Ich saß auf meinem Bett und bewunderte das knallige Pink, mit dem ich mir gerade die Zehennägel lackiert hatte. Seit ich mir zum letzten Mal meine Nägel pink lackiert hatte, war ewig viel Zeit vergangen, darum hatte ich befürchtet, dass der Nagellack schon längst eingetrocknet wäre. Das Fläschchen war oben ganz verkrustet und der Lack hatte sich in zwei Lagen getrennt, pink unten und klar oben. Er war außerdem viel zu dickflüssig, darum hatte ich ein paar Tropfen Nagellackentferner hineingetan, und auf die Art funktionierte es dann.
Normalerweise war Schwarz meine Farbe. Oder Dunkelblau. Ab und zu auch mal ein Jägergrün oder ein fieses Leichengelb. Aber irgendwann vor langer Zeit war einmal Pink meine Farbe gewesen. Alles war damals pinkfarben. Ich glaube, ich habe es übertrieben mit Pink. Und dann habe ich es übertrieben mit Schwarz. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass ich irgendwann die alte Schachtel mit Nagellack unter dem Waschbecken im Bad hervorgekramt hatte – Nagellack aus der lang vergangenen Ära von Prinzessin Valerie, der Niedlichen, der die Himmelsmächte hold sind. Und dann hatte ich mich darangemacht, mir die Zehennägel in Knallpink anzumalen. Es würde schließlich keinem wehtun, wenn meine Zehen für ein paar Tage pink waren, oder?
Ich wartete immer noch darauf, dass der Lack trocken wurde – ab und zu pustete ich mir auf die Zehen, aber ohne viel Energie dahinter –, als es ganz leise an meiner Tür klopfte.
Ich beugte mich vor und drehte die Musik leiser. »Jaaa?«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Dad steckte den Kopf herein. Mit missbilligendem Gesicht schaute er hinüber zu meiner Anlage, also beugte ich mich vor und stellte sie aus.
»Können wir reden?«, fragte er.
Ich nickte. Er und ich hatten seit der Sache mit Britni/ Brenna in seinem Büro nicht mehr miteinander gesprochen.
Er kam ins Zimmer und bahnte sich so vorsichtig seinen Weg, als wäre der Boden vermint. Mit dem Fuß schubste er einen Haufen T-Shirts weg. Mir fiel auf, dass er Schuhe trug, Turnschuhe. Dazu Jeans und ein Polohemd. Freizeitklamotten zwar, aber trotzdem Sachen zum Weggehen.
Er setzte sich auf den Rand von meinem Bett. Zuerst sagte er nichts, sondern starrte bloß meine Zehennägel an. Ich rollte die Zehen instinktiv ein, doch dann wurde mir klar, dass ich damit wahrscheinlich den frischen Lack ruinierte, also streckte ich sie gleich wieder. Nur einer war verschmiert. Mit dem Daumen wischte ich einen großen Teil des Lacks darauf weg und starrte dann meinen Fuß an, der auf einmal verletzlich und unvollkommen wirkte, mit diesem einen knallpink verschmierten Zeh, der in der Mitte des Nagels aber ganz weiß war. Als hätte ich den Anfang gemacht, schön zu sein, dann aber den Faden verloren.
»Neue Farbe?«, fragte er, was eine total schräge Frage war für Dad. War es vorgesehen, dass Väter den Nagellack ihrer Töchter registrierten? Keine Ahnung, jedenfalls würde mein Vater so was normalerweise nicht merken und allein schon dieser Gedanke war mir nicht geheuer.
»Nein. Eine ganz alte«, erwiderte ich.
»Oh.« Er saß weiter einfach nur da. »Hör mal, Valerie, wegen Briley …«
Briley, dachte ich. Klar. Sie heißt Briley.
»Dad«, setzte ich an, aber er hielt die Hand hoch und bedeutete mir, still zu sein. Ich schluckte. Ein Satz, der mit Hör mal, Valerie, wegen Briley … begann, war alles andere als der Einstieg in ein angenehmes Gespräch. Das war mir klar.
»Hör mir zu«, sagte er. »Deine Mutter …«
Er machte eine Pause. Ein paarmal öffnete er den Mund und schloss ihn dann wieder, als wüsste er nicht weiter. Er schob seine Hände im Schoß herum. Seine Schultern waren zusammengesackt.
»Dad, ich werd Mom nichts erzählen. Du musst das hier nicht tun«, begann ich, aber er unterbrach mich.
»Doch«, sagte er. »Das muss ich.«
Ich blieb still und meine Zehen wurden kalt. Ich behielt sie fest im Blick und stellte mir vor, das Knallpink würde sich wie bei einem Stimmungsring in Purpur oder Eisblau verwandeln. Und vielleicht gehörte das fiese Leichengelb eben doch nicht der Vergangenheit an. Ich fragte mich, wer wohl die eigentliche Betrügerin war, die alte Valerie oder die neue – ein Gedanke, der mir seit dem Amoklauf immer wieder gekommen war. Als könnte ich mich von einem Moment auf den nächsten in eine komplett neue Person verwandeln.
»Ich hab’s erzählt«, sagte er schließlich. »Ich hab ihr alles erzählt. Deiner Mutter.«
Ich sagte nichts. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Antwort es auf diesen Satz geben könnte.
»Sie hat es nicht gut aufgenommen, natürlich nicht. Sie ist sehr wütend. Sie will, dass ich gehe.«
»Oha«, machte ich.
»Falls das wichtig ist für dich: Ich liebe Briley. Und zwar schon sehr lange. Wahrscheinlich werden wir heiraten.«
Es war wichtig für mich. Aber auf eine ganz andere Art, als er es sich erhoffte. Mit finsterem Behagen dachte ich daran, dass ich nun auch ein »Stiefmonster« bekommen würde – ein Ausdruck von Nick für die Männer seiner Mutter. Irgendwie passte das zu meinem Leben. Und es gab mir einen Stich, denn ein Stiefmonster zu haben wäre noch eine Gemeinsamkeit zwischen Nick und mir gewesen.
Eine Weile lang saßen wir schweigend da. Ich fragte mich, was Dad wohl denken mochte und warum er überhaupt hierblieb. Wartete er darauf, dass ich ihm Absolution erteilte? Wollte er mich sagen hören, es wäre in Ordnung so? Hoffte er auf einen großherzigen Satz von mir, mit dem ich Brileys Rolle in meinem Leben akzeptierte?
»Wie lange bist du denn schon mit … mhm … ihr … zusammen?«, fragte ich.
Er runzelte die Stirn und blickte mich direkt an. Ich glaube fast, es war das einzige Mal überhaupt, dass ich meinem Vater direkt in die Augen sah, und die Tiefe, die ich darin erblickte, überraschte mich. Anscheinend hatte ich Dad immer nur eindimensional gesehen: Kein Gedanke, der nicht mit seiner Arbeit zu tun hatte. Keine Gefühle außer Ungeduld und Wut.
»Das ist alles schon lange vor der Sache in der Schule passiert.« Er stieß einen halbherzigen Lacher aus. »In mancher Beziehung hat dieser Amoklauf deine Mutter und mich wieder ein Stück näher zusammengerückt. Er hat es schwer gemacht, sie zu verlassen. Ich habe Briley in den letzten Monaten Millionen Mal das Herz gebrochen. Ich hatte fest vor, im Sommer mit ihr zusammenzuziehen. Wir hatten gehofft, dass wir inzwischen schon verheiratet wären. Aber diese Amokgeschichte …«
Genau wie viele andere sprach er den Rest des Satzes nicht aus, sondern tat so, als würden schon diese Worte allein genügen, um alles zu erklären. Doch ich wusste tatsächlich, was er meinte, auch ohne dass er weitersprach. Der Amoklauf hatte alles verändert. Für alle. Sogar für Briley, die mit unserer Schule überhaupt nichts zu tun hatte.
»Ich konnte Jenny danach einfach nicht allein lassen. Sie hat so viel durchgemacht. Ich respektiere deine Mutter und möchte sie nicht verletzen. Aber ich liebe sie nicht. Nicht so wie Briley.«
»Also machst du’s«, sagte ich. »Du gehst, meine ich.«
Er nickte bedächtig.
»Ja«, sagte er. »Es ist das einzig Richtige. Ich muss gehen.«
Ich hätte mir gewünscht, vor Wut zu toben und mich wild zu wehren gegen all das. Nein, musst du nicht, wollte ich ihn anbrüllen. Das kannst du nicht machen! Aber ich brachte es nicht fertig. Denn in Wahrheit – und das wussten wir beide – war er schon vor langer, langer Zeit gegangen. Nur hatte ich ihn dazu gezwungen zu bleiben, obwohl er eigentlich viel lieber woanders gewesen wäre. Auf verdrehte Weise war auch er ein Opfer des Amoklaufs. Einer von denen, die nicht weggekommen waren.
»Bist du wütend?«, fragte er, was ich total seltsam fand.
»Ja«, sagte ich. Und ich war auch wütend. Ich war mir nur nicht so sicher, ob ich auf ihn wütend war. Aber ich glaube, diesen Teil brauchte er nicht zu hören. Ich glaube, diesen Teil hätte er auch gar nicht hören wollen. Ich glaube, es war ihm wichtig zu hören, dass mir genug an ihm lag, um wütend zu sein.
»Wirst du mir jemals verzeihen?«, fragte er.
»Wirst du mir jemals verzeihen?«, schoss ich zurück und lenkte meinen Blick direkt in seine Augen.
Er starrte eine Weile lang zurück, dann erhob er sich leise und ging Richtung Tür. Er drehte sich nicht um, als er sie erreichte. Er packte nur den Türknauf und hielt ihn fest.
»Nein«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Vielleicht macht mich das zu einem schlechten Vater, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Egal, zu welchem Ergebnis die Polizei gekommen ist, du hast eine Rolle gespielt bei dem Ganzen, Valerie. Du hast die Namen auf diese Liste gesetzt. Du hast meinen Namen auf die Liste gesetzt. Du hast hier ein gutes Leben gehabt. Du magst nicht selbst abgedrückt haben, aber du hast diese Tragödie mit ausgelöst.«
Er öffnete die Tür. »Es tut mir leid. Wirklich.« Er trat in den Flur hinaus. »Ich gebe deiner Mutter meine neue Adresse und Telefonnummer«, sagte er, bevor er sich langsam aus meinem Blickfeld bewegte.