»Also, dann erzähl mir mal was über Valerie«, sagte Dr. Hieler bei unserem nächsten Treffen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte ein Bein über die Armlehne.

Ich zuckte mit den Achseln. Sosehr ich es hasste, dass Mom im Moment dauernd um mich war und mir besorgte Blicke zuwarf, jetzt wünschte ich mir, sie wäre für dieses Gespräch hiergeblieben.

»Meinen Sie, warum ich dauernd über Selbstmord geredet habe und über Leute, die ich hasse – Sachen in der Art?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte was über dich hören. Was magst du? Was kannst du gut? Was ist dir wichtig?«

Ich saß wie versteinert da. Es war so lange her, dass jemand irgendwas über mich wichtig gefunden hatte, das nicht in Verbindung mit dem Amoklauf stand. Ich wusste nicht mal, ob es noch etwas anderes über mich gab, das wichtig sein konnte.

»Gut, dann fang ich mal an«, sagte er lächelnd. »Ich hasse Popcorn aus der Mikrowelle. Ich wäre beinah Rechtsanwalt geworden. Und ich kann einen verdammt guten Flickflack. Und du? Erzähl mir was über dich, Valerie. Welche Musik findest du gut? Welche Sorte Eis isst du am liebsten?«

»Vanille«, sagte ich. Ich kaute auf meiner Lippe. »Mhm. Mir gefällt dieser Ballon da.« Ich zeigte zur Decke, wo ein Heißluftballon aus Holz hing, offenbar ein altes Stück. »Der ist so schön bunt.«

Seine Augen folgten meinen. »Ja, ich find ihn auch gut. Teils weil er einfach schön aussieht, aber auch wegen der Ironie. Das Ding ist nämlich tonnenschwer. Aber in diesem Büro kann einfach alles fliegen. Egal, welches Gewicht es mit sich herumschleppt. Sogar Ballons aus Holz können fliegen. Cool, was?«

»Wow«, sagte ich und betrachtete den Ballon. »Das wär mir nie eingefallen.«

Er grinste. »Mir auch nicht. Hat sich meine Frau ausgedacht. Ich tu nur gern so, als wär’s von mir.«

Ich lächelte. Dr. Hieler hatte etwas an sich, das mir ein Gefühl von Sicherheit gab. Ich wollte ihm etwas von mir erzählen. »Meine Eltern hassen sich«, platzte ich heraus. »Zählt das?«

»Nur wenn du findest, dass es das tut«, sagte er. »Was noch?«

»Ich hab einen kleinen Bruder, den ich ziemlich cool finde. Er ist meistens echt nett zu mir. Wir streiten uns nicht so wie andere Geschwister. Ich mach mir irgendwie Sorgen um ihn.«

»Warum machst du dir Sorgen?«

»Weil er mich als Schwester hat. Weil er nächstes Jahr auch auf meine Schule muss. Weil er Nick gut leiden konnte. Mhm. Anderes Thema.«

»Vanilleeis, unglückliche Eltern, cooler Bruder. Okay. Was noch?«

»Ich zeichne gern. Ich meine, wissen Sie, ich mag Kunst.«

»Ah!«, rief er aus und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Jetzt kommen wir weiter. Was zeichnest du gerne?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich hab schon Ewigkeiten nichts mehr gezeichnet. Zuletzt muss ich noch ein Kind gewesen sein. Das war Blödsinn. Ich hab keine Ahnung, warum ich das überhaupt gesagt hab.«

»Ist schon in Ordnung. Also hätten wir Vanilleeis, unglückliche Eltern, cooler Bruder, zeichnet gern oder vielleicht auch nicht. Was noch?«

Ich zerbrach mir den Kopf. Das war viel schwerer, als ich gedacht hatte. »Ich kann keinen Flickflack«, sagte ich.

Er grinste. »Kein Problem. Ich hab gelogen. Ich kann auch keinen. Aber ich stell mir vor, dass es super wäre zu lernen, wie man einen macht, was meinst du?«

Ich lachte. »Ja, bestimmt. Aber im Augenblick kann ich nicht mal gut laufen.« Ich deutete auf mein Bein.

Er nickte. »Mach dir keine Gedanken. Es dauert nicht lange und du rennst wieder. Vielleicht lernst du dann sogar, einen Flickflack zu machen. Man weiß ja nie.«

»Ich bin nicht mehr unter Verdacht«, sagte ich. »Wegen dem Amoklauf, meine ich.«

»Das weiß ich«, antwortete er. »Glückwunsch.«

»Kann ich Sie was fragen?«, sagte ich.

»Klar.«

»Wenn Sie mit Mom reden … in Ihren Gesprächen zu zweit … gibt sie mir die Schuld an allem?«

»Nein«, sagte er.

»Ich meine, erzählt sie Ihnen, wie sehr sie Nick gehasst hat und wie oft sie versucht hat, mich zu überreden, dass ich Schluss mit ihm mache? Sagt sie Ihnen, ich hätte gekriegt, was ich verdient habe, mit meinem Bein?«

Dr. Hieler schüttelte den Kopf. »Sie hat nie irgendwas in der Art gesagt. Sie bringt zum Ausdruck, wie besorgt sie ist. Und sie ist sehr traurig. Sie macht sich Vorwürfe. Sie glaubt, sie hätte besser auf dich achtgeben müssen.«

»Wahrscheinlich will sie, dass Sie Mitleid mit ihr haben und mich hassen, genau wie alle andern.«

»Sie hasst dich nicht, Valerie.«

»Kann sein. Aber Stacey hasst mich«, sagte ich.

»Stacey? Ist das eine Freundin?«, fragte er lässig nebenbei, auch wenn wohl nichts von dem, was Dr. Hieler tat, ohne tieferen Sinn war.

»Ja. Wir sind schon Freundinnen gewesen, als wir noch klein waren. Sie war gestern Abend bei mir.«

»Schön!« Dr. Hieler beäugte mich und strich sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Unterlippe. »Du siehst allerdings nicht besonders froh aus darüber.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Na ja. Es war schon nett, dass sie vorbeigekommen ist. Nur … ach, ich weiß nicht.«

Er ließ den Satz einfach so zwischen uns stehen.

Wieder zuckte ich mit den Achseln. »Ich hab meinem Bruder gesagt, er soll behaupten, ich schlafe, damit sie wieder geht.«

Er nickte. »Wieso?«

»Keine Ahnung. Es ist nur …« Ich rutschte auf dem Sofa herum. »Sie hat nie gefragt, ob ich wirklich in den Amoklauf verwickelt gewesen bin. Sie müsste doch auf meiner Seite sein, meinen Sie nicht? Ist sie aber nicht. Zumindest habe ich nicht den Eindruck. Und sie findet, ich sollte mich entschuldigen. Nicht bei ihr. Aber am besten bei allen andern. Öffentlich oder so was in der Art. Sie meint anscheinend, ich sollte zu jeder Familie hingehen und sie um Vergebung bitten für das, was passiert ist.«

»Und wie findest du das?«

Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Ich wusste nicht, wie ich das fand, ich wusste nur, dass mir immer noch schlecht wurde bei der Vorstellung, all diesen Leuten gegenüberzutreten – den Trauernden, die Gerechtigkeit verlangten, praktisch jedes Mal, wenn ich den Fernseher anmachte, eine Zeitung aufschlug oder mir das Cover einer Zeitschrift ansah.

»Na ja – ich hab Frankie eben gesagt, er soll sie wegschicken«, sagte ich leise.

»Stimmt. Aber du wolltest nicht, dass sie geht«, antwortete er. Unsere Augen trafen sich, dann stand er plötzlich auf, bog den Rücken nach hinten durch und hob die Arme über den Kopf. »Angeblich kommt alles aus den Beinen«, sagte er und ging leicht in die Knie, als wollte er gleich in die Luft springen.

»Was kommt aus den Beinen?«

»Ein guter Flickflack.«