Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich überrascht, nicht noch schlafend in meinem eigenen Bett zu liegen und mit der Aussicht auf einen weiteren Tag in der Schule wach zu werden. So hätte es eigentlich sein sollen: Nick würde gleich anrufen, ich würde mich bereit machen für einen Schultag, von dem ich jede Sekunde hasste, wäre besorgt, was zum Teufel Nick und Jeremy am Blue Lake trieben, würde mich quälen mit der Angst, dass Nick womöglich mit mir Schluss machen wollte, und im Bus würde Christy Bruter auf mir herumhacken wie jeden Tag. Die Erinnerungsfetzen an Nick, der ein Blutbad in der Cafeteria angerichtet hatte, würden nach dem Aufwachen bald verblassen, sodass ich gar keine Gelegenheit hätte, die Bilder in meinem langsam zu sich kommenden Bewusstsein lebendig werden zu lassen.

Doch ich wachte im Krankenhaus auf. Polizeibeamte waren im Zimmer, der Fernseher lief und zeigte einen Ort, an dem offenbar ein Verbrechen passiert war. Die Polizisten hatten mir den Rücken zugekehrt und schauten hoch zum Bildschirm. Auch ich blinzelte jetzt zum Fernseher hin, wo in raschem Wechsel Bilder von einem Parkplatz, einem Backsteingebäude, einem Footballfeld aufflimmerten, die mir alle vage vertraut vorkamen. Ich schloss die Augen wieder. Ich fühlte mich benommen. Meine Augen waren total trocken, in meinem Bein pochte es und so langsam begann ich mich zu erinnern. Nicht an Einzelheiten, sondern nur daran, dass etwas wirklich Schlimmes passiert war.

»Sie wacht auf«, hörte ich jemanden sagen. Ich erkannte die Stimme, es war die von Frankie, allerdings hatte ich ihn nicht wahrgenommen, als ich eben die Augen geöffnet hatte, und jetzt erschien es mir leichter, mir nur vorzustellen, dass er neben dem Bett stand – ich mochte mich nicht extra anstrengen, um ihn zu sehen. Also ließ ich mich hinübergleiten in eine eingebildete Welt, in der Frankie da war und sagte: »Sie wacht auf«, was er ja wirklich gesagt hatte, doch in dieser Welt war ich nicht im Krankenhaus und mein Bein tat auch nicht weh.

»Ich geh eine Schwester suchen«, sagte eine andere Stimme. Sie gehörte meinem Dad, das war leicht zu erkennen. Die Stimme klang angespannt, nervös, kurz angebunden, genau wie Dad. Auch er tauchte jetzt in meiner Vorstellung auf, im Hintergrund, er würde gleich nicht mehr zu sehen sein. Er tippte etwas in seinen PDA und hatte sein Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Gleich darauf war er verschwunden und es gab nur noch Frankie, der mich wieder anblickte.

»Val«, sagte er. »Hallo, Val. Bist du wach?«

Mein Fantasiebild verwandelte sich, jetzt war ich in meinem Zimmer, es war früh am Morgen und Frankie versuchte, mich zu wecken, weil wir etwas vorhatten, was Spaß machte, so wie früher, als Mom und Dad sich noch verstanden und wir kleine Kinder waren. Vielleicht wollten wir Ostereier suchen oder Weihnachtsgeschenke auspacken oder es gab Pfannkuchen zum Frühstück. Es gefiel mir hier an diesem Ort. Es gefiel mir sogar sehr gut. Warum sich meine Augenlider trotzdem zuckend wieder öffneten, weiß ich nicht. Ich war jedenfalls nicht einverstanden damit.

Beim Augenaufschlagen sah ich Frankie, der am Ende vom Bett stand, irgendwo bei meinen Zehen. Allerdings war das hier nicht mein Bett, sondern ein seltsam fremdes, mit gestärkten, kratzigen weißen Bettlaken und einer braunen Decke, die mich an Haferflocken erinnerte. Frankies Haare lagen weich um seinen Kopf und ich brauchte einen Moment, um damit klarzukommen, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich ihn zuletzt ohne seine Stacheln gesehen hatte. Es fiel mir schwer, das Gesicht von Frankie mit vierzehn Jahren zusammenzubringen mit Haaren, die eigentlich zu dem elfjährigen Frankie gehörten. Ich musste ein paarmal blinzeln, dann erst kapierte ich es.

»Frankie«, setzte ich an, aber bevor ich weiterreden konnte, wurde ich von einem Schniefgeräusch zu meiner Rechten abgelenkt, das irgendwie feucht klang. Langsam drehte ich den Kopf. Da war meine Mom. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß sie auf einem pinkfarbenen Polsterstuhl und stützte einen Ellbogen auf ihr Knie. Sie hatte ein zerknäultes Papiertaschentuch in der Hand, mit dem sie andauernd ihre Nase wischte.

Ich schielte zu ihr rüber. Es überraschte mich nicht, dass sie weinte, denn mir war klar: Was auch immer Schlimmes passiert sein mochte, ich war irgendwie darin verwickelt – obwohl ich immer noch nicht kapierte, warum ich in einem Bett aufwachte, das sich anscheinend in einem Krankenhaus befand, statt in meinem eigenen Bett auf den Anruf von Nick zu warten.

Ich griff nach Moms Handgelenk (dem mit dem vollgerotzten Taschentuch). »Mom«, flüsterte ich. Mein Hals tat weh. »Mom«, wiederholte ich.

Aber sie wich vor mir zurück. Es war nur eine kleine, sachte Bewegung, viel zu unauffällig für ein echtes Zurückzucken. Aber sie wich doch zurück, als wollte sie meine Berührung vermeiden. Als bräuchte sie Abstand zwischen uns. Es wirkte nicht so, als hätte sie Angst vor mir, sondern eher, als wollte sie nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.

»Du bist wach«, sagte sie. »Wie fühlst du dich?«

Ich blickte an mir hinunter und rätselte, wieso ich mich wohl anders als okay fühlen sollte. Ich musterte mich genau. Alles schien noch da zu sein, wobei es zusätzlich noch ein paar Kabel gab, die normalerweise nicht zu meinem Körper gehörten. Mir war nicht klar, aus welchem Grund ich hier im Krankenhaus war, aber ich wusste, es musste etwas sein, das ich schon durchstehen würde. Irgendwas war nicht in Ordnung mit meinem Bein – so viel konnte ich aus dem dumpfen Pochen und Hämmern unter der Bettdecke ableiten. Aber mein Bein war noch da, also wusste ich, dass ich mir keine allzu großen Sorgen machen musste.

»Mom«, sagte ich wieder. Gern hätte ich irgendwas anderes gesagt, irgendwas Wichtigeres, aber mir fiel nichts ein. Meine Kehle tat weh und kam mir vor wie zugeschwollen. Ich versuchte, mich zu räuspern, merkte aber, dass sie viel zu trocken dafür war, darum brachte ich nur ein kleines, quiekendes Geräusch heraus, von dem nichts besser wurde. »Was ist passiert?«

Eine Krankenschwester in pinkfarbenem Kittel, die irgendwo hinter Mom herumschwirrte, ging zu einem kleinen Tisch und nahm eine Plastiktasse, aus der ein gebogener Strohhalm ragte. Sie reichte Mom die Tasse. Die betrachtete sie, als hätte sie so etwas noch nie zu Gesicht bekommen, dann blickte sie über ihre Schulter zu einem der Polizisten, der sich vom Fernseher abgewandt hatte und auf mich herunterglotzte, die Daumen in seinen Gürtel eingehakt.

»Auf dich wurde geschossen«, sagte der Polizist nüchtern über Moms Schulter hinweg und ich merkte, wie Mom bei diesem Satz zusammenzuckte, obwohl sie ihn ansah und nicht mich. »Nick Levil hat auf dich geschossen.«

Ich runzelte die Stirn. Nick Levil hat auf mich geschossen. »Aber so heißt doch mein Freund«, sagte ich. Erst später wurde mir klar, wie dumm dieser Satz klang, und im Nachhinein war er mir ein bisschen peinlich. Aber in diesem Moment ergab einfach nichts einen Sinn – hauptsächlich deshalb, weil ich das alles noch nicht sortiert hatte, oder vielleicht auch, weil mir die Narkose noch in den Knochen steckte. Es ist aber auch möglich, dass mein Gehirn einfach nicht zuließ, dass ich mich gleich an alles auf einmal erinnerte. Ich habe mal einen Fernsehbeitrag darüber gesehen, was das Gehirn tut, um sich selbst zu schützen. Zum Beispiel spalten sich missbrauchte Kinder manchmal in mehrere Persönlichkeiten auf und solche Sachen. Das muss es gewesen sein, was mein Gehirn in diesem Moment tat: Es hat mich beschützt. Allerdings hat es das nicht sonderlich lange getan. Nicht lange genug jedenfalls.

Der Polizeibeamte nickte, als wüsste er das schon und wollte mir signalisieren, dass das nichts Neues für ihn war, und Mom drehte sich wieder in meine Richtung, starrte aber nach unten auf die Bettdecke. Ich musterte die Gesichter um mich herum – da waren Mom, der Polizist, die Krankenschwester, Frankie, sogar Dad (ich hatte nicht mitgekriegt, wie er zurück ins Zimmer gekommen war, aber er war jedenfalls da, stand mit verschränkten Armen am Fenster) –, doch keiner von ihnen sah mich direkt an. Ein schlechtes Zeichen.

»Was ist los?«, fragte ich. »Frankie?«

Frankie sagte gar nichts. Er presste nur den Kiefer zusammen, wie er es immer tat, wenn er richtig angefressen war, und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht lief knallrot an.

»Valerie, erinnerst du dich an irgendwas von dem, was heute in der Schule passiert ist?«, fragte Mom leise. Leise war das richtige Wort dafür – nicht etwa behutsam oder sacht, denn ihre Stimme klang kein bisschen mütterlich dabei. Sie richtete ihre Frage quasi an das Bettzeug und sprach so tonlos und matt, dass ich ihre Stimme kaum wiedererkannte.

»In der Schule?«

Und dann brach alles über mich herein. Das war komisch, denn als ich langsam wach geworden war, hatte sich das, was in der Schule passiert war, wie ein Traum angefühlt, darum dachte ich jetzt: Nein, das können sie nicht meinen, das war doch bloß irgendein grässlicher Traum. Aber innerhalb von Sekunden breitete sich die Erkenntnis in mir aus, dass es kein Traum gewesen war, und ich wurde überrollt von der Wucht der Bilder.

»Valerie, in der Schule ist heute etwas sehr Schlimmes passiert. Erinnerst du dich daran?«, fragte Mom wieder.

Ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich konnte keinem eine Antwort geben. Ich konnte nichts sagen. Ich starrte nur auf den Fernsehbildschirm, auf die Luftaufnahme von unserer Schule mit lauter Rettungswagen und Polizeiautos drum herum. Starrte das Bild an, bis ich buchstäblich die einzelnen kleinen Farbquadrate sehen konnte, aus denen es sich zusammensetzte. Moms Stimme war weit weg, ich hörte sie zwar, aber es kam mir nicht so vor, als ob sie wirklich mit mir redete. Sie war nicht in meiner Welt. Nicht unter dieser Lawine von Grauen, die mich begrub. Hier war ich ganz allein.

»Valerie, ich rede mit dir. Schwester, ist sie okay? Valerie? Hörst du mich? Himmel noch mal, Ted, tu doch irgendwas!«

Dann die Stimme meines Vaters: »Was erwartest du von mir, Jenny? Was kann ich denn tun?«

»Jedenfalls mehr, als einfach nur rumzustehen! Das ist deine Familie, Ted, deine Tochter, verdammt noch mal! Valerie, sag doch was. Val!«

Aber ich konnte meine Augen nicht von dem Bildschirm lösen, den ich zugleich genau wahrnahm und doch nicht sah.

Nick. Er hat Leute erschossen. Er hat Christy Bruter erschossen. Mr Kline. Gott, er hat sie erschossen. Er hat das wirklich getan. Ich habe es gesehen, er hat sie erschossen. Er hat 

Ich griff nach unten und berührte den Verband um meinen Oberschenkel. Und dann fing ich an zu weinen. Ich heulte nicht lauthals los oder so, es war eher ein Weinen, bei dem einem die Schultern beben und sich die Lippen leicht nach außen biegen – das hässliche Weinen, wie es mal jemand in einer Talkshow genannt hatte.

Mom sprang von ihrem Stuhl auf und beugte sich über mich, doch sie sagte nichts zu mir.

»Schwester, ich glaub, sie hat Schmerzen. Sie müssen ihr irgendwas gegen die Schmerzen geben. Ted, sorg dafür, dass sie ein Schmerzmittel kriegt.« Und ich merkte, nur gerade eben so und durch einen Schleier von Verwunderung hindurch, dass Mom auch weinte. Das Weinen gab ihren Sätzen etwas Hektisches und Schroffes und ihre Worte wirkten abgehackt und verzweifelt.

Im Augenwinkel sah ich, wie Dad hinter sie trat, sie an den Schultern packte und vom Bett wegzog. Unwillig ließ sie es geschehen, sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und die beiden verließen das Zimmer. Ich hörte noch, wie ihr barsches Gezeter leiser wurde, als sie sich den Gang hinunter entfernten.

Die Krankenschwester drückte irgendwelche Knöpfe an dem Monitor hinter mir, der Polizist schaute wieder auf den Fernsehbildschirm. Frankie stand da und starrte die Bettdecke an, ohne sich zu rühren.

Ich weinte, bis mir der Bauch wehtat und ich das Gefühl bekam, dass ich gleich brechen müsste. Meine Augen fühlten sich sandig an und meine Nase war total verstopft. Trotzdem weinte ich weiter. Was mir bei all dem Weinen im Sinn herumging, kann ich nicht fassen – ich weiß nur, es war trübe und finster und erbärmlich, voller Hass und voller Elend, alles auf einmal. Ich wünschte mir Nick herbei und wollte ihn gleichzeitig nie mehr im Leben wiedersehen. Ich wünschte mir meine Mutter herbei und wollte sie gleichzeitig nie mehr im Leben wiedersehen. Und irgendwo in den entlegensten Winkeln meines Gehirns, das sich selbst zu schützen versuchte, wusste ich auch etwas von meiner Rolle in dieser ganzen Sache. Von einer Art Verantwortung, die ich dafür trug, obwohl ich all das nie gewollt hatte. Und ich war mir nicht mal sicher, wie es wäre, wenn ich alles noch mal durchleben würde – würde ich diese Rolle vielleicht ein zweites Mal spielen? Oder würde ich das auf gar keinen Fall tun? Ich wusste es einfach nicht.

Irgendwann ließ das Weinen so weit nach, dass ich wieder richtig atmen konnte, was allerdings nicht unbedingt gut war.

»Ich muss mich übergeben«, sagte ich.

Die Krankenschwester holte eine Schale von irgendwoher und hielt sie mir unters Kinn. Ich würgte hinein.

»Bitte gehen Sie einen Augenblick nach draußen«, sagte sie zu den Polizisten. Sie nickten und verließen leise das Zimmer. Als die Tür aufging, hörte ich draußen im Gang die gedämpften Stimmen meiner Eltern. Frankie blieb, wo er war.

Ich würgte wieder, machte dabei ekelhafte Geräusche und ließ den Rotz aus meiner Nase einfach so in die Schale laufen. Als ich wieder normal atmen konnte, rieb mir die Krankenschwester mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht sauber. Das fühlte sich gut an – kühl und beruhigend. Ich schloss die Augen und legte meinen Kopf wieder auf dem Kissen ab.

»Nach der Narkose ist Übelkeit etwas ganz Normales«, erklärte mir die Schwester mit einer Stimme, die durch und durch sachlich klang. »Das legt sich nach einer Weile. In der Zwischenzeit solltest du immer alles dahaben, was du brauchst.« Sie gab mir eine saubere Schale, faltete den Waschlappen und legte ihn mir auf die Stirn, dann verließ sie auf ihren geräuschlosen Sohlen den Raum.

Ich versuchte, an gar nichts zu denken. Ich bemühte mich, die Bilder in meinem Innern zu schwärzen. Aber das schaffte ich nicht. Sie stürzten auf mich ein, jedes neue noch viel schlimmer als das vorherige.

»Ist er im Gefängnis?«, fragte ich Frankie. Blöde Frage. Natürlich war Nick im Gefängnis nach einer Sache wie der hier.

Frankie sah mich direkt an, irgendwie erschrocken, als hätte er ganz vergessen, dass ich mit ihm im Raum war.

»Valerie«, sagte er, blinzelte und schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang heiser. »Was … was hast du gemacht?«

»Ist Nick im Gefängnis?«, wiederholte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Ist er abgehauen?«, fragte ich.

Wieder ein Kopfschütteln.

Mir war klar, dass es dann nur noch eine Möglichkeit gab. »Die haben ihn erschossen.« Ich hatte es als Feststellung und nicht als Frage gesagt, darum war ich verblüfft, als Frankie auch diesmal den Kopf schüttelte.

»Er hat sich selbst erschossen«, sagte er. »Er ist tot.«