Nick und ich schoben uns zwischen den Flügeltüren durch. Der Wind packte die Tür auf meiner Seite und knallte sie hinter mir zu. Wie jeden Morgen war die Eingangshalle überfüllt von Schülern, die auf dem Weg zu ihren Schließfächern über ihre Eltern oder ihre Lehrer oder übereinander herzogen. Es wurde laut gelacht und gehässig herumgestänkert, ringsherum schepperten die Türen von Schließfächern – der perfekte Soundtrack für jeden Highschool-Film.

Wir kamen um die Ecke in die Cafeteria, wo sich morgens alle trafen, um zu tratschen. Ein paar Schüler standen am Tisch der Schülervertretung Schlange, um Donuts zu kaufen, andere, die ihre Donuts schon ergattert hatten, hockten mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden und bissen hinein. Cheerleader standen hochgereckt auf Stühlen und hängten Plakate für die nächste Schulversammlung auf. Verliebte Paare hatten sich zum Knutschen in die hinterste Ecke verdrückt. Die Schul-Loser, unsere Freunde, warteten schon auf uns. Sie saßen verkehrt herum auf Stühlen um einen runden Tisch beim Kücheneingang, die Arme auf die Stuhllehnen gestützt. Auch ein paar Lehrer – mutige wie Mr Kline und Mrs Flores, die Kunstlehrerin – kreuzten durch die Menge und versuchten, wenigstens einen Anschein von Ordnung herzustellen. Aber jeder wusste, dass das umsonst war. Ordnung und die Schulcafeteria, das ging einfach nicht zusammen.

Nick und ich blieben stehen, nachdem wir den Raum betreten hatten. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Nick blickte sich mit einem kalten Lächeln im Gesicht überall um.

»Da drüben!«, rief ich und deutete mit dem Finger. »Da ist sie!«

Nick suchte die Gegend ab, in die ich zeigte, und fand sie.

»Die muss ’nen neuen MP3-Player für mich ranschaffen, klare Sache«, sagte ich.

Bedächtig öffnete Nick den Reißverschluss seiner Jacke, zog sie aber nicht aus. »Lass uns das hier durchziehen«, wiederholte er und ich lächelte, weil ich so froh war, dass er sich für mich einsetzte. Auch dass Christy Bruter endlich mal kriegen würde, was sie verdient hatte, freute mich riesig. Das hier war der alte Nick – der Nick, in den ich mich verliebt hatte. Der Nick, der sich allen entgegenstellte, die mir das Leben zur Hölle machten, und der sich nicht unterkriegen ließ, wenn mal wieder einer von den Footballspielern auf ihm herumhackte und ihn in den Dreck ziehen wollte. Der Nick, von dem ich mich verstanden fühlte, der alles über mein beschissenes Familienleben wusste und der kapierte, wie mies es mir in der Schule ging, wo mir Leute wie Christy Bruter andauernd blöd kamen und mir immer wieder klarmachten, dass ich nicht so war wie sie, sondern irgendwie minderwertig.

Sein Blick wirkte auf einmal seltsam, als wäre er ganz weit weg, und er begann sich entschlossen durch die Menge vor mir zu drängen. Er achtete kein bisschen darauf, wo er langging. Er schob sich einfach zwischen den Leuten durch, rempelte sie an, stieß sie aus dem Weg. Ich lief durch ein Meer von wütenden Gesichtern und ärgerlichen Kommentaren hinter ihm her, aber ich ignorierte das alles und blieb ihm so dicht auf den Fersen, wie es ging.

Er war ein paar Schritte früher bei Christy als ich. Ich musste meinen Hals lang machen, um sie über seine Schulter hinweg sehen zu können. Ich spitzte die Ohren, denn ich wollte auf keinen Fall auch nur um einen Sekundenbruchteil verpassen, wie Christy richtig Schiss bekam. Darum weiß ich ganz genau, was ich hörte. Ich höre es immer noch fast jeden Tag.

Er muss Christy angerempelt haben oder so, genau wie sie es im Bus mit mir gemacht hatte. Richtig erkennen konnte ich es nicht, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er mir noch den Rücken zugewandt. Aber ich sah, wie sie nach vorne stolperte und dabei gegen ihre Freundin Willa stieß. Verblüfft drehte sie sich um und sagte: »Was ist dein Problem?«

Inzwischen war ich bei Nick angekommen und stand direkt hinter ihm. Auf den Überwachungsbändern wirkte es, als stünde ich neben ihm, wir beide so dicht beieinander, dass man unsere Körper kaum unterscheiden konnte. Aber in Wirklichkeit war ich einen Schritt hinter ihm und sah über seine Schulter hinweg nicht mehr als den Kopf und die Schultern von Christy.

»Du stehst schon ewig auf der Liste«, sagte er und ich erstarrte. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass er ihr gegenüber die Liste erwähnte. Ich war stinksauer, ehrlich. Diese Liste war unser Geheimnis. Sie gehörte nur uns beiden. Und er hatte ihre Existenz gerade herausposaunt. Wie ich Christy Bruter kannte, würden wir dafür zahlen müssen, und nicht zu knapp. Garantiert würde sie es überall rumtratschen, und dann gab es noch einen Punkt mehr, über den sich die andern das Maul zerrissen. Bestimmt würde sie es auch ihren Eltern erzählen, die sofort bei mir zu Hause anrufen würden, und dann bekäme ich Hausarrest oder so. Vielleicht würden wir sogar für eine Weile vom Unterricht ausgeschlossen und am Ende würde ich wahrscheinlich meine Abschlussprüfungen versauen.

»Was für eine Liste?«, fragte sie, doch dann senkte sie den Blick ein wenig und ihre Augen wurden auf einmal riesengroß. Sie begann loszulachen, auch Willa lachte jetzt, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was sie so komisch fanden.

Und dann war da plötzlich dieser Lärm.

Er traf gar nicht so sehr meine Ohren, sondern bohrte sich direkt in mein Gehirn. Plötzlich war die Welt um mich herum still. Ich stieß einen Schrei aus. Ich muss geschrien haben, auch wenn ich nichts hörte, denn ich merkte, wie sich mein Mund öffnete und wie meine Stimmbänder vibrierten. Ich schloss die Augen und schrie noch mal, wahnwitzig laut, schlang mir instinktiv die Arme um den Kopf und dachte die ganze Zeit über nur: Das ist was Schlimmes, das ist was Schlimmes, das ist was Schlimmes. Mein Körper hatte auf Autopilot geschaltet, um mein Leben zu retten. Mein Gehirn schickte nur noch eine einzige Botschaft: Gefahr! Renn weg!

Ich schlug die Augen auf und streckte den Arm aus, um Nick zu packen, aber er hatte einen Schritt zur Seite gemacht. Statt ihn sah ich auf einmal Christy, mit diesem irre schockierten Gesichtsausdruck. Ihr Mund stand offen, als wollte sie etwas sagen, und sie umklammerte mit beiden Händen ihren Bauch. Die Hände waren voll Blut.

Sie schwankte und kippte nach vorne. Ich sprang weg und sie knallte zwischen mir und Nick auf den Boden. Wie in Zeitlupe blickte ich auf sie hinunter und sah, dass auch ihr Rücken voll Blut war. Und mitten in dem Blut war ein Loch in ihrem Shirt.

»Hab sie erwischt«, sagte Nick und blickte auch zu ihr runter. Seine zitternde Hand umklammerte eine Waffe. »Hab sie erwischt«, wiederholte er. Er machte ein Geräusch, das wie ein Lachen wirkte, hoch und schrill, wohl mehr aus Überraschung als aus irgendeinem anderen Grund. Ich muss glauben, dass es ein überraschtes Lachen war. Ich muss glauben, dass er genauso überrascht war von seiner Tat wie ich. Dass irgendwo tief in ihm, überlagert vom Drogenrausch und seinem besessenen Glauben an Jeremy, noch ein Nick war, der genau wie ich meinte, dass das alles nur eine Art Witz war, eine Fantasie, ein Was-wäre-wenn.

Dann tat es einen Schlag und die Zeit setzte wieder ein. Leute brüllten und rannten weg, verstopften die Ausgänge und stürzten übereinander. Andere standen einfach nur da und guckten amüsiert, als hätte sich gerade jemand einen besonders tollen Spaß erlaubt und sie fänden es schade, ihn verpasst zu haben. Mr Kline schubste Leute aus dem Weg und Mrs Flores brüllte Befehle.

Auch Nick begann, sich durch die Menge zu schieben, und ließ mich allein mit Christy und dem vielen Blut überall. Ich drehte den Kopf und sah Willa direkt in die Augen.

»Mein Gott!«, kreischte irgendwer. »Hilfe! Warum hilft uns keiner?«

Ich glaube, ich bin das gewesen, aber bis heute weiß ich es nicht sicher.