Ich bog gerade um die Ecke des Naturwissenschaftstrakts, als Meghan laut meinen Namen rief und hinter mir hergelaufen kam. Ich ging etwas langsamer und warf einen besorgten Blick in die Richtung von Mrs Stones Zimmer, wo gleich das Schülerratstreffen beginnen würde. Widerwillig blieb ich stehen.

»Hey, Valerie, warte auf mich«, rief Meghan und rannte mit wippenden Haaren auf mich zu. »Ich will mit dir reden.«

Normalerweise wäre ich jetzt erst recht weitergelaufen. Meghan hatte unmissverständlich klargemacht, was sie über mich dachte: Sie machte mich verantwortlich für das, was passiert war, also konnte ich davon ausgehen, dass sie nichts Gutes von mir wollte. Aber ich konnte nirgendwohin. Um diese Zeit waren die Gänge hier im Trakt komplett leer. Die Sportler waren beim Training und alle anderen schon auf dem Weg nach Hause.

»Hey«, wiederholte sie, als sie mich endlich erreichte. »Gehst du zum Schülerratstreffen?«

»Ja«, antwortete ich unsicher und kreuzte die Arme schützend vor der Brust. »Jessica hat gemeint, dass ich dabei sein soll.«

»Super, dann komm ich mit dir«, sagte Meghan. Ich sah sie einen Moment lang an, dann ging ich weiter auf Mrs Stones Zimmer zu. Nach ein paar gemeinsamen Schritten sagte sie: »Deine Idee mit der Zeitkapsel gefällt mir. Das wird echt cool.«

»Danke«, sagte ich und wir liefen weiter. Ich kaute nachdenklich auf meiner Lippe herum und sagte dann: »Ich mein das jetzt nicht böse oder so – aber warum redest du mit mir?«

Meghan legte den Kopf schief und überlegte. »Willst du die Wahrheit wissen? Jessica hat gesagt, ich muss nett zu dir sein. Na ja, sie hat nicht wirklich gesagt, ich muss, aber … Sie war sauer auf mich, weil sie findet, dass ich dich ausgrenze, und wir haben uns ziemlich gestritten. Am Ende haben wir uns dann wieder vertragen und so, aber ich habe beschlossen, dass sie vielleicht recht hat. Ich kann’s immerhin mal versuchen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Du bist schließlich nicht gemein oder so. Meistens bist du einfach nur still.«

»Ich weiß oft nicht, was ich sagen soll«, erklärte ich. »Ich bin schon immer still gewesen. Aber früher ist das wohl nicht so aufgefallen.«

Sie warf mir einen Blick zu. »Ja, das stimmt wahrscheinlich«, sagte sie.

Vor uns sahen wir Mrs Stones Zimmer. Drinnen brannte Licht und wir hörten Stimmen, die bis nach draußen in den Korridor drangen. Gelächter schallte durch die Luft. Wir blieben stehen.

»Ich wollte dich was fragen«, sagte Meghan. »Mhm … jemand hat mir erzählt, mein Name hätte auf der Hassliste gestanden. Und ich würde gerne wissen, na ja … warum? Also, die Leute reden ja jetzt viel darüber, dass es den Opfern recht geschieht oder so ähnlich, weil sie, du weißt schon, also weil sie Nick schikaniert haben und so. Aber ich hab euch zwei doch kaum gekannt. Mit Nick hab ich nicht mal geredet.«

Ich presste die Lippen aufeinander und wünschte mir sehnlichst, ich wäre schon drinnen in Mrs Stones Zimmer, mit Jessica als meinem Schutzschild. Genau genommen hatte Meghan recht – wir hatten sie vor dem Amoklauf nicht sonderlich gut gekannt. Wir hatten nie richtig mit ihr geredet und es gab auch nichts, was wir ganz persönlich an ihr auszusetzen hatten. Aber wir fanden trotzdem, dass wir sie gut genug kannten, schließlich wussten wir, mit wem sie befreundet war.

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem Meghans Name auf die Liste kam.

Nick und ich saßen gerade beim Mittagessen, da lief wieder einmal Chris Summers mit seiner Truppe an unserem Tisch vorbei, und wie so oft benahmen sie sich, als würde ihnen persönlich die ganze Cafeteria gehören.

»He, du Vollidiot«, sagte Chris. »Heb das hier mal für mich auf.« Er holte einen Klumpen Kaugummi aus dem Mund und ließ ihn in Nicks Kartoffelbrei fallen. Seine Kumpel brachen in Gelächter aus und klopften sich gegenseitig auf die Schultern.

»O Mann, ist das widerlich …«

»Hey, echt super, Mann.«

»Viel Spaß noch mit deinen Kartoffeln, du Asi.« Dann schlenderten sie ausgelassen zu ihrem Tisch. Ich sah, wie die Wut in Nick hochkochte, seine Augen wurden dunkel und ausdruckslos wie schwarze Löcher und sein Kiefer verkrampfte sich. Er reagierte ganz anders als an dem Kinoabend. Damals hatte er traurig ausgesehen, völlig geschlagen. Jetzt wirkte er stinkwütend. Er stemmte sich vom Tisch hoch.

»Lass doch«, sagte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter. Nick hatte in diesem Monat schon zweimal richtig Ärger gekriegt, weil er sich geprügelt hatte, und Angerson hatte gedroht, ihn beim nächsten Mal für eine Weile vom Unterricht auszuschließen. »Die verdienen’s nicht, dass du Zeit auf sie verschwendest. Hier, nimm einfach meinen.« Ich schob ihm mein Tablett hin. »Ich mag sowieso keinen Kartoffelbrei.«

Er erstarrte, seine Nasenflügel bebten, die Hände hatte er fest gegen den Tisch gepresst. Dann atmete er ein paarmal tief durch und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. »Nein«, sagte er sanft und schob das Tablett wieder zurück in meine Richtung. »Ich hab keinen Hunger.«

Schweigend aßen wir weiter, während ich den Tisch von Chris Summers hinter uns mit vernichtenden Blicken bedachte. Ich merkte mir genau, wer alles an dem Tisch saß – unter anderem Meghan Norris – und wie sie Chris mehr oder weniger anbeteten, als wäre er ein Gott. Und als ich abends nach Hause kam, öffnete ich das Notizbuch und schrieb jeden einzelnen Namen auf.

Damals fand ich das total richtig. Ich habe sie alle so sehr gehasst für das, was sie Nick antaten, was sie mir antaten, was sie uns beiden antaten. Aber jetzt, hier im Gang vor Mrs Stones Zimmer, sah ich es anders. Jetzt, hier im Gang vor Mrs Stones Zimmer, war Meghan nicht mehr so fies. Sie war einfach jemand, der verwirrt war, jemand, der versuchte, alles irgendwie richtig zu machen. Genau wie ich.

»Es hatte nichts mit dir zu tun«, erklärte ich Meghan ehrlich. »Es ging um Chris. Du hast mittags an seinem Tisch gesessen, als er …« Ich verstummte, denn mir wurde plötzlich klar: Egal, wie wütend Nick an diesem Tag gewesen war oder wie gemein Chris sich verhalten hatte – angesichts dessen, was passiert war, würde das gar nichts erklären. Ich verstand es ja selbst kaum mehr. »Es war blöd. Nein, es war falsch.«

Zum Glück streckte Jessica in dem Moment den Kopf aus der Tür und sah uns durchdringend an.

»Ah, hallo«, sagte sie. »Ich hab doch gedacht, dass ich Stimmen höre. Jetzt kommt endlich, wir wollen anfangen.«

Sie verschwand wieder nach drinnen. Meghan und ich standen noch einen Augenblick betreten draußen im Gang herum.

»Tja«, sagte sie schließlich. »Wahrscheinlich ist das jetzt sowieso alles egal, oder?« Sie lächelte – ein etwas gezwungenes Lächeln, aber nicht falsch. Das immerhin wusste ich zu schätzen.

»Kann schon sein«, sagte ich.

»Komm. Wenn wir nicht reingehen, kriegt Jessica einen Anfall.«

Wir betraten Mrs Stones Zimmer und ich hatte zum ersten Mal nicht das Bedürfnis, gleich wieder abzuhauen.