[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]

 

Nick Levil, 17 – Zwar steht durch die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen eindeutig fest, dass Nick Levil die Schüsse abgefeuert hat, doch das Motiv seiner Tat liegt immer noch im Dunkeln. »Er hielt sich zwar eher am Rand, aber er war trotzdem kein Einzelgänger, finde ich«, berichtete seine Klassenkameradin Stacey Banks der Presse. »Er hat eine feste Freundin gehabt und war auch sonst mit vielen befreundet. Manchmal hat er über Selbstmord geredet – ziemlich oft sogar –, aber dass er andere Leute umbringen wollte, hat er nie erwähnt. Zumindest uns gegenüber nicht. Kann sein, dass Valerie etwas davon wusste, aber wir nicht.«

Anhand der Videobänder konnte die Polizei jeden Schritt Levils am Morgen des 2. Mai nachverfolgen, woraus sich ein genaues Bild dessen ergibt, was an diesem Tag in der Schule passiert ist. Nachdem er in der Cafeteria, wo sich zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich Schüler der oberen Jahrgangsstufen aufhielten, das Feuer eröffnet hatte, schoss Levil seiner Freundin, Valerie Leftman, ins Bein und richtete die Waffe dann gegen sich selbst. Ausschnitte des Videos, die das grausige Ende dieses Amoklaufs zeigen, sind im Internet und auf einigen Nachrichtenkanälen öffentlich gemacht worden, was Levils Familie in Aufruhr versetzt hat.

»Es mag sein, dass mein Sohn geschossen hat, trotzdem ist auch er ein Opfer«, erklärte Levils Mutter der Presse. »Ich verachte diese Medienhaie, die zu glauben scheinen, dass das alles meine Familie nicht ohnehin schon zerreißt. Begreifen die nicht, dass es uns das Herz bricht, immer und immer wieder mit ansehen zu müssen, wie sich unser Sohn eine Kugel ins Gehirn schießt?«

Levils Stiefvater fügte unter Tränen hinzu: »Auch unser Sohn ist gestorben. Vergessen Sie das bitte nicht.«

***

 

Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber ich muss mich wohl einfach daran gewöhnt haben, mit Jessica Campbell befreundet zu sein. Das Ende vom Halbjahr kam und ging und wäre mir wahrscheinlich nicht weiter aufgefallen, wenn Dr. Hieler nicht in einer unserer Sitzungen ein Riesentheater darum gemacht hätte.

»Ich hab’s doch gewusst, dass du es bis zum Halbjahresende schaffst«, sagte er selbstzufrieden. »Ich bin verdammt gut, echt!«

»Bilden Sie sich bloß nicht zu viel darauf ein«, zog ich ihn auf. »Schließlich steht noch nicht fest, dass ich nach den Ferien weitermache. Wie können Sie wissen, ob ich nicht doch noch die Schule wechseln will?«

Aber ich machte nach den Ferien weiter, und als ich mich im Januar durch die Eingangstüren schob, war ich lange nicht so angespannt wie an meinem ersten Tag zurück in der Schule.

Anscheinend gewöhnten sich auch die Leute im Großen und Ganzen an die Vorstellung, dass ich wieder da war, wobei garantiert auch die Tatsache half, dass Jessica und ich jeden Mittag zusammen aßen.

Und ich war immer noch bei den Schülerratstreffen dabei. Ich machte inzwischen ein bisschen mehr mit und half sogar dabei, den Raum für Mrs Stones Geburtstag zu schmücken. Das Treffen sollte anders laufen als sonst – wir würden vielleicht fünf Minuten an dem Gedenkstätten-Projekt weiterarbeiten und den Rest der Zeit Kuchen essen und Mrs Stone mit ihrem fortgeschrittenen Alter aufziehen. Es sollte eine Überraschung für sie sein und wir arbeiteten zügig, um die Dekoration fertig zu kriegen, bevor sie von der Aufsicht bei den Schulbussen zurückkam.

»Ich geh auf jeden Fall auf das Justin-Timberlake-Konzert«, verkündete Jessica. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor und brachte ihn damit ins Schwanken. Einen Augenblick lang kippelte sie herum, dann hatte sie wieder einen festen Stand und reckte sich hoch auf die Zehenspitzen. Sie riss ein Stück Klebeband von einer Rolle und befestigte das blaue Krepppapier in ihrer Hand an einem Ziegelstein. »Ihr auch?«

»Nein, meine Mutter lässt mich nicht«, sagte Meghan. Sie hielt das andere Ende des Krepppapiers fest. Jessica warf ihr das Klebeband zu. Als sich Meghan vorbeugte, um es zu fangen, fiel ihr Ende von dem Krepppapier herunter. »Mist!«

»Ich hab’s schon«, sagte ich. Ich humpelte hinüber und schnappte mir das Kreppband, drehte es zu einer Girlande, genau wie Meghan das vorher getan hatte, und hielt es ihr hoch.

»Danke«, sagte sie. Sie ging auf die Zehenspitzen und machte es an der Wand fest. Während sie das tat, blies Jessica einen Luftballon auf, den sie in der Mitte der Kreppbandgirlande aufhängen wollte.

Ich schnappte mir ebenfalls einen Ballon aus der Tüte auf dem Tisch und begann, ihn aufzublasen. Hinter mir waren einige andere dabei, eine Tischdecke auszubreiten und den Kuchen hinzustellen. Josh sprintete gerade in die Cafeteria, um die Getränke zu holen, die Jessicas Mutter vorhin vorbeigebracht hatte.

»Ich würd auch sooo gerne hingehen«, sagte Meghan. »Ich liebe Justin Timberlake.«

»Der ist echt heiß, was?«, meinte Jessica.

Meghan seufzte tief. »Meine Mom lässt mich neuerdings überhaupt nirgends mehr hin. Die ist total paranoid. Mein Dad sagt, sie soll lockerlassen. Er findet, ich soll mich nicht weiter darum kümmern. Aber jetzt redet sie sogar davon, dass ich hierbleiben und aufs städtische College gehen soll, weil sie’s nicht erträgt, dass ich woanders studiere. Als ob ich da wieder in einen Amoklauf gerate. Die braucht ’ne Therapie, echt.«

Ich verknotete den Ballon, den ich gerade aufgeblasen hatte, und zog noch einen aus der Tüte.

»Tja, mein Vater hat mir über einen Kollegen Karten besorgt«, sagte Jessica. »Er ist nach Hause gekommen und hat gesagt: ›Hey, Jess, schon mal von diesem Sänger gehört, Dustin Timberlake oder so? Macht der Country oder was?‹« Wir lachten. »Und ich natürlich: ›Mann, klar, natürlich kenn ich Justin Timberlake!‹, und er: ›Na ja, ich hab zwei Karten für das Konzert, kannst sie haben, aber du musst mit Roddy hin.‹ Jetzt kommt mein Bruder fürs Wochenende von der Uni heim und geht mit mir, was ich okay finde. Roddy ist meistens total in Ordnung.«

»Nie im Leben würden mich meine Eltern zusammen mit Troy zu so was gehen lassen«, sagte Meghan. »Der hängt doch immer mit diesen Versagern rum, Duce Barnes und so. Mit Troy würd ich am Ende nur ’ne Kugel abkriegen, echt.« Ihr Gesicht lief rot an und sie warf einen Blick herunter auf mich.

Ich kannte Troy. Manchmal, wenn Nick gerade nicht da war, hatten Duce und er zusammen rumgehangen. Troy hatte vor drei Jahren seinen Abschluss hier an der Schule gemacht und hatte einen üblen Ruf. Einmal bekam er riesigen Ärger, weil er vor lauter Wut Dellen in eine ganze Reihe von Schließfächern hineingeboxt hatte. Meghan himmelte ihren Bruder an. Aber sie ähnelte ihm kein bisschen.

Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Ich verknotete den Ballon, mit dem ich gerade zugange war, und ließ ihn auf den Boden gleiten. Dann drehte ich mich um, zupfte noch einen aus der Tüte und steckte ihn mir zum Aufblasen in den Mund.

»Gehst du denn zu dem Konzert, Valerie?«, fragte Meghan.

Ich räusperte mich. Ich fühlte mich immer noch nicht so richtig wohl in Meghans Gegenwart und war ziemlich sicher, dass es ihr umgekehrt genauso ging. »Mhm«, sagte ich, erst mal nur um meine Stimme zu testen, die sich viel lässiger anhörte, als ich mich fühlte. »Glaub nicht. Ich hab lebenslänglich Hausarrest oder so ähnlich.«

»Wieso?«, fragte sie. Jessica hüpfte von ihrem Stuhl herunter und half mir mit den Ballons.

»Na ja. Der Amoklauf«, sagte ich. Ich merkte, wie mein Gesicht zu brennen begann.

Meghan warf mir einen forschenden Blick zu, dann sagte sie: »Aber das war doch nicht deine Schuld. Du hast schließlich selbst einen Schuss abgekriegt.«

»Schon, aber meine Eltern sehen das eben anders. Sie reden im Augenblick dauernd von ›fehlendem Urteilsvermögen‹.«

Meghan stöhnte auf. »Das ist total unfair«, sagte sie leise.

Jessica knotete ihren Ballon zu. »Hast du sie denn gefragt, ob du mal ausgehen darfst?«, wollte sie wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Gibt doch sowieso nichts, wo ich hingehen könnte.« Ich zuckte mit den Achseln. Im Hintergrund zankten sich die andern leise darüber, wo die Geburtstagskerzen hin sollten.

»Jess, lad sie doch zur Party von Alex ein«, sagte Meghan. Sie hüpfte von ihrem Stuhl herunter und stellte sich mit etwas Abstand hin, um die Girlande zu bewundern. »Und, wie sieht das aus?«

Jessica stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die Wand. »Ich find’s perfekt. Was meinst du, Val?«

Ich richtete mich auf. »Super.«

Eine Weile lang pusteten wir alle Luftballons auf, dann sagte Jessica: »Also, diese Party, die Meghan meint … da gehen wir alle hin, am Fünfundzwanzigsten. Das wird eine Scheunenparty. Warst du schon mal auf einer?«

Ich schüttelte den Kopf und knotete meinen Ballon zu. »Sie steigt auf der Farm von Alex Gold. Seine Eltern sind zwei Wochen in Irland. Wird wahrscheinlich echt wild.«

»Letztes Mal hab ich meine Schuhe verloren«, fügte Meghan hinzu. »Und irgendwer hat Jamie Pembroke total vollgekotzt. Weißt du noch?« Sie und Jessica lachten. »Du solltest mitkommen, Val«, meinte Meghan. »Es ist ein Wahnsinnsspaß.«

»Ja, mach doch«, sagte Jessica. Sie streckte den Arm aus und stupste mich an. »Hinterher schlafen alle bei mir.«

Ich tat so, als würde ich über die Einladung nachdenken, aber in meinem Kopf schrillten derart laut die Warnglocken, dass ich kaum noch denken konnte. Mit Jessica zu einem Treffen wie diesem hier zu gehen war eine Sache. Oder in der Mittagspause mit ihr im Gang zu sitzen und zu essen. Aber auf eine Party zu gehen, wo es von ihren Freunden nur so wimmelte, war etwas absolut anderes. Ich konnte mir in etwa vorstellen, was die meisten aus ihrer Clique davon halten würden, wenn sie mich dorthin mitbrachte. Und ich konnte mir auch vorstellen, was Nick davon halten würde, wenn ich zu so was hinginge. Damit würde ich auf gar keinen Fall klarkommen.

Aber Jessica sah mich derart ernst und offen an, dass ich einfach nicht Nein sagen konnte, ohne zumindest so zu tun, als würde ich meine Eltern fragen. »Okay«, sagte ich. »Ich versuch’s mal.«

Jessica strahlte und sogar Meghan lächelte ein bisschen. »Super!«

»Was ist denn hier los?«, fragte Mrs Stone, die gerade zur Tür hereingekommen war und sich aus ihrem Mantel wand. Ihre Nase war rot von dem starken Wind, der heute Morgen aus dem Nichts herangefegt war.

»Überraschung!«, riefen wir alle auf einmal und dann brachen Jubelschreie und Gejohle aus.

Mrs Stone sah sich im ganzen Raum um, aber es kam mir vor, als würde ihr Blick besonders lange auf Jessica, Meghan und mir liegen bleiben, wie wir Schulter an Schulter nebeneinanderstanden, lachten und plapperten.

»Was für eine tolle Überraschung!«, sagte sie und wischte sich die Augenwinkel.