zusammen und ging rüber zu meiner Kommode. Dort schnappte ich mir eine saubere Unterhose und einen BH, dann kramte ich auf dem Boden nach Jeans und einem T-Shirt. »Na gut. Ich mach mich fertig«, sagte ich.
Zu sagen sie hätte in diesem Moment gelächelt, träfe es nicht ganz. Was sie tat, ähnelte zwar einem Lächeln, aber es lag zu viel Schmerz darin. Sie wollte aufstehen und rausgehen, schaffte es aber erst einmal nicht. Dann gab sie sich einen Ruck und tat es doch, wobei sie das Telefon weiter fest umklammert hielt. Ich fragte mich, ob sie es aus Versehen am Ende noch bis ins Büro mitnehmen würde, immer mit den Fingern auf den Tasten, um jeden Augenblick die Notrufnummer eintippen zu können.
»In Ordnung. Ich warte unten auf dich.«
Abwesend streifte ich mir die zerknitterten Jeans und das T-Shirt über. Meine Klamotten waren mir egal. Schließlich würde es nichts ändern, wenn ich mich gut anzog – ich würde mich nicht besser fühlen und weniger auffallen würde ich auch nicht. Ich humpelte ins Bad und fuhr mit der Bürste durch meine Haare, die ich vor etwa vier Tagen das letzte Mal gewaschen hatte. Ich machte mir auch nicht die Mühe, mich zu schminken. Ich wusste nicht mal genau, wo mein Make-up war. Schließlich hatte ich den Sommer nicht auf Tanztees verbracht. Die meiste Zeit über hatte ich nicht mal laufen können.
Ich schlüpfte in ein Paar Leinenschuhe und schnappte meinen Rucksack – den neuen, den Mom vor ein paar Tagen gekauft hatte und der dort liegen geblieben war, wo sie ihn hingelegt hatte, bis sie am Ende selbst alles reingepackt hatte, was ich brauchte. Der alte Rucksack, der mit dem Blut … na ja, der war wohl im Müll gelandet, zusammen mit Nicks Flogging Molly-Shirt, das sie in meinem Schrank gefunden und weggeworfen hatte, während ich im Krankenhaus festhing. Ich hatte geweint und sie wüst beschimpft, als ich nach Hause kam und merkte, dass das Shirt weg war. Sie kapierte einfach gar nichts – dieses T-Shirt hatte schließlich nicht Nick, dem Mörder, gehört. Es hatte dem Nick gehört, der mich mit Karten für das Flogging Molly-Konzert überrascht hatte. Dem Nick, der mich auf seine Schultern hatte klettern lassen, als sie Factory Girl spielten. Dem Nick, der vorgeschlagen hatte, wir könnten unser Geld zusammenlegen für ein T-Shirt und es abwechselnd tragen. Dem Nick, der das Shirt trug, als wir nach Hause gingen, der es mir aber gleich danach gegeben hatte – und später wollte er es nie mehr zurückhaben.
Mom behauptete, sie hätte das Shirt auf Dr. Hielers Rat hin weggeworfen, aber das nahm ich ihr nicht ab. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihm immer wieder ihre eigenen Ideen in den Mund legte, um mich zum Mitspielen zu kriegen. Dr. Hieler wäre sofort klar gewesen, dass dieses Shirt nicht Nick, dem Mörder, gehört hatte. Ich wusste ja nicht mal, wer Nick, der Mörder, überhaupt war. Dr. Hieler verstand das.
Kaum hatte ich mich angezogen, wurde ich so grauenhaft nervös, dass ich mich ernsthaft zu fragen begann, ob ich das hier durchziehen konnte. Meine Beine schienen zu schwach für den Weg zur Tür und ein Schweißfilm bedeckte meinen Nacken. Ich schaffte das einfach nicht. Ich konnte diesen Leuten nicht gegenübertreten, diese Orte nicht wiedersehen. Ich hatte nicht die Kraft dafür.
Mit zitternden Händen grub ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy und wählte die Mobilnummer von Dr. Hieler. Er nahm gleich beim ersten Ton ab.
»Tut mir leid, dass ich Sie störe«, sagte ich und ließ mich zurück auf mein Bett sinken.
»Ich habe doch gesagt, du sollst dich melden. Weißt du noch? Ich habe darauf gewartet, dass du anrufst.«
»Ich glaub, ich kann das nicht«, sagte ich. »Ich bin nicht so weit. Wahrscheinlich werd ich nie so weit sein. Es war wohl keine gute Idee, dass …«
»Val, hör auf«, unterbrach er mich. »Du kannst das. Du bist bereit. Wir haben alles durchgesprochen. Es wird hart, aber du kommst damit klar. Du bist in den letzten paar Monaten mit viel Schlimmerem klargekommen, stimmt’s? Du bist stark, Val.«
Auf einmal hatte ich Tränen in den Augen, die ich mit dem Daumen wegwischte.
»Konzentrier dich immer nur auf den einzelnen Moment«, sagte er. »Deute nicht rum an dem, was du erlebst. Schau dir einfach an, was da ist, okay? Und wenn du am Nachmittag nach Hause kommst, ruf mich an. Ich habe Stephanie gesagt, sie soll dich durchstellen, auch wenn ich gerade in einem Gespräch bin, in Ordnung?«
»Okay.«
»Und falls du tagsüber reden willst …«
»Dann ruf ich einfach an.«
»Und denk an das, was wir besprochen haben: Auch wenn du nur einen halben Tag schaffst, ist es ein Erfolg, stimmt’s?«
»Mom geht wieder arbeiten. Ganztags.«
»Sie glaubt eben an dich. Wenn du sie brauchst, kommt sie nach Hause. Aber ich bin überzeugt, das wird nicht nötig sein. Und ich hab immer recht, das weißt du doch.« In seiner Stimme lag ein Lächeln.
Ich kicherte, dann schniefte ich und wischte mir wieder die Augen. »Na gut. Egal. Ich muss jetzt los.«
»Du wirst das großartig hinkriegen.«
»Hoffentlich.«
»Ich weiß es. Und vergiss nicht, was wir besprochen haben: Du kannst am Halbjahresende immer noch wechseln, falls es nicht klappt. Wie viele Tage sind das, fünfundsiebzig oder so?«
»Dreiundachtzig«, antwortete ich.
»Siehst du? Das machst du mit links. Hast es schon in der Tasche. Ruf mich nachher an.«
»Mach ich.«
Ich legte auf und nahm meinen Rucksack. Bewegte mich auf die Zimmertür zu und blieb wieder stehen. Mir fehlte etwas. Ich griff unter die oberste Schublade meiner Kommode und tastete herum, bis ich gefunden hatte, was ich suchte – ich hatte es unten in den Rahmen der Schublade gesteckt, damit es vor Moms forschenden Blicken sicher war. Ich zog es heraus und betrachtete es, wahrscheinlich zum millionsten Mal.
Ein Foto von Nick und mir am Blue Lake – es war am letzten Schultag unseres zweiten Oberstufenjahrs gemacht worden. Nick hielt ein Bier in der Hand und ich lachte dermaßen laut, dass man meine Mandeln sehen konnte. Wir hockten auf einem riesigen Felsblock neben dem See. Ich glaube, Mason hatte das Foto gemacht. Nächtelang habe ich wach gelegen und mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich denn da wohl so wahnsinnig komisch gefunden hatte, aber ich erinnerte mich einfach nicht mehr dran.
Wir sahen so glücklich aus. Und das waren wir auch gewesen. Egal, was in den E-Mails stand und auf der Hassliste oder in dem, was wir über Selbstmord geschrieben hatten. Wir waren glücklich gewesen.
Ich berührte Nicks eingefrorenes Lächeln mit dem Finger. Ich konnte seine Stimme noch laut und deutlich hören. Ich hörte, wie er mich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wollte. Ganz ernsthaft hatte er geklungen, auf seine typische Art – dreist und fast wütend, zugleich aber auch schüchtern und romantisch.
»Val«, hatte er gesagt, war vom Fels gerutscht und hatte sich nach unten zu seiner Bierflasche gebückt. Mit der anderen Hand griff er nach einem flachen Kiesel, machte ein paar Schritte nach vorn und ließ ihn über den See springen. Der Stein hüpfte ein, zwei, drei Mal in die Luft, dann tauchte er ins Wasser und ging unter. Stacey lachte von irgendwoher im Wald, ganz in der Nähe. Gleich darauf lachte Duce auch. Es war kurz vor dem Dunkelwerden und irgendwo links von mir begann ein Frosch zu quaken. »Hast du dir schon mal überlegt, das alles hier hinter dir zu lassen?«
Ich zog die Fersen hoch auf den Fels und schlang die Arme um meine Knie. Ich musste an den Streit denken, den Mom und Dad am Vorabend gehabt hatten. An die Stimme meiner Mutter, die voller Gift gewesen war. An meinen Vater, der gegen Mitternacht das Haus verlassen und die Tür leise hinter sich zugezogen hatte. »Du meinst abhauen? Klar.«
Nick schwieg lange. Er nahm noch einen Stein und schleuderte ihn über die Seeoberfläche. Der Stein hüpfte zweimal hoch, bevor er versank.
»Ja«, sagte er. »Oder, weißt du, einfach so von einer Klippe runterfahren ins Nichts, ohne sich noch mal umzudrehen.«
Ich blickte nachdenklich in die untergehende Sonne. »Na ja, schon«, sagte ich. »Macht doch jeder. Wie in dem Film Thelma und Louise, oder?«
Er drehte sich um und lachte ein bisschen, dann kippte er den letzten Schluck Bier hinunter und warf die Flasche auf den Boden. »Den hab ich nie gesehn«, sagte er und fügte hinzu: »Weißt du noch, wie wir letztes Jahr in Englisch Romeo und Julia gelesen haben?«
»Klar.«
Er beugte sich zu mir. »Meinst du, wir könnten sein wie die beiden?«
Ich zog die Nase kraus. »Keine Ahnung. Ich denk schon.«
Er wandte sich wieder um und blickte hinaus auf den See. »Ja, das könnten wir. Das könnten wir wirklich. Wir denken gleich.«
Ich stand auf und klopfte mir die Rückseite meiner Hose ab. »Fragst du mich, ob ich mit dir zusammen sein will?«
Er drehte sich um, stolperte auf mich zu und packte mich fest um die Taille. Dann hob er mich hoch, bis meine Füße ein Stück über dem Boden schwebten – und ich konnte nicht anders, ich quiekte laut auf und begann zu kichern. Er küsste mich und mein Körper, so dicht an seinem, war plötzlich wie elektrisch geladen, da war ein Kribbeln, das mir bis in die Zehen reichte. Es kam mir vor, als hätte ich seit Ewigkeiten auf diesen Augenblick gewartet. »Und wenn ich es täte, würdest du dann Nein sagen?«, fragte er.
»Nein, echt nicht, Romeo«, antwortete ich und küsste ihn zurück.
»Dann tu ich das wohl, Julia«, sagte er – und ich schwöre, als ich in diesem Moment sein Gesicht auf dem Foto berührte, konnte ich es wieder hören. Ich spürte, wie er bei mir war. Obwohl er in den Augen der Welt im Mai zu einem Monster geworden war, war er für mich immer noch der Junge, der mich hochgehoben, mich geküsst und mich Julia genannt hatte.
Ich steckte das Foto in die hintere Tasche meiner Jeans. »Dreiundachtzig Tage und der Countdown läuft«, sagte ich laut, atmete tief ein und machte mich auf den Weg nach unten.