Frankie und ich hatten am Küchentisch gesessen wie immer, er aß sein Müsli, ich eine Banane, da bemerkte ich die Zeitung, die neben seinem Ellbogen zusammengefaltet auf dem Tisch lag. Erst in dem Moment fiel mir auf, dass ich zum ersten Mal seit meiner Rückkehr nach Hause eine Zeitung erblickte.

»Lass mich mal sehen«, sagte ich und deutete auf die Zeitung.

Frankie warf einen Blick darauf, wurde blass und schüttelte den Kopf. »Mom sagt, du sollst nicht Zeitung lesen.«

»Was?«

Er schluckte sein Müsli runter. »Mom sagt, wir sollen dafür sorgen, dass du die Zeitung nicht siehst und den Fernseher nicht anmachst und so. Und wir sollen auflegen, wenn irgendwelche Reporter am Telefon sind. Aber die rufen jetzt nicht mehr so oft an wie vorher, als du im Krankenhaus warst.«

»Mom will nicht, dass ich die Zeitung sehe?«

»Sie meint, das würde dich wieder traurig machen, wenn du das alles siehst.«

»Das ist doch absurd.«

»Sie muss diese hier vergessen haben. Ich werf sie weg.«

Er schnappte sich die Zeitung und stand auf. Schlingernd erhob ich mich und griff nach ihr. »Nein, das machst du nicht«, sagte ich. »Gib mir die Zeitung, Frankie. Im Ernst. Mom hat keine Ahnung, was sie da redet. Im Krankenhaus hatte ich doch auch den Fernseher an, wenn sie nicht da war. Alles hab ich gesehen. Abgesehen davon, ich war schließlich sogar dabei, als es passiert ist, oder?«

 

Er war schon auf dem Weg zum Abfalleimer, verharrte dann aber kurz. Ich hielt seinem Blick stand.

»Ich bin in Ordnung, Frankie, echt«, sagte ich weich. »Ich werde davon nicht traurig, das versprech ich dir.«

Zögernd hielt er mir die Zeitung hin. »Okay, aber wenn Mom dich fragt …«

»Ja, schon klar, dann sag ich ihr, du hast dich verhalten wie eine Eins. Ich erzähl ihr irgendwas.«

Er nahm sein Geschirr und trug es zur Spüle. Ich ließ mich wieder am Tisch nieder und las den Artikel auf der ersten Seite.

 

SCHULBEHÖRDE SPRICHT VON WACHSENDEM GEMEINSCHAFTSGEFÜHL NACH DEM BLUTBAD

 

Von Angela Dash

Die Schüler der Garvin-Highschool, für die in der letzten Woche der Unterricht wieder begonnen hat, sind nach Aussage von Schuldirektor Jack Angerson mit einer deutlich veränderten Weltsicht und einem neuen Verständnis füreinander zurückgekehrt.

»Falls irgendetwas, das mit dieser Tragödie zusammenhängt, auch nur im Entferntesten als gut bezeichnet werden kann«, sagte er, »dann ist es die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler nun mehr Verständnis füreinander aufbringen und wirklich verstehen, was es mit dem altbekannten Ausdruck ›Leben und leben lassen‹ auf sich hat.«

Angerson zufolge kommt es vor, dass Jugendliche, die sich früher angefeindet haben, nun beim Essen zusammensitzen. Alte Feindseligkeiten werden begraben, da sich die Schülerinnen und Schüler auf eine neue, bewusstere Weise begegnen.

»Insgesamt geht es jetzt viel friedlicher hier zu«, sagt er. »Es gibt erheblich weniger Beschwerden über alltägliche Zwischenfälle als zuvor.« Disziplinprobleme im Unterricht gehörten ebenfalls der Vergangenheit an, berichtet Angerson, nach dessen Prognose disziplinarische Schwierigkeiten auch in den kommenden Jahren an der Schule mit hoher Wahrscheinlichkeit rückläufig sein werden.

»Ich denke, unsere Schülerinnen und Schüler beginnen zu begreifen, dass wir einander alle freundschaftlich verbunden sind. Dass sich gegenseitige Vorwürfe, vorschnelle Meinungsäußerungen und spontane Ablehnung, die so typisch für Jugendliche in diesem Alter sind, letztlich nicht bewähren. Bedauerlicherweise mussten sie dies auf sehr harte Weise lernen. Aber sie haben es gelernt und sich verändert. Darum bin ich sicher, diese Generation wird dafür sorgen, dass die Welt besser wird.«

Die Schülerinnen und Schüler konnten nun in die Schulräumlichkeiten zurückkehren, um das laufende Schuljahr abzuschließen. Allerdings räumt Angerson ein, dass die Lehrplaninhalte derzeit Nachrang haben gegenüber dem, was er als »Schadensbegrenzung« bezeichnet. Die Schulbehörden haben ein Team von ausgebildeten Beratungskräften bereitgestellt, das die Schülerinnen und Schüler bei der Bewältigung der Ereignisse des 2. Mai unterstützt.

Angerson betont, dass niemand zur Rückkehr in die Schule gezwungen ist. Abschlussprüfungen werden in diesem Jahr nicht durchgeführt und die Lehrer klären individuell mit jedem Schüler ab, wie eine Basis für die jeweils erforderliche Notengebung sichergestellt werden kann.

»Einige Lehrer bieten abends bei sich zu Hause Lerngruppen an oder treffen sich mit den jeweiligen Schülerinnen und Schülern in der Bibliothek. Andere haben Online-Lernprogramme eingerichtet. Aber viele Jugendliche sind zurückgekehrt«, schildert Angerson. »Einigen von ihnen ist die Identifikation mit ihrer Schule äußerst wichtig. Sie wollen zeigen, dass sie zur Garvin-Highschool stehen und sich von ihrer Angst nicht unterkriegen lassen. Ehrlich gesagt haben wir uns in erster Linie deshalb für die Wiederaufnahme des Unterrichts entschieden, weil uns dringliche Bitten aus dem Kreis der Schülerinnen und Schüler erreichten.«

Angerson sagt, er sei stolz darauf, dass seine Schülerinnen und Schüler der Garvin-Highschool die Treue halten, und er sei fest davon überzeugt, dass in diesen jungen Menschen zukünftige Führungspersönlichkeiten heranwachsen, die die Gesellschaft positiv beeinflussen werden. »Ich bin unendlich stolz darauf, dass sie die erste Welle einer Bewegung darstellen, die meiner Überzeugung nach eines Tages die Welt verändern wird«, führt Angerson aus. »Falls der Weltfrieden möglich ist, werden es diese jungen Leuten sein, die ihn bewerkstelligen.«

 

Ich schmuggelte den Artikel ins Büro von Dr. Hieler, mit dem ich später am gleichen Tag einen Termin hatte. Er hatte die Tür noch nicht richtig hinter mir zugemacht, da ließ ich ihn schon auf das Tischchen zwischen uns fallen.

»Macht ihn das zu einem Helden, Dr. Hieler?«, fragte ich.

Dr. Hieler überflog die Seite, während er es sich in seinem Sessel bequem machte. »Wen?«

»Nick. Wenn alle, die überlebt haben, jetzt stärker sind als vorher und total erfüllt vom Frieden, wie es in dem Artikel heißt, ist er dann nicht ein Held? So was wie ein John Lennon des 21. Jahrhunderts? Ein Friedensstifter mit einer Waffe?«

»Ich verstehe, dass es leichter für dich wäre, wenn du ihn für einen Helden halten könntest. Aber er hat nun mal etliche Leute umgebracht, Valerie. Es gibt wahrscheinlich nicht gerade viele, die bereit sind, ihn als einen Helden anzusehen.«

»Aber das kommt mir so unfair vor – in der Schule machen sie einfach weiter, sie akzeptieren sich endlich gegenseitig und sind nicht mehr so gemein, aber Nick ist weg. Klar, ich weiß ja, dass er selbst schuld daran ist, aber trotzdem. Warum haben sie das nicht schon vorher kapiert? Warum musste erst das hier passieren? Das ist einfach nicht fair.«

»Das Leben ist nicht fair. Fairness ist was für den Sportplatz – und meistens findet sie nicht mal dort statt.«

»Das ist ein blöder Spruch.«

»Meine Kinder können ihn auch nicht ausstehen.«

Schmollend starrte ich auf den Artikel hinunter, bis mir die einzelnen Wörter vor den Augen verschwammen. »Wahrscheinlich halten Sie mich für bescheuert, weil ich irgendwie ein bisschen stolz auf ihn bin.«

»Nein, aber ich glaube auch nicht, dass du wirklich stolz bist. Ich glaube, du bist stinksauer. Ich glaube, du wolltest, deine Schule hätte ihre Einstellung früher geändert, dann wäre nämlich nichts von alldem passiert. Und es kommt mir so vor, als würdest du nicht wirklich glauben, dass in diesem Artikel die Wahrheit gesagt wird.«

Und zum ersten Mal – und ganz sicher nicht zum letzten – ließ ich Dr. Hieler gegenüber einfach alles heraus. Von dem Tag, an dem wir auf Nicks ungemachtem Bett über Hamlet gesprochen hatten, über die Tatsache, dass ich mir gewünscht hatte, Christy Bruter würde mal so richtig eins reinkriegen für die Sache mit meinem MP3-Player, bis hin zu meinen Schuldgefühlen. Ich erzählte ihm alles, was ich dem Typ von der Polizei an meinem Krankenhausbett nicht hatte sagen können. Was ich Stacey nicht sagen konnte. Und Mom auch nicht.

Vielleicht hatte es damit zu tun, wie Dr. Hieler mich ansah – als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der verstehen konnte, wie alles völlig außer Kontrolle geraten war. Vielleicht war ich inzwischen einfach bereit. Vielleicht lag es an dem Zeitungsartikel. Vielleicht war es aber auch so was wie eine Explosion meines Körpers – vielleicht musste ich einfach Druck ablassen, bevor es mich zerriss.

Ich war wie ein Vulkan, aus dem Fragen, Reue und Wut ausbrachen, und Dr. Hieler stand in diesem Feuersturm wie ein Fels. Er schaute mich aufmerksam an und sprach leise und ausgeglichen mit mir. Ab und zu nickte er düster.

»Meinen Sie, ich hätte es getan?«, rief ich irgendwann aus. »Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, hätte ich dann auf Christy Bruter geschossen? Denn als Nick gesagt hat: ›Lass uns das hier durchziehen‹, hab ich gedacht, er will sie, keine Ahnung, mit Worten fertigmachen, sie richtig verprügeln oder so, und da hab ich mich total gut gefühlt. Irgendwie erleichtert. Ich wollte, dass er das für mich erledigt.«

»Das ist normal, findest du nicht? Dass du dich gefreut hast, weil Nick sich für dich einsetzen will, heißt doch nicht, dass du auch eine Knarre gezückt und auf sie geschossen hättest?«

»Ich war so was von wütend. Sie hat meinen MP3-Player kaputt gemacht. Mann, ich war echt stinkwütend.«

»Auch normal. Ich wäre an deiner Stelle genauso wütend gewesen. Wütend sein ist nicht dasselbe wie schuldig.«

»Es hat mir so gutgetan, dass er auf meiner Seite ist, echt.«

Er nickte.

»Ich hatte Angst, er will mit mir Schluss machen, darum hat es sich echt gut angefühlt, dass er sich so für mich einsetzt. Es hat mir Halt gegeben. Ich hab geglaubt, mit uns würde alles gut. An die Hassliste hab ich überhaupt nicht gedacht.«

Wieder nickte er und seine Augen zogen sich immer mehr zusammen, je mehr ich mich aufregte.

Seine Worte schwebten sanft in der Luft zu mir herüber und hüllten mich ein. »Valerie, du hast nicht auf sie geschossen und du bist auch nicht schuld an diesem Schuss. Es war Nick. Nicht du.«

Ich sank zurück in die Sofakissen und nahm einen Schluck von meiner Cola. Jemand klopfte an die Tür und gleich darauf streckte Dr. Hielers Sekretärin den Kopf herein.

»Ihr Drei-Uhr-Termin ist da«, sagte sie.

Dr. Hieler wandte seine Augen nicht von mir. »Sagen Sie ihm, dass sich bei mir heute alles ein bisschen nach hinten verschoben hat«, sagte er. Seine Sekretärin nickte und verschwand. Nachdem sie weg war, wurde mir die Stille bewusst, die sich zwischen uns im Raum ausdehnte. Ich konnte hören, wie im Vorzimmer eine Tür geschlossen wurde und wie jemand draußen im Flur redete. Ich war verlegen, fühlte mich nackt und konnte kaum glauben, dass ich eben wirklich alles einfach so rausgelassen hatte. Ich wollte mich wegschleichen und Dr. Hieler nie mehr ins Gesicht sehen müssen, wollte mich in mein Zimmer verkriechen und die Pferde auf der Tapete dazu bringen, mich irgendwohin zu entführen, mich wegzubringen an einen Ort, an dem ich mich nicht so verletzlich fühlte.

Aber dann ging mir auf, dass ich noch nicht fertig war – auch das mit einem gewissen Entsetzen, auch wenn ich nun vergleichsweise ruhig blieb. Da war noch mehr. Es gab dunklere, hässlichere Dinge, zu denen ich mich vorwagen musste. Dinge, die mich nachts heimsuchten, mich nicht in Ruhe ließen, wie ein Kitzeln im Ohr, ein juckender Fleck, der nicht genau auszumachen war und an dem ich mich nicht kratzen konne.

»Was ist, wenn ich es damals nicht ernst gemeint habe, aber jetzt vielleicht doch?«, fragte ich.

»Was denn ernst gemeint?«

»Die Hassliste. Kann doch sein, dass ich gedacht habe, ich wollte nicht, dass diese Leute sterben, aber irgendwo, keine Ahnung, im Unterbewussten, wollte ich es doch. Vielleicht hat Nick das gemerkt. Vielleicht hat er etwas über mich gewusst, das nicht mal ich selbst wusste. Vielleicht haben es alle gewusst und das ist der Grund, warum sie mich so furchtbar hassen – weil ich mich verstelle. Ich tue so, als wäre ich jemand, der ich gar nicht bin. Erst fange ich mit dieser blöden Liste an und dann lass ich Nick die Drecksarbeit erledigen. Darum, ich weiß ja nicht – vielleicht sollte ich jetzt doch ernst damit machen. Vielleicht würden sich dann alle besser fühlen.«

»Keiner würde sich besser fühlen, wenn noch mehr Leute sterben – du am allerwenigsten.«

»Die erwarten das von mir.«

»Na und? Wen kümmert, was sie erwarten? Was erwartest du von dir? Darauf kommt’s an.«

»Aber das ist es ja gerade, ich weiß nicht, was ich von mir erwarten soll! Alles, was ich überhaupt je erwartet habe, hat am Ende zu einem Haufen Scheiße geführt. Und ich glaube, die Leute sind enttäuscht, dass ich nicht tot bin. Christy Bruters Eltern denken mit Sicherheit, ich hätte mich auch erschießen sollen, genau wie Nick. Die wünschen sich doch, Nick hätte besser gezielt, als er auf mich geschossen hat.«

»Sie sind Eltern und außerdem tief verletzt. Trotzdem bezweifle ich, dass sie dir den Tod wünschen.«

»Aber vielleicht wünsche ich ihr ja den Tod. Vielleicht gibt es einen Teil von mir, der schon immer gewollt hat, dass sie stirbt.«

»Val …«, sagte Dr. Hieler und sein Zögern machte mir klar: Wenn du nicht aufhörst, so daherzureden, habe ich keine Wahl, dann muss ich dich wieder mit Dr. Dentley in der Psychiatrie einsperren lassen. Ich kaute auf meiner Lippe. Eine Träne lief mir die Wange hinunter und nicht zum ersten Mal sehnte ich mich so sehr nach einer Umarmung von Nick, dass es wehtat.

»Es ist nur so, ich fühl mich wie ein total schlechter Mensch, weil ich mir sogar jetzt noch manchmal wünsche, er wäre nur im Gefängnis, damit ich ihn wiedersehen könnte«, sagte ich. Auf einmal überkam mich wieder die Erinnerung daran, wie Nick mich in seinem Zimmer an den Handgelenken gepackt, mich auf den Boden gedrückt und mir gesagt hatte, auch wir könnten manchmal gewinnen. Und wie er sich vorgebeugt und mich geküsst hatte. Ich saß auf dem Sofa und fühlte mich verlorener als jemals zuvor. Mir war auch kälter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und es kam mir so vor, als wäre von all dem Grauenhaften, was passiert war, das hier das Allerschlimmste. Und das war es tatsächlich, denn egal was passiert war, ich vermisste Nick immer noch. Auch wir können manchmal gewinnen, hatte er mir erklärt, und als ich diese Worte in meinem Kopf wieder hörte, fing ich an zu weinen, kläglich und voll Schmerz. Dr. Hieler setzte sich neben mich aufs Sofa und legte mir die Hand auf den Rücken. »Ich bin so traurig ohne ihn«, schluchzte ich und nahm ein Taschentuch aus Dr. Hielers Hand. »Ich bin so traurig.«