Jessica Campbells Zuhause roch nach Vanille. Es war blitzsauber, genau wie der Minivan, mit dem uns ihre Mutter abgeholt hatte, und die Farben erinnerten mich an Werbespots: strahlendes Lavendelblau, verschiedene Grüntöne, die an Weinreben erinnerten, und dazu ein Sonnengelb, das in den Augen wehtat, wenn man zu lange hinsah.
Wir saßen um den Küchentisch – Jessica, Meghan, Cheri Mansley, McKenzie Smith und ich – und aßen Laugenbrezeln, die Jessicas Mutter selbst gebacken hatte, extra für uns, als Snack nach der Schule. Sie lagen auf einer ovalen Platte, auf die in verschnörkelter Schrift das Vaterunser aufgemalt war, und dazu gab es kleine Glasschälchen mit Senf, Barbecue-Sauce und geschmolzenem Käse.
Jessica und Cheri unterhielten sich darüber, wie jemand Doug Hobson irgendwann diese Woche nach dem Leichtathletiktraining die Hose runtergezogen hatte. Sie lachten und futterten ihre Brezeln derart unbekümmert, dass ich mich fühlte wie im Kino, als würde ich sie auf der Leinwand sehen. Meghan und McKenzie waren in einen Zeitschriftenartikel über die neuesten Trendfrisuren vertieft. Ich saß am anderen Ende vom Tisch und nagte still an meiner Brezel.
Jessicas Mutter stand an der Spüle, strahlte ihre Tochter an und lachte jedes Mal mit, wenn die Mädchen sich über eine komische Geschichte kaum mehr einkriegen konnten, mischte sich aber nicht ins Gespräch ein. Ich versuchte zu ignorieren, dass ihr Lächeln einfror, wann immer sie einen kurzen Blick in meine Richtung warf.
Nach dem Essen gingen wir hoch in Jessicas Zimmer. Sie machte Musik an, irgendeinen Song, den ich nicht kannte. Die andern vier sprangen sofort auf und tanzten dazu, redeten über die Musik hinweg und quietschten und quiekten in einer Tonlage, zu der meine Stimmbänder gar nicht imstande waren. Ich saß auf dem Bett und schaute ihnen zu, mit einem Lächeln, das mir wie von selbst ins Gesicht gerutscht war. Wenn ich mein Notizbuch dabeihätte, überlegte ich, könnte ich jede von ihnen zeichnen, und zwar ganz genau so, wie sie in diesem Moment war. Bei diesem Gedanken fühlte ich mich endlich wieder wie in der Realität.
Nach einer Weile klopfte Jessicas Mutter an die Tür, öffnete sie nur einen Spaltbreit und lächelte mit perfekten Zähnen ihr Lächeln, das wie aufgemalt wirkte. Das Abendessen sei fertig, meinte sie, also gingen wir nach unten, wo auf der Küchentheke Pizzen standen. Drei verschiedene Sorten, alle selbst gebacken. Der Rand war genau auf die richtige Weise knusprig. Das Gemüse obendrauf war weder zu weich noch zu hart und der Fleischbelag perfekt gegart. Den Rand der Pizzen hatte sie mühevoll mit Knoblauchbutter und Käse gefüllt. Sie sahen fast zu perfekt zum Essen aus.
Unwillkürlich fragte ich mich, was wohl aus Jessicas Mutter geworden wäre, wenn ich mich nicht zwischen Nick und Jessica geworfen hätte. Wenn sie ihr süßes kleines Mädchen verloren hätte. Würde sie dann immer noch perfekte Pizzen backen, den Küchentisch mit Schalen voller Zitronen dekorieren und Kerzen mit Vanilleduft anzünden? Sie wirkte nicht wie jemand, der es in Ordnung fand, wenn auf Leuten herumgehackt wurde. Wusste sie, dass Jessica mich früher Todesschwester genannt hatte? War sie enttäuscht von ihr, weil sie das getan hatte? Enttäuscht von sich selbst, weil das Kind, das sie erzogen hatte, so etwas tat? Und wie hätte sie reagiert, wenn sie meine Mutter wäre? Was hätte sie wohl schwerer verkraftet – den Tod ihrer Tochter oder die Tatsache, dass ihre Tochter möglicherweise auf andere geschossen hatte?
Nach dem Essen quetschten wir uns alle in Jessicas Auto und fuhren los. Ihre Mutter winkte uns von der Haustür aus zu, als wären wir Vorschulkinder, die zum ersten Mal einen Ausflug machten. Die Fahrt hinaus zu Alex dauerte lange und führte über Schotterstraßen. Nach einer Weile erkannte ich nichts mehr um mich herum – wir waren über winzige Nebenstraßen gefahren, von denen ich nie gedacht hätte, dass es sie in der Umgebung von Garvin überhaupt gab.
Alex wohnte in einem riesigen Backsteinhaus, das verborgen hinter einem Wäldchen von Holzapfelbäumen lag. Im Haus selbst brannte kein Licht und im Finstern sah es irgendwie unheilvoll aus, obwohl die Auffahrt mit zig Autos zugeparkt war.
Direkt hinter der Auffahrt führte ein großes, weit geöffnetes Gatter zu einer Wiese. Jessica fuhr durch das Gatter hindurch aufs Gras. Vor uns sah es aus wie auf einem Parkplatz, es wimmelte von Leuten, als käme ganz Garvin zu dieser Party. Jessica stellte ihr Auto neben den anderen ab. Kaum waren wir aus dem Wagen geklettert, hörten wir links von uns dröhnende Bässe. Vor uns lag die Scheune. Durch die weit aufgeklappten Torflügel blitzten wirbelnde bunte Lichter nach draußen auf die Wiese.
Über die Musik hinweg hörten wir Gelächter und die quiekenden Schreie von Mädchen, aber trotz allem hörte man auch noch die Geräusche, die man auf einer Farm erwarten würde: einen Hund, der ein ganzes Stück weit weg bellte, ab und zu das Muhen einer Kuh, quakende Frösche in einem Teich in der Nähe.
Jessica, Meghan, McKenzie und Cheri stürmten sofort auf die Scheune zu, plapperten dabei aufgekratzt und wiegten die Hüften im Rhythmus der Musik. Zögernd folgte ich ihnen, auf den Lippen kauend, mit klopfendem Herzen und Beinen wie aus Blei.
Drinnen in der Scheune war es gerammelt voll und in dem Gedränge verlor ich Jessica und die andern irgendwie. Ich schob mich durch die Menge, so gut ich konnte, und landete schließlich neben einem riesigen Metallkübel voller Eis und Flaschen. Hauptsächlich war Bier darin, aber nach einigem Herumkramen fand ich auch etwas ohne Alkohol und zog es heraus. Seit Nicks Tod hatte ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken und ich wusste nicht, ob ich damit klarkommen würde.
»Willst du nicht lieber so eins?«, rief mir jemand von hinten zu. Ich drehte mich um und sah Josh vor mir stehen, der ein Bier in der Hand hielt. »Das ist hier schließlich eine Party, Mann.«
Er machte einen Schritt nach vorne, nahm mir die Limonadenflasche aus der Hand und warf sie zurück in den Kübel. Dann wühlte er selbst darin herum, zog eine Flasche Bier heraus und drehte den Deckel ab.
»Hier.« Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln, bei dem er seine Zähne zeigte.
Mit zitternden Händen nahm ich das Bier. Ich dachte an Nick. An die Zeiten, als wir zusammen gefeiert hatten. Daran, wie wir uns manchmal die Partys von Leuten wie Jessica oder Josh ausgemalt hatten, nur um uns darüber lustig zu machen. Daran, wie enttäuscht Nick wäre, wenn er mich zusammen mit Josh trinken sähe. Daran, dass es komplett egal war, was Nick denken mochte, weil Nick nicht mehr da war. Und das war ein Gedanke, der alles veränderte. Ich nahm einen großen Schluck.
»Bist du mit Jess gekommen?«, fragte Josh über die Musik hinweg.
Ich nickte und setzte die Flasche noch mal an.
Wir hörten eine Weile lang der Musik zu und betrachteten die Leute um uns herum. Josh trank sein Bier aus und schmiss die Flasche auf einen Haufen Leergut hinter einen Heuballen. Er suchte wieder in dem Kübel herum und schwankte dabei leicht.
Ich nahm noch einen Schluck und war fast überrascht, als ich merkte, dass meine Flasche schon halb leer war. Wärme kroch langsam in meine Arme und Beine. Auch mein Kopf wirkte irgendwie leichter und ich überlegte, dass diese Party vielleicht doch eine super Sache war. Ich trank weiter und begann, meinen Kopf im Takt der Musik zu bewegen.
»Lust zu tanzen?«, fragte Josh.
Mich konnte er nicht meinen, da war ich mir so sicher, dass ich mich umdrehte, um zu sehen, ob jemand hinter mir stand. Bei den Schülerratstreffen hatte mich Josh meistens ignoriert. Und bei der Szene neulich in der Cafeteria hatte er mir auch nicht gerade einen Stuhl hingestellt. Dieser Wechsel kam … so plötzlich.
Er lachte. »Ich mein schon dich«, sagte er.
Da lachte ich auch. Und zwar richtig laut, was mich selbst überraschte. Ich setzte die Flasche noch mal an und stellte fest, dass nichts mehr drin war. Ich warf die leere Flasche schwungvoll hinter den Heuballen, wo sie klirrend aufkam, und angelte mir noch eine aus dem Eis. Josh nahm sie mir aus den Händen, drehte den Deckel ab und reichte sie mir wieder.
»Ich tanz eigentlich nicht mehr«, sagte ich und nahm einen großen Schluck. »Mein Bein …«
Aber als ich nach unten blickte, sah mein Bein genauso aus wie jedes andere Bein. Und mir fiel auf, dass es jetzt, in diesem Augenblick, auch kein bisschen pochte. Ich nahm noch einen großen Schluck.
»Na komm«, sagte er, legte mir den Arm um die Schultern und stützte sich auf mich. »Das merkt doch keiner.«
Ich trank noch mal und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Er roch gut. Nach Duschgel. Nach irgendeinem Männerduschgel, das ich von Nick kannte. An Nick habe ich diesen Geruch geliebt. Und auf einmal wurde die Sehnsucht in mir so riesengroß, dass sie wehtat. Auf einmal war ich so einsam, dass ich mich fühlte wie in einem Käfig. Ich schloss die Augen und legte meinen Kopf in Joshs Arm. Vor meinen geschlossenen Augenlidern waberten Schatten. Ich lächelte, machte die Augen wieder auf und kippte den Rest von meinem Bier runter. Ich schmiss die Flasche weg und schnappte mir seine Hand.
»Worauf warten wir?«, schrie ich. »Lass uns tanzen!«
Ich war verblüfft, wie leicht mir das Tanzen fiel. Wie vertraut es sich anfühlte. Ich konnte mich an Zeiten erinnern, in denen Tanzen zu den Dingen gehörte, die ich am liebsten machte, und durch den Alkohol fiel es mir schwer, in der Realität zu bleiben. Ich dachte daran, wie ich Tausende von Malen in Nicks Armen getanzt hatte, wie ich seinen Atem im Nacken gespürt hatte und er zu mir gesagt hatte: »Du bist der Wahnsinn, weißt du das? Diese Schulpartys sind ja öde, aber immerhin darf ich mit dem großartigsten Mädchen weit und breit tanzen.«
Die Musik wechselte zu einem langsameren Stück und ich ließ es zu, dass Josh mich eng in die Arme nahm. Ich lehnte mich an ihn und schloss die Augen. Das Leder seiner Football-Teamjacke rieb sich an meinem Gesicht und knarrte ein wenig – ein Geräusch, das ich tief in mich einsog, genauso wie seinen Geruch und die raue Oberfläche des Football-Abzeichens, die gegen mein Ohr drückte. Mit geschlossenen Augen konnte ich mir einbilden, ich würde Nicks Lederjacke riechen und spüren, wie einer ihrer Reißverschlüsse an meinem Ohr schabte. Ich würde ihn hören, wie er mir sagt, dass er mich liebt. Dass er mich immer lieben wird.
Einen Augenblick lang war diese Fantasie so stark, dass ich verblüfft war, als ich hoch in seine Augen sah und da Josh war statt Nick.
»Ich glaub, ich sollte mal an die frische Luft oder so«, sagte ich. »Mir ist schwindlig. Ich hab wohl zu schnell getrunken.«
»Klar«, sagte er.
Wir drängelten uns quer durch die Menge bis nach draußen vor die Scheune, wo ein paar Leute rumhingen, knutschten, rauchten oder Arschgrabschen spielten. Wir gingen um die Ecke auf die Seite der Scheune, wo sonst niemand war. Josh setzte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand ins Gras, ich ließ mich neben ihn fallen und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
»Danke«, sagte ich. »Ich hab mich nicht so viel bewegt in letzter Zeit. Bin echt aus der Übung.«
»Macht nichts«, sagte Josh. »Ich wollte sowieso mal Pause machen.« Er lächelte mich an. Ein ehrliches Lächeln. Diese Party war cool. Kein bisschen so, wie Nick und ich uns solche Partys immer vorgestellt hatten.
Auf einmal raschelte es neben uns und drei Jungs platzten aus dem Gebüsch am Rand der Weide. Sie steuerten direkt auf uns zu. Einen von ihnen kannte ich, es war Meghans Bruder, Troy. Die andern waren irgendwelche älteren Typen, die öfter mit Troy rumhingen; ihre Namen kannte ich nicht.
»Hey, was hast du dir denn da angelacht, Joshy?«, sagte Troy und baute sich mit verschränkten Armen direkt vor uns auf. »Machst rum mit der Freundin von diesem Mörder, was? Riskante Sache! Hab mir sagen lassen, Leute wegpusten geilt sie auf.«
Joshs Lächeln ging aus wie eine Glühbirne, wenn man auf den Schalter drückt, und wich einem harten Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. »Mit der? Echt nicht, Mann. Ich pass nur auf sie auf. Für Alex. Ich sorg dafür, dass sie keinen Ärger macht.«
Es überraschte mich beinah selbst, wie weh mir tat, was er da sagte – es war, als hätte er mich gegen die Brust geschlagen, ich spürte es geradezu körperlich. Hatte ich wirklich geglaubt, Josh würde auf mich stehen? Ich war zu dumm gewesen, um zu merken, was wirklich lief. Die alte blinde Val war wieder in Aktion. In meinem Kopf brummte es und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Du dumme Kuh, dachte ich. Val, du bist echt unglaublich blöd.
»Danke, aber ich brauche keinen Babysitter«, sagte ich. Ich strengte mich an, möglichst tough zu klingen und mir keine Blöße zu geben, aber ein Zittern mischte sich in meine Worte und ich musste die Lippen fest zusammenpressen. »Du kannst gehen«, sagte ich, als ich sie endlich wieder voneinander lösen konnte. »Ich wollte sowieso gerade los.«
Troy ging in die Hocke und packte meine Knie mit den Händen. Er starrte mir direkt ins Gesicht und war viel zu nah. »Ja, Joshy, geh du nur. Ich bleib hier bei der Todesschwester.«
»Alles klar«, sagte Josh. Er rappelte sich hoch und war verschwunden. Als er um die Ecke der Scheune bog, sah er mich über die Schulter hinweg ein letztes Mal an. Ich hätte fast schwören können, dass Bedauern in seinem Blick lag, aber ich wagte es nicht, irgendeiner meiner Wahrnehmungen noch zu trauen. Wenn es darum ging mitzukriegen, was jemand dachte, war ich die größte Versagerin auf Erden. Man sollte mir das Wort GUTGLÄUBIG quer über die Stirn schreiben.
»Wenn sie nicht spurt«, sagte Troy und rückte so dicht an mich heran, dass sich mein Haar im Lufthauch seines Atems bewegte, »red ich eben in ihrer eigenen Sprache mit ihr.« Er reckte Daumen und Zeigefinger wie eine Pistole und presste den Finger an meine Schläfe. Wütend versuchte ich, mich von ihm loszumachen.
»Lass mich in Ruhe, Troy«, knurrte ich und wollte aufstehen. Doch er hatte mein Bein fest im Griff, sein kleiner Finger bohrte sich gefährlich nah bei meiner Narbe in meinen Oberschenkel. »Au, du tust mir weh. Lass das.«
»Was ist denn los?«, sagte Troy. »Ohne deinen Freund bist du nicht mehr so hart drauf, was?« Sein Mund war jetzt so dicht an meinem Gesicht, dass Spucketropfen auf mein Ohr trafen. »Alex hat mir erzählt, dass du heute Abend kommst. Anscheinend sind deine neuen Kumpel nicht gerade begeistert, dass du auf ihren Partys aufkreuzt.«
»Alex ist nicht mein Kumpel. Ich bin mit Jessica hier«, sagte ich. »Ist auch egal. Ich geh jetzt sowieso. Lass mich los.«
Seine Finger bohrten sich noch tiefer in mein Bein. »Meine Schwester war in dieser Cafeteria«, sagte er. »Sie hat ihre Freunde sterben sehen wegen dir und deinem Freund, diesem Kotzbrocken. Träumt immer noch schlecht davon. Er hat ja gekriegt, was er verdient hat, aber du, du bist fein raus. Das ist total verkehrt. Du hättest auch sterben sollen an dem Tag, Todesschwester. Jeder wünscht sich das. Guck dich doch mal um. Wo ist Jessica, wenn sie dich angeblich so dringend dabeihaben will? Nicht mal die Leute, mit denen du gekommen bist, wollen mit dir zusammen sein.«
»Lass mich los«, wiederholte ich und zerrte an seinen Fingern. Aber er drückte nur noch fester zu.
»Weißt du, dein Freund ist nicht der Einzige, der weiß, wie man an eine Knarre rankommt«, sagte er. Langsam richtete er sich wieder auf. Er griff in seinen Hosenbund, zog etwas Kleines, Schwarzes heraus und richtete es auf mich. Als das Mondlicht darauf fiel, schnappte ich nach Luft und drückte mich eng an die Scheunenwand.
»War das die Art von Knarre, die dein irrer Freund benutzt hat?«, fragte er und schob die Pistole nachdenklich in der Hand hin und her. Dann zielte er damit auf mein Bein. »Erkennst du sie wieder? Ist gar nicht so schwer, so was aufzutreiben. Mein Dad hat die hier im Keller zwischen den Balken versteckt. Wenn ich wollte, könnte ich Leute verschwinden lassen, genau wie Nick.«
Ich wollte weggucken, wollte mich zwingen, stark zu sein, wollte aufstehen und fortrennen. Aber ich konnte meinen Blick nicht von der Pistole in Troys Hand abwenden und fühlte mich, als hätte ich weder Muskeln noch Knochen. In meinen Ohren begann es zu summen und ich bekam keine Luft mehr. Bilder aus der Cafeteria stürzten auf mich ein. »Hör auf«, stöhnte ich. Tränen traten mir in die Augen, ich wischte sie mit zitternden Fingern weg.
»Lass meine Schwester und ihre Freunde gefälligst in Ruhe«, sagte er.
»Das ist doch öde, Mann«, sagte sein Kumpel. »Komm jetzt, Troy, ich brauch was zum Trinken. Das Ding ist doch nicht mal geladen.«
Troy glotzte mich an und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Er wedelte mit der Pistole in meine Richtung und lachte, als wäre alles ein einziger großer Spaß. »Stimmt«, sagte er zu seinem Kumpel. »Lass uns hier verschwinden.« Er stopfte die Pistole wieder zurück in seinen Hosenbund und die drei machten sich um die Ecke davon, zur Vorderseite der Scheune.
Ich hockte auf dem Boden. Aus meiner Kehle kam ein rauer Ton, kein Weinen und kein Stöhnen, sondern irgendwas dazwischen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als ans Abhauen. Ich kämpfte mich auf die Beine und rannte mit aller Kraft über die Wiese auf eine Straße zu, ohne auf den Schmerz in meinem Oberschenkel zu achten, der mich jedes Mal durchfuhr, wenn ich den Fuß auf den Boden setzte.
Ich rannte in vollem Tempo weiter, bis sich meine Lungen anfühlten, als würden sie sich gleich auflösen. Danach lief ich etwas langsamer weiter, erst über Schotterwege, dann kam ich auf befestigte Straßen und folgte schließlich den Eisenbahnschienen bis zur Hauptstraße. Einmal hielt ich an und blieb auf einem niedrigen Mäuerchen neben einem Teich sitzen, um wieder zu Atem zu kommen und mein Bein kurz auszuruhen. Ich schob mich vor bis zum Rand des Teichs und spritzte mir auf dem Bauch liegend kaltes Wasser ins Gesicht. Dann hockte ich eine Weile lang einfach nur da, während meine Jeans von dem nassen Boden unter mir feucht wurden, und starrte hinauf zum Himmel, der so klar und verheißungsvoll wirkte.
Irgendwann hatte ich es dann geschafft und fand an der Hauptstraße eine Tankstelle. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte Dads Nummer, die ich in meinen Kontakten gespeichert hatte mit dem Gedanken: Ich werd nie dort anrufen. Ich werd ihn überhaupt nie anrufen.
Ich wartete zwei Klingeltöne lang.
»Dad?«, sagte ich. »Kannst du mich abholen?«