»Noch immer schweigsam?«, fragte Dr. Hieler und setzte sich in seinem Sessel zurecht. Er reichte mir eine Cola. Ich sagte nichts. Ich hatte kein einziges Wort gesprochen, seit er ins Wartezimmer gekommen war, um mich zu holen. Ich hatte ihm keine Antwort gegeben, als er mich fragte, ob ich eine Cola wollte, hatte nicht reagiert, als er sagte, er würde rausgehen und uns was zu trinken holen und er wäre gleich wieder da. Ich saß einfach nur mürrisch auf seinem Sofa, lümmelte mich mit verschränkten Armen in die Kissen und zog ein finsteres Gesicht.
Eine Weile lang saßen wir still da.
»Hast du das Heft mit deinen Zeichnungen mitgebracht? Ich würde sie mir immer noch gerne anschauen«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie wär’s mit Schach?«
Ich verließ das Sofa und setzte mich zu ihm ans Schachbrett.
»Weißt du«, sagte er langsam, während er seinen ersten Zug machte, »gerade kommt mir der Verdacht, dass dir vielleicht irgendwas zu schaffen macht.« Er zwinkerte mir zu und grinste. »Ich hab mal ein Buch gelesen über Menschen und ihr Verhalten. Darum bin ich so gewieft und erkenne immer gleich, wenn’s Leuten nicht gut geht.«
Ich lächelte nicht zurück, sondern blickte nur nach unten auf das Schachbrett und machte den nächsten Zug.
Eine Weile lang spielten wir schweigend weiter, wobei ich mir selbst andauernd aufs Neue versprach, dass ich keinen Ton sagen würde. Dass ich mich an diesen friedlichen Ort der Stille und Einsamkeit zurückziehen würde, der schon im Krankenhaus meine Zuflucht gewesen war. Ich würde mich einfach in mir selbst verkriechen, so lange, bis ich verschwand. Ich würde nie mehr mit irgendwem reden.
Das Problem war nur, dass es mir so verdammt schwerfiel, Dr. Hieler gegenüber zu schweigen. Ihm lag zu viel an mir. Bei ihm fühlte ich mich zu sicher.
»Willst du drüber reden?«, fragte er, und bevor ich etwas dagegen tun konnte, lief mir eine Träne die Wange hinunter.
»Jessica und ich sind keine Freundinnen mehr«, sagte ich. Ich verdrehte die Augen und wischte mir ärgerlich übers Gesicht. »Und ich hab keine Ahnung, wieso ich deswegen heulen muss. Schließlich waren wir sowieso nie richtig befreundet. Das ist alles so blöd.«
»Wie kam’s denn dazu?«, fragte er, wandte sich von dem Schachbrett ab und lehnte sich zurück. »Hat sie etwa beschlossen, du wärst eben doch eine Versagerin, die sie nicht zur Freundin will?«
»Nein«, sagte ich. »So was würde Jessica nie sagen.«
»Nein«, sagte ich.
»Ginny?«
»Ginny hab ich seit dem ersten Schultag nicht mehr gesehen.«
»Hm«, sagte er und nickte. Nachdenklich betrachtete er das Schachbrett. »Dann bist du also die Einzige, die das sagt, oder wie?«
»Sie will immer noch meine Freundin sein«, ergänzte ich. »Aber ich kann’s nicht.«
»Weil irgendwas passiert ist«, sagte er.
Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe, so wie er es immer tat, wenn er etwas aus mir herauskriegen wollte.
Ich seufzte. »Das ist aber nicht der Grund, warum ich nichts mehr von ihr will.«
»Reiner Zufall, dass das gleichzeitig passiert ist«, sagte er.
Ich antwortete nicht. Schüttelte nur den Kopf und ließ die Tränen laufen. »Ich will das einfach nur vergessen. Das ganze Drama soll endlich vorbei sein. Außerdem würde mir sowieso keiner glauben«, flüsterte ich. »Es wäre allen egal.«
Dr. Hieler schob sich in seinem Sessel herum, beugte sich vor und richtete seinen Blick tief in meine Augen. »Ich würde dir glauben. Und egal wäre es mir auch nicht.«
Das stimmte sicher. Falls es überhaupt irgendwen kümmerte, was auf der Party mit Troy passiert war, dann Dr. Hieler. Vor einer Woche war es mir noch tröstlich vorgekommen, einfach alles für mich zu behalten. Aber jetzt belastete es mich und tat mir fast körperlich weh. Einen Augenblick später war ich schon am Reden, auch wenn ich es kaum fassen konnte. Es schien, als wäre nicht einmal mehr die Stille mein Freund.
Ich erzählte Dr. Hieler alles. Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel und hörte mir zu, wobei seine Augen immer unruhiger wurden und sein Körper immer angespannter wirkte. Schließlich riefen wir zusammen bei der Polizei an, um Troys Drohung zu melden. Der Beamte am Telefon sagte, sie würden dem nachgehen, doch wahrscheinlich könnten sie nicht sonderlich viel tun. Vor allem wenn ich nicht einmal ganz sicher wüsste, dass die Waffe echt gewesen war. Niemand fand, das würde mir recht geschehen. Und keiner warf mir vor zu lügen.
Als die Stunde um war, begleitete mich Dr. Hieler ins Wartezimmer, wo Mom saß und in einer Zeitschrift las. Außer ihr war niemand im Raum.
»Und jetzt musst du deiner Mutter erzählen, was passiert ist«, sagte er. Erschrocken blickte Mom auf. Ihr Mund formte sich zu einem kleinen o, während sie zwischen ihm und mir hin und her blickte. »Und du wirst verdammt noch mal zusehen, dass es dir bald besser geht«, verlangte er von mir. »Es kommt überhaupt nicht infrage, dass du jetzt aussteigst. Dafür hast du viel zu hart gearbeitet. Und es wartet noch mehr harte Arbeit auf dich.«
Allerdings war mir gar nicht nach harter Arbeit, und als ich nach Hause kam, wollte ich mich nur noch auf mein Bett hauen und schlafen.
Ich hatte Mom im Auto alles erzählt – auch wie Dad mir auf der Autobahn gedroht hatte, nachdem er gekommen war, um mich abzuholen. Sie wirkte unbeteiligt und fast desinteressiert, während ich redete, und sie sagte auch nichts, nachdem ich fertig war. Aber sobald wir zu Hause waren, rief sie Dad an. Während ich die Treppen zu meinem Zimmer hochging, hörte ich ihre Stimme, die immer höher und höher stieg, je länger sie redete. Sie warf ihm vor, dass er es gewusst, ihr aber verschwiegen hatte. Dass er sie nicht angerufen hatte, bevor er losgefahren war. Und vor allem warf sie ihm vor, dass er nicht hier zu Hause war, wo er eigentlich hingehörte.
Nach einer Weile hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde, und dann war da wieder Mom, die vor sich hinredete. Ich öffnete die Zimmertür und spähte nach draußen. Dad stand im Eingangsbereich, die Hände in die Hüften gestemmt und das Gesicht verzerrt vor Ärger.
Mir fiel auf, dass er Freizeitklamotten trug, was ich seltsam fand, weil Dad normalerweise auch samstags arbeitete. Aber dann entdeckte ich Farbflecken auf seinem Hemd und mir wurde klar, dass er heute anscheinend daheim geblieben war und Brileys Wohnung gestrichen hatte. Damit sie zu ihrer gemeinsamen Wohnung wurde. Leise schloss ich die Tür und lief zum Fenster. Briley saß in dem geparkten Auto und wartete auf ihn.
Wieder hörte ich undeutlich die angespannte Stimme meiner Mutter. Und seine donnernde Erwiderung: »Was hätte ich denn tun sollen?« Er schwieg, dann hob er wieder die Stimme: »Sie zurück in dieses verdammte Krankenhaus bringen, in die Irrenabteilung, das wär das einzig Richtige gewesen. Das mit den Fortschritten ist doch Blödsinn. Was dieser dämliche Nervenarzt erzählt, ist mir scheißegal!« Dann hörte ich, wie die Haustür ins Schloss geworfen wurde. Ich rannte wieder zum Fenster und beobachtete, wie er zu Briley ins Auto stieg und davonfuhr.
Dad war noch nicht lange weg, da merkte ich, wie sich an der Tür etwas bewegte, und drehte den Kopf. Frankie lehnte zögernd im Türrahmen. Er sah irgendwie älter aus, mit seinen kurz rasierten Haaren, in denen Gel glitzerte, in seinem Button-down-Hemd, das lässig über ein Abercrombie-T-Shirt fiel. Sein Gesicht kam mir unnatürlich glatt und unschuldig vor und durch die rosigen Flecken auf seinen Backen wirkte es immer so, als wäre er andauernd verlegen. Vielleicht war er ja wirklich andauernd verlegen. Es wäre kein Wunder bei dem Leben, mit dem er klarkommen musste.
Seit Dads Auszug hatte Frankie mehr oder weniger bei seinem bestem Freund Mike gewohnt. Ich hatte mitbekommen, wie Mom Mikes Mutter erklärte, sie bräuchte ein bisschen Zeit, um mit ihrer Ältesten wieder auf Kurs zu kommen, und sie wisse es sehr zu schätzen, dass sich Mikes Familie so um Frankie kümmerte. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Zeit bei Mike hinter Frankies Veränderung steckte. Mikes Mutter war eine von diesen Supermüttern, die nie im Leben ein Kind mit Stachelhaaren hätten. Und schon gar keins, das in Schulen Amok lief. Frankie war ein braver Junge. Sogar ich konnte das erkennen.
»Hallo«, sagte er. »Alles klar bei dir?«
Ich nickte und setzte mich auf. »Ja, alles klar. Bin nur ein bisschen müde.«
»Wollen die dich wirklich zurück ins Krankenhaus schicken?«
Ich verdrehte die Augen. »Dad lässt nur Dampf ab. Er will bloß seine Ruhe vor mir.«
»Musst du denn zurück? Ich meine, bist du wirklich verrückt oder so?«
Beinah hätte ich laut gelacht. Tatsächlich kicherte ich leise, was mir allerdings im Kopf wehtat. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war nicht verrückt. Zumindest glaubte ich, dass ich es nicht war. »Die sind nur ein bisschen durch den Wind«, sagte ich. »Die kriegen sich schon wieder ein.«
»Na ja, wenn du da hinmusst …«, begann er und unterbrach sich. Mit seinen abgekauten Fingernägeln zupfte er an meiner Bettdecke herum. »Wenn du doch hinmusst, dann schreib ich dir«, sagte er.
Ich wollte ihn in den Arm nehmen. Ihn trösten. Ihm sagen, dass das nicht nötig wäre, weil ich auf gar keinen Fall in irgendeine dämliche Irrenabteilung gehen würde. Dass ich nur Dad aus dem Weg gehen müsste, der sich über kurz oder lang wieder abregen würde. Ich wollte Frankie sagen, dass irgendwann wieder alles in Ordnung wäre mit unserer Familie – dass am Ende sogar alles besser würde.
Aber ich sagte nichts davon. Ich sagte überhaupt gar nichts, denn irgendwie kam mir nichts zu sagen menschlicher vor als all diese Beschwichtigungsversuche. Denn wie hätte ich irgendwas wissen sollen über die Zukunft?
Plötzlich begann Frankie zu strahlen. »Dad besorgt mir ein Quad-Motorrad!«, sagte er aufgekratzt. »Hat er mir gestern Abend am Telefon erzählt. Und er will mit mir los und mir zeigen, wie man damit fährt. Ist das nicht der Hammer?«
»Das ist der Hammer, echt«, sagte ich mit so viel Überzeugung, wie ich aufbringen konnte. Es war super, Frankies Lächeln und seine Aufregung zu sehen, auch wenn ich nicht auch nur eine Minute lang daran glaubte, dass Dad ihm irgendwas kaufen würde. Das wäre so … na ja, so richtig was, was Väter taten … und wir wussten beide, dass Dad kein bisschen väterlich war.
»Du kannst auch mal drauf fahren«, sagte er. »Wenn du, na ja, wenn du auch irgendwann mal mit zu Dad kommst.«
»Danke. Macht bestimmt Spaß.«
Er saß noch eine Weile bei mir herum, schien sich dabei aber total unwohl zu fühlen. Als gute Schwester hätte ich ihm sagen müssen, dass er lieber losziehen und irgendwas tun sollte, was ihm mehr Spaß machte. Aber es war okay, hier mit ihm zu sitzen. Er strahlte irgendwas aus, das mir ein gutes Gefühl gab. Ein hoffnungsvolles Gefühl.
Aber er stand bald wieder auf. »Tja. Ich muss jetzt los zu Mike. Wir gehen heute Abend in die Kirche.« Er zog kurz den Kopf ein, als wäre ihm das mit der Kirche peinlich. Dann ging er zur Tür. »Na ja … bis dann«, sagte er betreten. Und dann war er verschwunden.
Ich sank zurück in meine Kissen und schaute zu, wie die Pferde auf meiner Tapete nirgendwohin liefen. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich würde wieder auf einem von ihnen reiten, so wie ich das als kleines Kind getan hatte. Aber ich brachte es nicht fertig. Ich sah nur Pferde, die scheuten und mich immer wieder abwarfen, sodass ich mit dem Hintern auf den harten Boden knallte. Die Pferde hatten Gesichter – das von Dad, das von Mr Angerson, das von Troy und von Nick. Auch mein eigenes war darunter.
Nach einer Weile drehte ich mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Dabei wurde mir klar, dass es etwas gab, was ich tun musste. Die Vergangenheit konnte ich nicht ändern. Aber wenn ich mich jemals wieder ganz fühlen wollte, musste ich mich von ihr verabschieden. Morgen, sagte ich mir. Morgen ist der Tag dafür.