In der Schule gab es so etwas wie versteinerte mexikanische Pizza zum Mittagessen – das fand ich ausgesprochen passend für einen Montag. Montags fühlte ich mich meistens selbst wie versteinerte Pizza, denn da musste ich raus aus dem kleinen, kuschligen Kokon meines Zimmers und rein ins grelle Rampenlicht der Garvin-Highschool.
Vom Samstagvormittag einmal abgesehen war mein Wochenende herrlich ereignislos verlaufen. Mom und Dad redeten aus irgendeinem Grund nicht miteinander und Frankie war zusammen mit einem Freund auf einer Kirchenfreizeit. Eigentlich ging unsere Familie nie in die Kirche, was in den Wochen nach dem Amoklauf immer wieder mal ein Thema in den Medien gewesen war. Aber anscheinend gab es da ein paar Mädchen, die in der gleichen Kirchengemeinde waren wie Frankies bester Freund, und Frankie war wild entschlossen, mit einer von ihnen Zeit allein zu verbringen. Um die Wahrheit zu sagen, wenn Frankie an diesem Wochenende irgendeine Chance hatte, mit einem Mädchen rumzufummeln oder mehr, dann würde er das ohne jedes Kopfzerbrechen tun, Kirchenfreizeit hin oder her. Das fand ich total verkehrt – aber immerhin blieb ihm durch seinen Versuch, auf einer Kirchenfreizeit Sex zu haben, der kalte Krieg daheim erspart.
Für mich war die eisige Atmosphäre zwischen Mom und Dad kein großes Problem – ich blieb einfach die ganze Zeit in meinem Zimmer. Meine Eltern erwarteten auch nichts anderes von mir. Sie holten mich nicht mal mehr zum Abendessen nach unten. Wobei sie wahrscheinlich selbst auch gar nicht richtig zu Abend aßen. Ich schlich mich einfach später in die Küche, wenn alle irgendwo beschäftigt oder unterwegs waren, durchstöberte dort den Kühlschrank und schleppte meine Beute mit in mein Zimmer – wie ein Waschbär, der die Abfalleimer plündert.
Auch am Samstagabend war ich erst nach unten gegangen, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war. Trotzdem saß unten Dad am Küchentisch, über eine Schüssel Cornflakes gebeugt.
»Oh«, sagte ich. »Ich hab gedacht, ihr wärt beide weg.«
»Deine Mutter ist bei irgendeiner Selbsthilfegruppe«, sagte er und starrte weiter in seine Schüssel. »Gibt nichts zu essen in diesem verdammten Haus – nichts außer Cornflakes.«
Ich warf einen Blick in den Kühlschrank. Er hatte recht. Außer einer Packung Milch, ein bisschen Ketchup, einer kleinen Schüssel mit übrig gebliebenen grünen Bohnen und sechs Eiern war praktisch nichts da. »Cornflakes sind schon okay«, sagte ich und nahm die Schachtel vom Kühlschrank herunter.
»Die schmecken total alt«, sagte er.
Ich sah ihn scharf an. Er war unrasiert und seine Augen hatten rote Ränder. Seine Hände waren rissig und zitterten und mir wurde auf einmal klar, dass ich Dad schon ewig lang nicht mehr richtig angeschaut hatte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sehr er sich in letzter Zeit verändert hatte. Er sah richtig alt aus. Irgendwie verbraucht.
»Cornflakes sind okay«, wiederholte ich, etwas leiser als beim ersten Mal, machte den Schrank auf und schnappte mir eine Schüssel.
Ich schüttete Cornflakes hinein und kippte Milch drüber. Ich war schon auf dem Weg nach oben, als er sagte: »Alles in diesem gottverdammten Haus ist alt und abgestanden.«
Ich blieb stehen, mit einem Fuß schon auf der Treppe. »Habt ihr euch wieder gestritten, Mom und du, oder was ist los?«
»Was würde das schon bringen?«, gab er zur Antwort.
»Willst du … soll ich uns eine Pizza bestellen oder so? Zum Abendessen, mein ich.«
»Was würde das bringen?«, wiederholte er. Diesen Satz konnte ich nachvollziehen, darum tappte ich weiter die Treppe hoch in mein Zimmer, wo ich beim Cornflakes-Essen Radio hörte. Er hatte übrigens recht – sie schmeckten wirklich alt.
Ich hatte mir gerade ein Stück von der versteinerten Pizza aufs Tablett getan und war dabei, etwas von dem schleimigen Fruchtcocktail in ein Schälchen zu löffeln, da hörte ich die Stimme von Mr Angerson direkt über meiner Schulter.
»Du hast doch nicht etwa vor, das draußen im Gang zu essen, oder?«, fragte er.
»Na ja, ich denk schon«, sagte ich und machte weiter. »Mir gefällt’s da draußen.«
»Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte. Soll ich schon mal einen Lehrer für den Strafunterricht am Samstag suchen?«
Ich drehte mich um und starrte ihm direkt in die Augen, wobei ich so viel Entschlossenheit in meinen Blick legte, wie ich aufbringen konnte. Aber Angerson machte sich nicht die Mühe, in meiner Miene zu lesen, also sagte ich: »Ja, ich glaub schon.«
Stacey, die vor mir in der Schlange stand, nahm ihr Tablett, machte sich klein und huschte zu ihrem Tisch hinüber. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie etwas zu Duce und Mason und den andern sagte. Alle wandten mir jetzt ihre Gesichter zu. Duce lachte.
»Ich werde auf gar keinen Fall zulassen, dass du hier an der Schule eine weitere Tragödie inszenierst, mein Fräulein«, sagte Mr Angerson zu mir, wobei ihm die Röte den Hals hochstieg. Na prima, erst verleihen sie mir eine Medaille und schicken diesen Brief und reden über Helden und Vergebung, und dann so was. »Es gibt eine neue Richtlinie hier in der Schule, die es verbietet, sich von den anderen abzusondern. Jeder, über den bekannt wird, dass er sich regelmäßig vom Rest der Schülerschaft isoliert, wird strengstens beobachtet. Ich will nicht in die Details gehen, aber in extremen Fällen kann auch ein Schulausschlussverfahren eingeleitet werden. Haben wir uns verstanden?«
Die Schlange, die jetzt bis zur Tür hinaus reichte, bewegte sich um mich herum und alle glotzten, während sie an uns vorbeigingen. Manche grinsten auch eigenartig und flüsterten ihren Freunden etwas über mich zu.
»Ich habe nie irgendwas inszeniert«, antwortete ich. »Und ich tue auch jetzt nichts Unrechtes.«
Er presste die Lippen aufeinander und funkelte mich an, die Röte wanderte nun hinauf bis in sein Gesicht. »Ich möchte, dass du dir genau überlegst, was du tust«, sagte er. »Schon allein aus Achtung vor den Überlebenden in dieser Schule.«
Er ließ das Wort »Überlebende« auf mich fallen wie eine Bombe – und es funktionierte. Das Wort erschütterte mich. Ich hatte das Gefühl, er hätte es absichtlich laut ausgesprochen und alle hätten es gehört. Er drehte sich um und ging weg, ich blieb beim Fruchtcocktail stehen. Mit zittrigen Händen löffelte ich immer mehr davon in mein Schälchen, obwohl sich mein Magen plötzlich anfühlte, als würde ich nie mehr etwas essen können.
Ich bezahlte und trug das Tablett in den Hauptteil der Cafeteria. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarrten, wie ein Haufen Kaninchen, die mitten in der Nacht von einem Licht aufgeschreckt und geblendet werden. Aber ich blickte nach vorne, nur nach vorne, und steuerte hinaus auf den Gang.
Ich hörte, wie Angerson drinnen in der Cafeteria ein paar Jungs einen Vortrag darüber hielt, wo Pommes hingehörten und wo nicht, und wappnete mich für eine zweite Runde der Auseinandersetzung mit ihm. Und tatsächlich hörte ich jetzt Schritte näher kommen.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte er, während ich mich auf den Boden setzte und das Tablett vorsichtig auf meinen Knien abstellte.
Ich machte den Mund auf, um ihm zu antworten, doch da wurde ich durch einen Wirbelwind von Bewegung unterbrochen. Mit einem Tablett in den Händen stürmte Jessica Campbell geschäftig auf den Gang hinaus, fegte um Angerson herum und ließ sich neben mir auf den Boden sinken. Ihr Tablett schepperte aufs Linoleum und sie wand sich aus ihrem Rucksack heraus.
»Hallo, Mr Angerson«, sagte sie aufgekratzt. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Valerie.«
»Jessica«, sagte er und es klang wie eine Frage. »Was tust du hier?«
Sie schüttelte ihre Milchpackung und öffnete sie. »Mit Valerie Mittag essen«, antwortete sie. »Wir haben einiges zu besprechen, für den Schülerrat. Ich hab gedacht, hier könnten wir am besten ungestört reden. Da drin ist es so laut. Da kann man keinen klaren Gedanken fassen.«
Mr Angerson guckte, als wollte er irgendwo reinschlagen. Einen Augenblick lang stand er einfach nur da, dann tat er so, als ob in der Cafeteria etwas los wäre, und wieselte davon, um dort »nach dem Rechten zu sehen«.
Als er verschwunden war, kicherte Jessica leise.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Essen«, sagte sie und biss in ihre Pizza. »Gott, die ist wie aus Stein.«
Unwillkürlich musste ich grinsen. Ich nahm meine Pizza in die Hand und biss hinein. Schweigend saßen wir nebeneinander und aßen. »Danke«, sagte ich mit dem Mund voller Pizza. »Der sucht wie besessen nach einem Grund, mich von der Schule zu schmeißen.«
Jessica wedelte mit der Hand. »Angerson ist echt ein Arsch«, antwortete sie und lachte, als ich mein Notizbuch aufschlug und ein Bild von einem nackten Hintern in Anzug und Krawatte zeichnete.