[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]

 

Christy Bruter, 16 – Bruter, Spielführerin des Softball-Schulteams, war das erste Opfer. Der Schuss auf sie wurde offenbar gezielt abgefeuert. »Er hat sie an der Schulter angerempelt«, berichtet Amy Bruter, die Mutter des Mädchens. »Und als Christie sich umdrehte, hat er nach Auskunft von ein paar Mitschülerinnen gesagt: ›Du stehst schon ewig lang auf der Liste.‹ Sie fragte: ›Auf welcher Liste?‹, und dann hat er geschossen.« Christy Bruter erlitt einen Bauchschuss und hatte nach Auskunft der Ärzte »enorm viel Glück«, dass sie überlebt hat. Die Ermittlungsbehörden haben bestätigt, dass Christy Bruters Name der erste von Hunderten war, die auf der inzwischen berüchtigten ›Hassliste‹ standen, einem roten Spiralheft, das wenige Stunden nach dem Amoklauf bei Nick Levil zu Hause sichergestellt wurde.

 

»Bist du nervös?«

Ich pulte an dem Gummi herum, der sich von meiner Schuhsohle löste, und zuckte mit den Achseln. Durch mich jagten derart viele Gefühle, dass ich am liebsten laut schreiend durch die Straßen gerannt wäre. Trotzdem bekam ich nicht mehr hin als ein Achselzucken. Was im Nachhinein betrachtet wohl sogar gut war. Mom hatte mich an diesem Morgen besonders scharf im Auge. Ein falscher Schritt und sie würde zu Dr. Hieler rennen und das Ganze wie üblich total aufbauschen, und dann wäre wieder das Grundsatzgespräch fällig.

Seit Mai hatten Dr. Hieler und ich dieses Grundsatzgespräch mindestens ein Mal pro Woche geführt. Es lief so ziemlich immer gleich ab.

Er fragte: »Bist du sicher vor dir selbst?«

»Ich werd mich jedenfalls nicht umbringen, falls Sie das meinen«, antwortete ich.

»Ja, das meine ich«, sagte er dann.

»Na ja, ich tu’s nicht. Mom spinnt bloß«, erwiderte ich daraufhin.

Aber wenn ich dann später nach Hause kam, legte ich mich jedes Mal in mein Bett und begann, über das Selbstmordthema nachzudenken.

War ich sicher vor mir selbst? Hatte es womöglich eine Zeit gegeben, in der ich selbstmordgefährdet gewesen war, ohne es selber zu merken? Und dann verbrachte ich, während es in meinem Zimmer nach und nach immer dunkler wurde, Stunden mit der Frage, warum ich verdammt noch mal nicht mit mir selbst klarkam. Die Frage, wer man ist, sollte doch für jeden in der Welt ganz leicht zu beantworten sein, oder? Für mich war die Antwort lange Zeit kein bisschen leicht gewesen. Vielleicht sogar nie.

Es war total beschissen, ich zu sein in einer Welt, in der meine Eltern sich hassten und mir die Schule wie ein Kriegsschauplatz vorkam. Nick war meine Zuflucht gewesen. Er war der eine Mensch, der mich verstand. Dass es ein »Wir« gab, zu dem ich gehörte, tat mir gut – Gedanken und Gefühle zu teilen und den gleichen Kummer zu haben. Aber jetzt fehlte die andere Hälfte dieses Wir, ich lag allein in meinem schummrigen Zimmer und begriff auf einmal, dass ich nicht die geringste Vorstellung hatte, wie ich jemals wieder einfach nur ich selbst sein sollte.

Dann drehte ich mich meistens auf die Seite und starrte die schattigen dunklen Pferde auf meiner Tapete an und träumte davon, dass sie übermütig von der Wand springen und mich weit wegbringen würden, so wie ich mir das als Kind vorgestellt hatte, bloß damit ich nicht mehr über alles nachdenken müsste. Keine Ahnung zu haben, wer du bist, tut nämlich verdammt weh. Und eins wusste ich genau: Ich hatte die Nase gestrichen voll von allem, was wehtat.

Mom beugte sich von ihrem Autositz zu mir herüber und tätschelte mein Knie. »Also, wenn du’s ein Stück weit durch den Tag geschafft hast und mich brauchst, ruf einfach an. Ich bin dann gleich da, okay?«

Ich gab ihr keine Antwort. Der Knoten in meinem Hals war einfach zu heftig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich gleich in denselben Korridoren herumlaufen würde wie die Leute, die ich so gut kannte, die mir inzwischen aber total fremd waren. Leute wie Allen Moon, der direkt in die Kamera geguckt und gesagt hatte: »Valerie sollte lebenslänglich kriegen für das, was sie gemacht hat«, oder Carmen Chiarro, die von einer Zeitschrift zitiert worden war mit dem Satz: »Ich hab keine Ahnung, warum mein Name auf dieser Liste war. Vor dem Amoklauf kannte ich Nick und Valerie nicht mal.«

Dass sie Nick nicht gekannt haben wollte, war immerhin einigermaßen plausibel. Als er im ersten Highschooljahr hierherzog, war er ein stiller, dünner Junge mit miesen Klamotten und fettigen Haaren gewesen. Aber Carmen und ich waren zusammen in die Grundschule gegangen. Es war eine dicke, fette Lüge, wenn sie behauptete, mich nicht zu kennen. Außerdem hing sie immer mit Chris Summers rum, dem selbst ernannten Football-Superstar, und der konnte Nick einfach nicht ausstehen und nutzte jede Gelegenheit, um ihn fertigzumachen. Alle, die näher mit Chris zu tun hatten, fanden es zum Totlachen, wenn er Nick piesackte. Darum war auch ihre Behauptung, Nick nicht gekannt zu haben, alles andere als glaubwürdig. Ob Allen und Carmen heute da sein würden? Ob sie wohl nach mir Ausschau hielten? Hofften sie, ich käme nicht?

»Und du hast ja auch die Nummer von Dr. Hieler«, sagte Mom und tätschelte weiter mein Knie.

Ich nickte.

Wir bogen in die Oak Street ein. Ich kannte den Weg zur Schule im Schlaf. Rechts in die Oak Street. Links auf die Foundling Avenue. Dann links in die Starling. Und dann wieder rechts auf den Parkplatz. Und schon steht man direkt vor unserer Schule, sie ist nicht zu verfehlen.

An diesem Morgen allerdings kam mir alles anders vor. Nie mehr würde diese Mischung aus Aufregung und Schüchternheit zurückkehren, die ich an meinem ersten Schultag hier empfunden hatte. Nie mehr würde ich die Schule mit durchgeknallten Liebesgeschichten, mit Begeisterung und Lachen in Verbindung bringen oder mit etwas, das mir gut gelungen war. Mir würde später nichts von dem einfallen, woran andere Leute im Zusammenhang mit ihrer Highschoolzeit denken. Das war noch etwas, das Nick mir und uns allen an jenem Tag genommen hatte. Er hatte uns nicht nur unsere Unschuld und das Gefühl von Geborgenheit genommen, sondern auch unsere Erinnerungen.

»Du schaffst das«, sagte Mom. Ich wandte den Kopf und blickte zum Fenster hinaus. Delaney Peters lief gerade Arm in Arm mit Sam Hall am Footballfeld entlang. Ich wusste nicht, dass die beiden inzwischen ein Paar waren, und auf einmal bekam ich das Gefühl, ein halbes Leben verpasst zu haben und nicht nur einen Sommer. Normalerweise hätte ich den Sommer am See oder auf der Bowlingbahn verbracht, ich hätte an Tankstellen und in Imbissläden rumgehangen, ich hätte den ganzen Klatsch und Tratsch mitgekriegt und genau gewusst, wer mit wem geht und so weiter. Stattdessen hatte ich mich in meinem Zimmer verkrochen und mir war schon schlecht vor Angst geworden bei der Vorstellung, vielleicht mit meiner Mutter zum Einkaufen zu gehen. »Dr. Hieler ist davon überzeugt, dass du den Tag mit Bravour bestehst.«

»Weiß ich«, sagte ich. Ich lehnte mich vor und mein Magen zog sich zusammen. Auf der Tribüne saßen Stacey und Duce, so wie immer, und neben ihnen hockten Mason, David, Liz und Rebecca. Normalerweise säße ich bei ihnen. Zusammen mit Nick. Wir würden unsere Stundenpläne vergleichen, über die Lehrer lästern, die wir bekämen, und über die wilden Partys quatschen, auf denen wir zusammen gewesen waren. Meine Hände schwitzten. Stacey lachte gerade über eine Bemerkung von Duce und ich fühlte mich plötzlich noch tausendmal mehr wie eine Außenseiterin als vorher.

Als wir in die Auffahrt einbogen, fielen mir sofort die beiden Streifenwagen ins Auge, die direkt neben der Schule parkten. Ich muss laut geschluckt oder das Gesicht verzogen haben, denn Mom sagte sofort: »Das ist jetzt Standard an den Schulen. Eine Vorsichtsmaßnahme. Weil … na ja, du weißt schon. Die haben Angst vor Nachahmern. Die Polizei ist zu deiner Sicherheit da, Valerie.«

Mom hielt in der Kurzparkzone an. Sie nahm die Hände vom Steuer und blickte mich an. Ich versuchte darüber hinwegzusehen, dass ihre Mundwinkel zuckten und sie gedankenverloren an ihrem Daumennagel herumfingerte, und setzte extra für sie ein wackliges Lächeln auf.

»Bis nachher dann«, sagte sie. »Um zehn vor drei bin ich da und warte auf dich.«

»Geht in Ordnung«, sagte ich mit Zwergenstimme. Ich zog am Türgriff. Einen Moment lang schien ich zu schwach zu sein, der Griff rührte sich nicht. Aber dann tat er es doch, was mich enttäuschte, denn das hieß, dass ich aussteigen musste.

»Vielleicht legst du morgen einen Hauch Lippenstift auf oder so«, sagte Mom, als ich mich aus dem Auto schob. Was für ein seltsamer Satz, dachte ich, presste aber aus alter Gewohnheit trotzdem meine Lippen aufeinander. Ich schloss die Autotür und winkte vage in Moms Richtung. Sie winkte zurück und hielt mich mit den Augen fest, bis der Fahrer des Wagens hinter ihr hupte und sie losfahren musste.

Einen Augenblick lang blieb ich wie festgefroren auf dem Gehweg stehen. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es fertigbringen würde, das Gebäude zu betreten. Mein Oberschenkel schmerzte und in meinem Kopf summte es. Alle andern um mich herum wirkten total normal. Ein paar Schüler aus den unteren Klassen liefen an mir vorbei und redeten aufgeregt über das große Fest, das es wie jedes Jahr zum Schulanfang geben würde. Eines der Mädchen kicherte, als ihr Freund seinen Finger in ihre Seite bohrte. Lehrer standen auf dem Gehweg herum und scheuchten die Schüler zum Unterricht. Alles war genauso wie beim letzten Mal, als ich hier gewesen war. Seltsam.

Ich setzte mich in Bewegung, blieb jedoch abrupt stehen, als hinter mir eine Stimme erklang.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Es war, als hätte irgendwer der Welt den Ton abgedreht. Ich drehte mich um und guckte. Stacey und Duce standen Hand in Hand da, Stacey mit offenem Mund, der von Duce dagegen war zu einem säuberlichen kleinen Knoten zusammengezogen. »Val?«, fragte Stacey – nicht so, als sei sie unsicher, ob ich es wirklich war, sondern eher so, als könne sie nicht glauben, dass ich wirklich hier war.

»Hallo«, sagte ich.

David schob sich an Stacey vorbei und umarmte mich. Doch es wirkte steif und er ließ mich gleich wieder los. Dann trat er zurück in die Gruppe und senkte den Blick Richtung Boden.

»Ich hab nicht gewusst, dass du heute wiederkommst«, sagte Stacey. Für den Bruchteil einer Sekunde schossen ihre Augen zur Seite und sie versuchte, im Gesicht von Duce zu lesen. Gleich darauf sah ich, wie sie zu einer exakten Kopie von ihm wurde und ein schiefes, arrogantes Grinsen aufsetzte, das gar nicht zu ihrem Gesicht passte.

Ich zuckte mit den Achseln. Stacey und ich waren schon seit ewigen Zeiten Freundinnen. Wir hatten dieselbe Kleidergröße, mochten die gleichen Filme, hatten lange Zeit ähnliche Klamotten getragen und erzählten die gleichen Lügen. In den Sommerferien hatte es immer wieder Zeiten gegeben, in denen wir unzertrennlich gewesen waren.

Doch es gab einen großen Unterschied zwischen Stacey und mir: Stacey hatte keine Feinde – wahrscheinlich deshalb, weil sie immer darauf achtete, es allen recht zu machen. Sie war absolut anpassungsbereit: Man machte ihr einfach klar, wer sie sein sollte, und dann wurde sie im Handumdrehen haargenau so. Sie gehörte zwar nicht zu denen, die an der Schule immer im Mittelpunkt standen, aber auch nicht zu den Außenseitern und Losern wie ich. Sie hatte es immer hingekriegt, auf der richtigen Seite der Trennlinie zu bleiben und kein bisschen aufzufallen.

Nach dem »Vorfall«, wie mein Vater sich ausdrückte, hatte mich Stacey zweimal besucht. Einmal im Krankenhaus, zu der Zeit, als ich mit überhaupt niemandem gesprochen habe. Und dann noch mal zu Hause, nachdem ich entlassen worden war. Aber da hatte ich Frankie gebeten, ihr vorzumachen, ich würde schlafen. Danach hat sie nie mehr versucht, Kontakt aufzunehmen, und ich habe es auch nicht getan. Ein Teil von mir hatte wohl das Gefühl, ich hätte es nicht verdient, Freunde zu haben. Und sie hätte eine bessere Freundin als mich verdient.

Eigentlich tat sie mir leid. Ihrem Gesicht sah ich an, was in ihr vorging: Sie wünschte sich ganz dringend, wieder da weitermachen zu können, wo wir vor dem Amoklauf gewesen waren, und fühlte sich schuldig, weil sie mich auf Abstand hielt. Aber gleichzeitig, auch das sah ich ihr an, war sie sich hundertprozentig im Klaren darüber, was es für ihr eigenes Image bedeuteten würde, mit mir befreundet zu sein. Wenn ich mich schon allein durch meine Beziehung zu Nick schuldig gemacht hatte, war sie dann schuldig, einfach nur weil sie meine Freundin war? Mit mir befreundet zu sein war total riskant – mehr noch, es war sozialer Selbstmord für jeden hier an der Schule. Stacey würde das nicht verkraften. Sie war einfach nicht stark genug.

»Tut dein Bein weh?«, fragte sie.

»Manchmal schon«, sagte ich und blickte es an. »Immerhin brauch ich damit nicht in Sport. Aber wahrscheinlich werd ich’s auch nie pünktlich zum Unterricht schaffen.«

»Warst du an Nicks Grab?«, fragte Duce. Ich sah ihn scharf an. Er starrte voller Verachtung zurück. »Oder am Grab von sonst irgendwem?«

Stacey stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Lass sie doch. Das ist ihr erster Tag hier«, sagte sie ohne jede Überzeugung.

»Eben, find ich auch«, murmelte David. »Bin jedenfalls froh, dass du okay bist, Val. Wen kriegst du in Mathe?«

Duce unterbrach ihn. »Wieso? Sie kann schließlich laufen. Warum ist sie nie auf dem Friedhof gewesen? Also ehrlich, wenn ich die Namen von all diesen Leuten aufgeschrieben und ihnen den Tod an den Hals gewünscht hätte, dann würd ich doch wenigstens hinterher auf den Friedhof gehen.«

»Ich wollte nicht, dass irgendwer stirbt«, sagte ich, ein kaum hörbares Flüstern. Duce zog die Augenbrauen hoch. »Er war doch auch dein bester Freund, oder?«

Stille lag zwischen uns und mir wurde auf einmal bewusst, dass uns Leute neugierig anschauten. Es ging ihnen nicht um den Streit, den wir hatten, sondern um mich – es war, als hätten sie jetzt erst kapiert, wer ich war. Sie liefen von allen Seiten her langsam an mir vorbei, flüsterten miteinander und glotzten mich an.

Auch Stacey hatte das bemerkt und drehte sich von mir weg.

»Ich muss jetzt los«, sagte sie. »Schön, dass du wieder da bist, Val.« Und dann war sie schon verschwunden. David, Mason und die andern trotteten ihr hinterher.

Duce setzte sich als Letzter in Bewegung. Er drückte sich dicht an mir vorbei und murmelte: »Echt super, ja.«

Ich blieb stehen, wo ich war. In diesem Meer von Leuten, die mich hin- und hertreiben ließen, ohne mich mitzunehmen hinaus auf freie See, fühlte ich mich von allem abgeschnitten. Ich überlegte ernsthaft, einfach hier stehen zu bleiben, bis Mom mich abholen kam.

Da legte sich eine Hand schwer auf meine Schulter.

»Warum kommst du nicht einfach mit mir mit?«, hörte ich eine Stimme in meinem Ohr. Ich wandte mich um und sah direkt in das Gesicht von Mrs Tate, unserer Beratungslehrerin. Sie fasste mich fest an den Schultern und zog mich mit sich. Zu zweit bahnten wir uns einen Weg durch die wogende Menge von Schülern, die hinter uns wieder zu flüstern begannen.

»Ich freu mich, dich heute hier zu sehen«, sagte Mrs Tate. »Bestimmt bist du nervös, oder?«

»Ein bisschen«, antwortete ich, mehr brachte ich nicht heraus, denn sie zog mich so schnell mit sich, dass ich mich ganz aufs Laufen konzentrieren musste. Auf dem Weg zu den Eingangstüren hatte die Panik in meinem Körper überhaupt keine Chance, sich auszubreiten, und ich fühlte mich fast darum betrogen. Hatte ich nicht das Recht, bei meiner Rückkehr in die Schule in Panik zu geraten?

Im Eingangsbereich war die Hölle los. Ein Polizist stand an der Tür und strich mit einem Metalldetektor über Rucksäcke und Jacken. Mrs Tate gab ihm ein Zeichen und führte mich ohne anzuhalten an ihm vorbei.

In den Gängen schien es leerer zu sein als sonst, es kam mir vor, als würden ziemlich viele Schüler fehlen. Sonst war alles wie immer. Leute quatschten miteinander, kreischten rum, Schuhe schabten über die glänzenden Bodenfliesen, die Wände warfen das Echo von zuknallenden Schließfachtüren zurück.

Zielstrebig marschierte Mrs Tate mit mir durch die Gänge und steuerte dann um eine Ecke auf die Cafeteria zu. Urplötzlich packte mich jetzt doch Panik, stieg mir bis in die Kehle, noch bevor mich Mrs Tate in den großen Raum gezogen hatte. Sie schien meine Angst zu spüren, denn sie umklammerte meine Schulter nun regelrecht und machte noch schneller.

Die Cafeteria – der Ort, an dem sich morgens alle trafen und der um diese Uhrzeit normalerweise platzte vor Leuten – war leer bis auf die verlassenen Tische und Stühle. Auf der anderen Seite des Raums, dort, wo Christy Bruter zusammengebrochen war, hatte jemand eine Pinnwand aufgestellt. Aus Tonpapier ausgeschnittene Buchstaben bildeten den Satz WIR ERINNERN UNS, darunter hingen Zettel, Karten, Fotos, Blumen. Ein paar Mädchen – ich konnte sie von hier aus nicht erkennen – befestigten gerade einen Zettel und ein Foto an der Pinnwand.

»Wenn es nötig gewesen wäre, hätten wir die Benutzung der Cafeteria außerhalb der Essenszeiten verboten«, erklärte Mrs Tate, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Schon allein aus Sicherheitsgründen. Aber wie es aussieht, hält sich sowieso niemand mehr freiwillig hier auf. Die Cafeteria wird nur noch in der Mittagspause benutzt.«

Wir durchquerten den großen Raum. Ich versuchte auszublenden, wie meine Füße auf dem Boden in klebrigem Blut herumgerutscht waren. Ich bemühte mich, nur auf das Geräusch von Mrs Tates Schuhen zu achten, die laut und hart auf die Fliesen knallten, und hätte mich zu gern an all die Dinge erinnert, die Dr. Hieler mir in langen Sitzungen beigebracht hatte – Bauchatmung, Fokussieren und so weiter. Aber in diesem Moment war alles weg.

Wir gingen am andern Ende der Cafeteria zu den Verwaltungsbüros. Genau genommen war das hier die Vorderseite der Schule. Auch hier durchsuchten Polizeibeamte Rucksäcke und fuhren mit Metalldetektoren über die Kleidung der Schüler.

»Durch diese ganzen Kontrollen kann der Unterricht morgens natürlich erst später losgehen«, seufzte Mrs Tate. »Andererseits fühlen wir uns so alle sicherer.«

Sie eilte mit mir an den Polizisten vorbei zu den Büroräumen. Die Sekretärinnen blickten uns mit einem höflichen Lächeln im Gesicht an, sagten aber keinen Ton. Ich starrte die meiste Zeit über auf den Boden und folgte Mrs Tate in ihr Büro, in der Hoffnung, ich könnte lange dort bleiben.

Mrs Tates Büro war das genaue Gegenteil von Dr. Hielers. Bei Dr. Hieler war es aufgeräumt, unendlich viele Fachbücher standen ordentlich aufgereiht in den Regalen. Bei Mrs Tate dagegen türmten sich Papierberge, Broschüren und Lernmaterialien wild aufeinander. Auf praktisch jeder freien Fläche lagen Bücher und überall standen Fotos von Mrs Tates Kindern und ihren Hunden herum.

Die meisten Schüler, die zu Mrs Tate kamen, wollten sich über einen Lehrer beschweren oder sich College-Broschüren anschauen, mehr passierte hier in der Regel nicht. Falls Mrs Tate in ihrer Ausbildung darauf spekuliert hatte, dass sie es später mit Heerscharen von verstörten Schülern zu tun haben würde, die alle ihre Hilfe bräuchten, war sie jetzt garantiert enttäuscht. Wobei natürlich die Frage war, ob es überhaupt jemanden geben konnte, der enttäuscht darüber war, dass es zu wenig verstörte Leute in seinem Leben gab.

Sie zeigte auf einen Stuhl mit zerrissenem Kunstlederbezug, auf den ich mich setzen sollte, schlängelte sich an einem kleinen Aktenschrank vorbei und nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz, wobei sie fast hinter Papierstapeln verschwand. Sie beugte sich vor und faltete ihre Hände auf einer fleckigen Papiertüte, in der irgendwann mal Essen gewesen sein musste.

»Ich hab heute Morgen nach dir Ausschau gehalten«, erklärte sie. »Ich finde es gut, dass du wieder in unsere Schule zurückkommst. Ziemlich mutig.«

»Ich versuch’s mal«, murmelte ich und rieb abwesend meinen Oberschenkel. »Ich weiß noch nicht, ob ich bleibe.« Dreiundachtzig Tage und der Countdown läuft, wiederholte ich innerlich.

»Na ja, hoffentlich tust du das. Du bist eine gute Schülerin«, sagte sie. »Ah!«, rief sie plötzlich aus und reckte einen Finger. Sie beugte sich zur Seite und zog mit einem Ruck ein Schubfach aus dem Aktenschrank neben ihrem Schreibtisch. Das gerahmte Foto einer schwarzweißen Katze mit hochgereckten Tatzen schwankte dabei bedenklich und ich überlegte mir, wie oft am Tag Mrs Tate wohl das Foto wieder hinstellen musste, nachdem es umgefallen war. Sie zog eine beigebraune Mappe aus der Schublade und legte sie geöffnet vor sich auf den Schreibtisch, ohne das Schubfach hinterher wieder ganz zuzumachen. »Da fällt mir doch gleich wieder das mit dem College ein. Genau, du hast dir überlegt …«, sie wühlte hektisch in den Unterlagen, »… du wolltest auf die Kansas State, wenn ich mich richtig erinnere.« Sie blätterte weiter, fuhr mit dem Zeigefinger über ein Blatt Papier und sagte: »Ja, genau, hier steht’s ja. Kansas State oder Northwest Missouri State.« Sie klappte die Mappe wieder zu und lächelte. »Ich habe letzte Woche noch mal detailliertere Unterlagen für die beiden Colleges bekommen. Es ist zwar ein bisschen spät, um mit all den Formalitäten anzufangen, aber es sollte schon klappen. Tja, ein paar Punkte in deiner Schülerakte wirst du wohl näher erklären müssen, aber … immerhin hat es kein Verfahren gegeben … also, du weißt schon, was ich meine.«

Ich nickte. Natürlich wusste ich, was sie meinte. Ob das Ganze in meiner Schülerakte auftauchte oder nicht, war allerdings komplett egal, denn ich konnte mir niemanden im ganzen Land vorstellen, der nicht von mir gehört hatte. Ich stand sozusagen in freundschaftlicher Verbindung mit aller Welt. Oder vielleicht eher in feindschaftlicher.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte ich.

»Oh. Du willst auf ein anderes College? Auch kein Problem. Bei deinen Noten …«

»Nein. Ich meine, ich geh gar nicht. Aufs College.«

Mrs Tate beugte sich vor und geriet dabei wieder mit der Hand an die schmuddelige Essenstüte. Sie runzelte die Stirn. »Du willst nicht aufs College?«

»Genau.«

Leise sagte sie: »Hör mal, Valerie. Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst wegen dem, was passiert ist. Und dass du glaubst, du wärst wie er. Aber das bist du nicht.«

Ich richtete mich auf und versuchte, ein möglichst selbstsicheres Lächeln hinzukriegen. Diese Art Gespräch wollte ich heute wirklich nicht führen. »Mrs Tate, das müssen Sie mir nicht sagen«, erklärte ich und berührte wie zur Unterstützung die Tasche meiner Jeans, in der das Foto von mir und Nick am Blue Lake steckte. »Mit mir ist alles okay, echt.«

Mrs Tate hob die Hand und blickte mir direkt in die Augen. »Ich hab manchmal mehr Zeit mit Nick verbracht als mit meinem eigenen Sohn«, sagte sie. »Er war so verzweifelt auf der Suche. Und immer war er wütend. Er gehörte zu denen, die sich harttun mit dem Leben. Der Hass hat ihn aufgefressen, ihn beherrscht.«

Nein, wollte ich ihr entgegenschleudern. Nein, das stimmt nicht. Nick war ein guter Mensch. Ich weiß das.

Auf einmal überkam mich die Erinnerung an einen Abend, an dem Nick unerwartet bei mir zu Hause aufgekreuzt war – genau in dem Moment, als sich Mom und Dad bereit machten für ihre allabendliche Streitorgie. Sie lag schon in der Luft: Mom knallte die Teller in den Geschirrspüler und giftete dabei vor sich hin, Dad tigerte zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her und bedachte Mom mit bösen Blicken. Die Spannung stieg und stieg und ich wurde auf einmal wahnsinnig müde, wie so oft in letzter Zeit. Ich wünschte mir, ich könnte mich einfach in mein Bett verkriechen und morgen woanders aufwachen, in einem anderen Haus, einem anderen Leben. Frankie hatte sich schon in sein Zimmer zurückgezogen und ich fragte mich, ob er wohl genauso müde war wie ich.

Ich war gerade auf dem Weg die Treppe hoch in mein Zimmer, als es an der Tür klingelte. Durchs Fenster neben der Haustür erkannte ich Nick, der von einem Fuß auf den andern trat.

»Ich geh schon!«, brüllte ich meinen Eltern zu und rannte die Treppe wieder runter, aber da der Schlagabtausch inzwischen in vollem Gang war, hörten sie mich sowieso nicht.

»Hey«, sagte ich und machte einen Schritt nach draußen. »Was gibt’s?«

»Hallo«, antwortete er und hielt mir eine CD hin. »Ich hab dir was mitgebracht. Hab ich heute für dich gebrannt. Lauter Songs, bei denen ich an dich denken muss.«

»Das ist so süß von dir«, sagte ich und drehte die CD um. Auf der Rückseite hatte er Titel und Interpreten aufgelistet. »Ich freu mich total.«

Ich hörte, wie hinter mir Dads Stimme näher kam. »Weißt du was, Jenny, vielleicht komm ich demnächst wirklich gar nicht mehr nach Hause, das ist eine gute Idee«, knurrte er. Nick sah zur Tür und wirkte auf einmal verlegen. Aber noch etwas anderes lag in seinem Blick. Mitgefühl vielleicht? Angst? Oder genau die Art von Überdruss, die ich auch spürte?

»Willst du hier weg?«, fragte er und schob die Hände in die Hosentaschen. »Hört sich nicht besonders toll an da drin. Wir könnten doch irgendwas zusammen machen.«

Ich nickte und schob die Haustür hinter mir nur so weit auf, dass ich die CD auf den Flurtisch legen konnte. Nick streckte mir die Arme entgegen, nahm meine Hand und führte mich zu dem freien Gelände hinter unserem Haus. Wir suchten eine Stelle, wo wir uns mit dem Rücken ins Gras sinken lassen konnten, schauten die Sterne an und redeten … über irgendwas, über alles.

»Weißt du, warum wir zwei uns so gut verstehen, Val?«, fragte er mich nach einer Weile. »Weil wir gleich denken. Als hätten wir dasselbe Gehirn. Cool ist das.«

Ich streckte mich und schlang mein Bein um seines. »Ja, echt wahr«, sagte ich. »Scheiß auf unsere Eltern. Scheiß auf ihre gottverdammten Streitereien. Scheiß auf die ganze Welt. Das kann uns doch alles am Arsch vorbeigehen, oder?«

»Stimmt«, sagte er und kratzte sich an der Schulter. »Ich hab ja total lange gedacht, dass nie irgendwer kapieren würde, wie ich wirklich bin. Aber du tust das.«

»Klar.« Ich drehte meinen Kopf und küsste seine Schulter. »Und du weißt, wie ich bin. Fast ein bisschen unheimlich, diese Ähnlichkeit zwischen uns, oder?«

»Unheimlich gut.«

»Genau, unheimlich gut.«

Er drehte sich und stützte sich auf den Ellbogen, damit er mir direkt ins Gesicht sehen konnte. »Es ist so gut, dass wir zwei uns haben«, sagte er. »Weißt du, sogar wenn die ganze Welt gegen dich ist und dich hasst, ist da immer jemand, auf den du dich verlassen kannst. Wir zwei gegen die ganze Welt, nur wir zwei.«

Damals kreisten meine Gedanken nur um die endlosen Streitereien meiner Eltern, daher dachte ich, dass es in unserem Gespräch hauptsächlich um sie ging. Nick wusste ganz genau, was ich gerade durchmachte – er nannte seinen Stiefvater Charles einen »Lebensabschnitts-Stiefvater« und redete über das unberechenbare Liebesleben seiner Mutter, als wäre es ein großer Witz. Ich war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, er könnte tatsächlich uns gegen … die ganze Welt meinen. »Ja. Nur wir zwei«, hatte ich geantwortet. »Nur wir zwei.«

Jetzt starrte ich auf den Teppichboden von Mrs Tates Büro und wie aus dem Nichts packte mich wieder dieses Gefühl, ich hätte Nick überhaupt nicht gekannt. Dieses ganze Gerede von Seelenverwandtschaft wäre komplett schwachsinnig gewesen. In Menschenkenntnis verdiente ich eine glatte Sechs. Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. Was war das bloß für ein selbstmitleidiger Quatsch? Die verhasste Außenseiterin heult über ihren Freund, den Mörder. Ich fand mich selbst widerlich und versuchte, den Kloß wegzuschlucken.

Mrs Tate hatte sich im Stuhl zurückgelehnt, redete aber immer noch. »Valerie, für dich hat es immer eine Zukunft gegeben. Du kannst dir aussuchen, auf welches College du willst. Du hast gute Noten. Nick dagegen hat nie eine Zukunft gehabt. Nicks Zukunft war … das hier.«

Jetzt löste sich doch eine Träne. Ich schluckte und schluckte, aber es nutzte nichts. Was wusste Mrs Tate schon von Nicks Zukunft? Keiner kann die Zukunft vorhersagen. Wenn ich hätte vorhersehen können, was passiert, hätte ich es verdammt noch mal verhindert. Aber das habe ich nicht. Ich konnte es nicht. Ich hätte es aber tun müssen. Das machte mich total fertig. Ich hätte es verhindern müssen. Darum war es jetzt vorbei mit meiner Zukunft am College. Meine Zukunft lag darin, für die ganze Welt das Mädchen zu sein, das alle hasst. So haben mich die Zeitungen genannt: das Mädchen, das alle hasst.

Ich hätte Mrs Tate gern alles erzählt. Aber es war so verdammt kompliziert und beim Nachdenken darüber begann mein Bein zu pochen und das Herz tat mir weh. Ich stand auf und streifte meinen Rucksack über. Mit dem Handrücken fuhr ich mir übers Gesicht. »Ich mach mich mal besser auf den Weg«, sagte ich. »Ich will nicht gleich am ersten Tag zu spät zum Unterricht kommen. Was das College angeht … ich überleg’s mir, okay?«

Mrs Tate seufzte und erhob sich. Sie schob den Aktenschrank richtig zu, kam jedoch nicht hinter ihrem Schreibtisch vor.

»Valerie«, setzte sie an, unterbrach sich dann aber, anscheinend um nachzudenken. »Sieh einfach zu, dass du den Tag gut überstehst, ja? Ich bin froh, dass du wieder da bist. Und die Bewerbungsunterlagen hebe ich für dich auf.«

Ich ging Richtung Tür, wandte mich aber noch mal um, bevor ich sie öffnete.

»Mrs Tate? Hat sich was geändert?«, fragte ich. »Ich meine, sind die Leute jetzt irgendwie anders?« Ich wusste nicht, welche Antwort ich hören wollte. Ja, alle haben gelernt aus der Sache und jetzt sind wir eine große, glückliche Familie, genau wie es in der Zeitung steht. Oder: Hier ist nie einer gemobbt worden. Das hast du dir nur eingebildet, damit haben die Leute schon recht. Nick war verrückt und du bist drauf reingefallen, das war auch schon alles. Deine Wut hatte keinen Grund. Egal wie wütend du warst, es war alles nur in deinem Kopf.

Mrs Tate kaute auf ihrer Unterlippe herum und schien ernsthaft über die Frage nachzudenken. »Die Leute sind, wie sie sind«, antwortete sie schließlich und drehte mit einem hilflosen, traurigen Schulterzucken die Handflächen nach oben.

Von allen Antworten war das wohl die letzte, die ich hören wollte.