Von da an wohnte Frankie unter der Woche bei Dad und kam nur am Wochenende nach Hause. Mom beteuerte, dass es nicht wegen mir wäre. Aber nach der Szene, die er gemacht hatte, fiel es mir schwer, das zu glauben, zumal er gegangen war, ohne sich zu verabschieden. Ich fühlte mich total schuldig ihm gegenüber. Ich hatte Frankie nie wehtun wollen. Ich hatte auch nie gewollt, dass sich sein ganzes Leben nur um mich drehte. Aber anscheinend war das typisch für mich – ich tat Leuten weh, ohne es zu wollen.
Als dann der Frühling richtig ausgebrochen war, trug Frankie seine Haare genauso wie alle andern Fußballspieler und eine Brille vervollständigte seinen glatten, angepassten Look – ein Stil, den ich mir an Frankie früher nie hätte vorstellen können.
Er redete kaum mit mir, abgesehen davon, dass er mir, wenn Mom nicht in der Nähe war, davon erzählte, wie es Dad und Briley ging.
»Dad hat ein neues Auto«, sagte er zum Beispiel oder: »Briley ist total nett, Valerie. Du solltest ihr eine Chance geben. Sie hört gern Punk, echt wahr. Kannst du dir vorstellen, dass sich Mom Punkmusik anhört?«
Ich tat so, als wäre mir komplett egal, was mit Dad und Briley los war. Aber einmal, als Frankie unter der Dusche war, fischte ich mir sein Handy aus seinem Rucksack und guckte alle Fotos durch, die er gespeichert hatte, bis ich Bilder von ihnen fand. Auf dem Boden kauernd glotzte ich sie an, bis mir die Augen brannten.
Die Scheidung war beinahe über die Bühne. Mir fiel auf, dass Moms Anwalt, Mel, trotzdem abends oft vorbeikam und manchmal auch etwas zum Essen oder eine Flasche Wein mitbrachte. Mom schminkte sich an diesen Tagen und saß verzückt mit ihm am Küchentisch, andauernd lachte sie und berührte ihn dabei leicht mit den Fingerspitzen am Unterarm.
Ich konnte den Gedanken kaum ertragen, aber ab und zu fragte ich mich doch, was für eine Art Stiefvater Mel wohl abgeben würde. Irgendwann hatte ich Mom mal darauf angesprochen, sie war rot geworden und hatte nur gesagt: »Ich bin immer noch mit deinem Vater verheiratet, Valerie.« Aber danach hatte sie ganz verträumt gewirkt, hatte unentwegt an ihrer Halskette herumgefummelt und weich vor sich hin gelächelt wie Cinderella am Morgen nach dem Ball.
Obwohl Duce und ich an Nicks Grab sozusagen eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten, änderte das nichts daran, wie wir uns in der Schule begegneten. Wir redeten nicht miteinander. Wir trafen uns morgens nicht an der Tribüne. Und wir saßen in der Mittagspause nicht zusammen. Stattdessen hatte ich Mrs Tate dazu gebracht, dass sie mich in ihrem Büro essen ließ – ich hatte ihr versprochen, mir in dieser Zeit College-Broschüren anzusehen.
Jetzt, gegen Ende des Schuljahres, zog sich der Unterricht unerträglich in die Länge und war total öde. Allein schon zu hören, wie draußen vor den Fenstern die Vögel zwitscherten, bewirkte, dass sich die Stunden des Tages scheinbar vervielfachten und aufeinandertürmten. Alle Arbeit für die Schule wirkte unsinnig, so kurz vor dem Abschluss. Als müsste die verbleibende Zeit eben irgendwie gefüllt werden. Hatten wir nicht sowieso schon alles gelernt, was wir brauchten? Konnten wir nicht einfach zum Spielen nach draußen gehen, wie wir es als Kinder getan hatten? Brauchten nicht auch die Schüler der Abschlussklasse einfach mal freie Zeit?
Der zweite Mai kam und ging ohne allzu viel Aufregung. Morgens gab es eine Schweigeminute, danach wurden die Namen der Opfer über Lautsprecher verlesen, zusammen mit den anderen Ankündigungen für den Tag. Am Abend gab es Gebetswachen in ein paar Kirchen hier in der Gegend. Aber im Großen und Ganzen lebten die Leute einfach ihr Leben weiter. Schon jetzt. Nach nur einem Jahr.
Alle redeten über den Schulabschluss. Über die Partys, die danach steigen sollten. Über die schrecklichen Familienfeiern, die es geben würde. Darüber, was man vorhatte anzuziehen, wie man es fertigbrachte, dass einem während der Feier der Wind nicht den traditionellen Hut vom Kopf wehte, und welcher Streich Mr Angerson gespielt werden sollte.
Es war eine Tradition bei uns an der Schule, dass auf der Abschlussfeier jeder Schüler dem Direktor irgendeine gut zu versteckende Kleinigkeit in die Hand drückte, wenn er einen zum Gratulieren auf die Bühne holte. In einem Jahr waren es Erdnüsse gewesen. Ein andermal Pennymünzen oder kleine Gummibälle. Angerson konnte nicht anders, als das, was man ihm in die Hand drückte, in seinen Taschen zu verstauen, und am Ende der Zeremonie beulten dann siebenhundert Gummibälle oder Münzen oder Erdnüsse seinen Anzug aus. Einem Gerücht nach hätten es in diesem Jahr Kondome sein sollen, aber die Cheerleader waren total dagegen gewesen. Sie hatten Klingelglöckchen vorgeschlagen, damit er sich nicht mehr rühren konnte, ohne dass es in seinen Taschen andauernd bimmelte. Mir persönlich gefiel die Idee mit den Glöckchen. Eine andere Möglichkeit wäre schlicht gar nichts. Vielleicht brauchte Angerson von dieser Abschlussklasse einfach eine Pause. Eine große, überwältigende Handvoll Nichts.
Und als das Gerede über die Abschlussfeier nachließ, kam als neues Dauerthema das Studieren auf. Wer ging auf welches College? Wer würde im Ausland studieren? Wer würde gar nicht auf die Uni gehen? Hast du schon das Gerücht gehört, dass J.P. zum Friedenskorps will? Was ist das Friedenskorps? Wird er sich da Malaria einfangen und sterben? Oder entführen ihn vielleicht irgendwelche Rebellen und köpfen ihn in einer Hütte, die versteckt hinter Bananenstauden liegt? Das Gerede hörte und hörte nicht auf.
Jeden Tag in der Mittagspause quetschte mich Mrs Tate über meine Zukunftspläne aus.
»Valerie, es ist nicht zu spät, du könntest dich noch um ein Stipendium von einem der städtischen Colleges bemühen«, wiederholte sie mit gequältem Gesichtsausdruck immer wieder.
Ich schüttelte dann den Kopf. »Nein.«
»Was hast du denn stattdessen vor?«, fragte sie mich eines Tages, als wir beim Essen zusammensaßen.
Darüber hatte ich mir tatsächlich schon stunden- und tagelang den Kopf zerbrochen. Was wollte ich tun, wenn ich meinen Abschluss hatte? Wohin konnte ich gehen? Wie würde ich leben? Sollte ich einfach zu Hause wohnen bleiben und darauf warten, dass Mom und Mel irgendwann vielleicht heirateten? Oder bei Dad, Briley und Frankie einziehen und versuchen, unsere Beziehung zu kitten, die Dad – da war ich mir ziemlich sicher – sowieso nicht wollte? Würde ich ausziehen und mir einen Job suchen? Mir mit irgendwem eine Wohnung teilen? Mich verlieben?
»Wieder zu Kräften kommen«, sagte ich. Und das meinte ich ernst. Ich brauchte Zeit, um alles zu verdauen. Über meine Zukunft würde ich später nachdenken, wenn ich die Garvin-Highschool endgültig abgelegt hatte wie einen zu dicken Mantel in einem überheizten Raum. Wenn es mir gelungen war, die Gesichter meiner Klassenkameraden nach und nach zu vergessen. Das von Troy. Das von Nick. Wenn die Erinnerungen an den Geruch von Schießpulver und Blut ausgelöscht waren. Falls das jemals der Fall sein würde.
Alles in allem liefen die Dinge ziemlich okay, bis zu einem regnerischen Freitag, an dem der Geruch von gemähtem Gras durch die Gänge zog. Draußen hatten sich Sturmwolken aufgetürmt und im Schulgebäude wirkte es, als wäre es schon Abend. Die Glocke hatte gerade zum Ende des Tages geläutet und in den Gängen wimmelte es nur so von Schülern, die wild durcheinanderredeten. Wie üblich machte ich dabei nicht mit, sondern bewegte mich von allen abgeschirmt in meiner eigenen kleinen Welt. Ich wartete nur darauf, den Tag im Kalender ausstreichen zu können – wieder eine Etappe geschafft auf dem Weg zum Abschluss.
Ich stand an meinem Schließfach und tauschte gerade das Mathebuch gegen das Physikbuch aus.
»Weißt du, wer dieses Mädel ist, das sich abmurksen wollte?«, hörte ich eine Schülerin ein paar Schließfächer weiter fragen. Ich spitzte die Ohren und sah zu ihr hinüber.
»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest«, antwortete ihre Freundin.
Die Augen des Mädchens wurden riesig. »Hast du’s denn nicht gehört? Irgendeine aus der Abschlussklasse hat versucht, sich umzubringen. Schon vor ein paar Tagen. Hat Tabletten geschluckt, glaub ich. Vielleicht hat sie sich auch die Pulsadern aufgeschnitten, das hab ich vergessen. Ich glaub, sie hieß Ginny oder so.«
Ich schnappte nach Luft. »Ginny Baker?«, fragte ich laut.
Die beiden Mädchen sahen mich mit verwirrtem Gesichtsausdruck an.
»Was?«, fragte eine von ihnen.
Ich ging ein paar Schritte auf sie zu. »Das Mädchen, das versucht hat, sich umzubringen. Du hast gesagt, dass sie Ginny hieß oder so. War es Ginny Baker?«
Sie schnippte mit den Fingern. »Ja, genau, das ist sie. Kennst du sie?«
»Ja«, sagte ich. Ich rannte zurück zu meinem Schließfach und stopfte meine Bücher hinein. Dann knallte ich die Tür zu und steuerte am Sekretariat vorbei in das Büro von Mrs Tate, die erschrocken von einem Buch aufsah.
»Ich hab gerade von Ginny gehört«, sagte ich außer Atem. »Können Sie mich ins Krankenhaus fahren?«