Am nächsten Samstag bettelte ich darum, dass Mom mich nach der Sitzung bei Dr. Hieler in Beas Studio gehen ließ.

»Ich weiß nicht, Valerie«, sagte Mom mit gerunzelter Stirn. »Kunststunden? Ich hab noch nie was von dieser Frau gehört. Ich wusste nicht mal, dass es da ein Studio gibt. Bist du sicher, dass du dort gut aufgehoben bist und nichts passiert?«

Ich verdrehte die Augen. Mom hatte schon seit Tagen schlechte Laune. Es kam mir fast so vor, als würde sie immer misstrauischer mir gegenüber, je mehr ich versuchte, ein normales Leben zu führen. »Ja, klar. Bea ist eine Künstlerin, Mom, weiter nichts. Jetzt komm schon, kannst du mich nicht diese eine Sache einfach mal machen lassen? Du könntest doch in der Zeit nebenan einkaufen gehen.«

»Ich weiß nicht.«

»Bitte! Mom, jetzt komm, du sagst doch immer, ich soll was Normales machen. Kunststunden sind was Normales.«

Sie seufzte. »Na gut, aber ich komm mit dir rein. Ich will mir diesen Laden erst mal genauer angucken. Als ich dich zuletzt habe tun lassen, was du wolltest, hast du dich mit Nick Levil eingelassen, und du weißt ja, wohin uns das gebracht hat.«

»Wie könnte ich das vergessen, du sagst es mir ja jeden Tag«, brummelte ich in mich hinein und verdrehte die Augen. Doch zugleich drückte ich meinen Daumen in die Delle in meinem Oberschenkel, denn wenn ich jetzt pampig würde, dürfte ich wahrscheinlich doch nicht zu Bea.

Zusammen betraten wir das Studio. Als uns die dumpfe, schwere Luft umfing, merkte ich, wie Mom zögerte.

»Was ist das hier?«, fragte sie flüsternd.

»Schhh«, zischte ich, obwohl ich nicht recht wusste, warum ich wollte, dass sie schwieg. Vielleicht hatte ich Angst, Bea könnte sie hören und würde mir am Ende doch nicht erlauben, bei ihr Unterricht zu nehmen. Wer weiß, womöglich verdarb Moms negative Ausstrahlung dieses inspirierende purpurne Morgenlicht?

Ich lief den Gang entlang nach hinten, von wo aus ein musikalisches Klingeln – Glocken, die irgendeinen Rhythmus schlugen – und ein leises Murmeln von Stimmen erklang. Ich sah die Rücken von Leuten, die auf Hockern vor ihren Leinwänden saßen. Auf der einen Seite war eine ältere Frau, die Papier zu komplizierten Formen und Tiergestalten faltete, und unter einem der niedrigen Tische entdeckte ich einen kleinen Jungen, der mit Matchboxautos spielte. Bea, die ihre Haare zu einem glitzernden Berg zusammentoupiert und mit Bändern und kleinen Kugeln geschmückt hatte, beugte sich gerade über einen Spiegel, den sie ringsherum mit Muscheln beklebte. Ich blieb am Ende des Gangs stehen. Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass ich sie falsch verstanden hatte und dass ich eigentlich nicht hier sein sollte. Sie wollte nur nett zu mir sein. Sie hat es gar nicht ernst gemeint, dachte ich. Ich sollte wieder gehen.

Aber bevor ich diesen letzten Satz zu Ende denken konnte, hatte Bea sich aufgerichtet und strahlte mich an.

»Valerie!«, rief sie und breitete die Arme aus. »Meine purpurne Valerie!« Sie klatschte zweimal in die Hände. »Du bist gekommen. Ich hab auf dich gewartet.«

Ich nickte. »Ich dachte, dass ich … mhm … vielleicht Kunststunden bei Ihnen nehmen könnte. Im Malen.«

Sie kam jetzt auf uns zu, doch plötzlich nahm sie überhaupt keine Notiz mehr von mir. Ihr Grinsen wurde zu einem breiten Lächeln, als sie meine Mutter umarmte. Ich sah, wie Mom sich in Beas Umarmung steif machte und wie sich ihr Körper, nachdem Bea ihr ziemlich lange ins Ohr geflüstert hatte, entspannte. Als Bea sie wieder losließ, war Moms finsterer Blick verschwunden, stattdessen sah sie sich neugierig um. Bea war total seltsam, das war klar. Sie war genau die Art von Mensch, die Mom normalerweise für komplett verrückt halten würde, aber ihre exzentrische Art passte so gut zu ihr, dass Mom sogar trotz ihrer schlechten Laune die Waffen streckte.

»Ich freu mich so, Sie kennenzulernen«, sagte Bea zu Mom. Mom nickte und musste kurz schlucken, sagte aber nichts. »Natürlich wirst du mit uns zusammen malen, Valerie. Gleich hier ist eine Staffelei für dich.«

»Wie viel kostet es?«, fragte Mom, öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum.

Bea fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Kostet hauptsächlich Geduld und Kreativität. Dazu Zeit und Übung. Und man muss sich selbst annehmen können. Aber das finden Sie alles nicht in Ihrer Handtasche.«

Mom erstarrte, musterte Bea neugierig und machte die Tasche wieder zu. »Na gut, Valerie, du hast gewonnen. Ich bin dann drüben im Supermarkt. Du hast eine Stunde Zeit«, sagte sie. »Nur eine.«

»Eins ist meine Lieblingszahl«, kicherte Bea. »Und gewinnen, das klingt gut. Am Ende jeden Tages können wir alle sagen, dass wir wieder mal gewonnen haben, stimmt’s? Manchmal ist es ja ein echter Sieg, einfach nur bis zum Ende des Tages durchzuhalten.«

Mom gab keine Antwort darauf, sie ging nur langsam und bedächtig durch den Gang zurück zur Tür. Als sie das Gebäude verließ, fegte eine Brise Parkplatzluft durch das Studio.

Eine Stunde. Nur eine. Gewonnen. Eine Stunde gewonnen. Ich warf die Wörter in meinem Kopf umher.

Ich wandte mich an Bea. »Ich möchte malen«, sagte ich. »Ich muss malen.«

»Dann wirst du malen, das ist klar. Du hast schon den ganzen Tag gemalt, seit du heute Morgen aufgestanden bist.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Hier oben. Du hast gemalt und gemalt. Hast jede Menge Purpur verwendet hier oben. Dein Gemälde ist schon fertig. Du musst es nur noch auf die Leinwand bringen.«

Sie führte mich zu einem Hocker und ich setzte mich hin, gebannt von den Bildern, die die Leute um mich herum auf die Leinwand brachten. Sie waren ganz und gar vertieft in ihre Arbeit. Eine Frau malte eine Schneelandschaft, eine andere legte rotbraune Farbtöne über die Umrisse einer Scheune, die sie vorher mühevoll mit Bleistift skizziert hatte. Ein Mann malte ein Militärflugzeug, er hatte ein Foto als Vorlage an die obere linke Ecke der Leinwand geheftet. Bea eilte geschäftig zu einem Rollwagen und brachte mir eine Palette und Pinsel.

»Gut«, sagte sie. »Am besten beginnst du erst mal mit den Grautönen für die Schattierung. Vielleicht schaffst du heute gar nicht mehr. Du wirst auch ein bisschen Zeit brauchen, damit alles gut trocknen kann, bevor du die prächtigen Farben zum Leuchten bringst.« Sie öffnete einen Tiegel und kippte eine braune, glibberige Masse neben die Farben auf der Palette. »Und vergiss nicht, die Farben mit dem hier zu mischen. Dann trocknen sie schneller.«

Ich nickte, nahm den Pinsel und malte los. Keine Skizze, keine Vorlage. Nur das Bild in meinem Kopf – Dr. Hieler, so wie ich ihn wirklich sah. Ja, da würden Schatten sein in diesem Bild. Aber keine Dunkelheit.

»Hmmm«, sagte Bea über meine Schulter hinweg. »Meine Güte, ja.« Und dann entschwand sie in eine andere Ecke des Studios. Ich hörte, wie sie den anderen in zartem Flüsterton Ratschläge gab, sie behutsam unterstützte. Einmal brach sie in lautes Lachen aus, als ihr ein Schüler erzählte, er hätte am Morgen sein Handy in den Mixer gestopft und auf Pürieren gestellt. Aber ich konnte sie nicht anschauen. Ich konnte überhaupt nicht hochschauen, bis ich im Nacken wieder die Luft von draußen spürte und Moms harte und abgehackt wirkende Stimme hörte, die in einem Ton, der hier im Studio nichts zu suchen hatte, sagte: »Die Zeit ist vorbei, Valerie.«

Als ich aufblickte, war ich überrascht zu sehen, dass Bea direkt neben mir stand und mir ihre Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Die Zeit ist nie vorbei«, raunte sie mir zu und sah dabei nicht mich, sondern die Leinwand an. »Es gibt immer genug Zeit, um Schmerzen zu spüren, und immer genug Zeit zum Heilen. Wie könnte es die Zeit dafür auch nicht geben?«