»Kannst du hier auf mich warten?«, bat ich Mom. »Ich bin gleich wieder da.«

»Hier? Bei den Zeitungsbüros?«, fragte sie. »Was gibt’s denn hier für dich zu tun?« Sie schielte durch die Windschutzscheibe auf das Backsteingebäude, auf dem groß die Worte SUN-TRIBUNE prangten.

»Es geht um das Schulprojekt«, behauptete ich. »Um die Gedenkstätte. Ich muss Unterlagen abholen von einer Frau, die für uns was recherchiert hat. Sie arbeitet hier.«

Wahrscheinlich schrillten in Moms Kopf jetzt sämtliche Alarmglocken. Sie war spät von der Arbeit gekommen und hatte mich ganz ungeplant bei Dr. Hieler abholen müssen. Und dann hatte ich sie auch noch gebeten, mich von dort direkt zu den Büros der Sun-Tribune zu fahren, ohne irgendeine Erklärung, die hinausging über ein vages Versprechen, ihr später alles zu erzählen.

Sie wirkte nicht so, als würde sie meine Geschichte glauben, aber sie bohrte nicht nach.

»Mom, es ist alles okay«, sagte ich mit der Hand auf dem Türgriff. »Vertrau mir.«

Sie sah mich lange an, dann beugte sie sich vor und schob mir die Haare von der Schulter zurück. »Das tue ich«, sagte sie. »Ich vertraue dir.«

Ich lächelte. »Es dauert nicht lange.«

»Tu einfach, was du tun musst«, sagte sie und setzte sich wieder hinters Lenkrad. »Ich warte hier.«

Ich stieg aus dem Auto, drückte die Flügeltüren auf und betrat das Gebäude der Sun-Tribune. Ein Wachmann saß am Empfang und deutete wortlos auf ein Anmeldeformular. Nachdem ich es ausgefüllt hatte, drehte er es zu sich und las meinen Namen.

»Und worum geht es?«, fragte er.

»Ich muss Angela Dash sprechen.«

»Hast du einen Termin mit ihr?«

»Nein«, gab ich zu. »Aber sie hat viel über mich geschrieben, also wird sie mich bestimmt sprechen wollen.«

Er sah mich zweifelnd an, griff aber schließlich nach dem Telefon und nuschelte etwas hinein.

Ein paar Minuten später kam eine ziemlich plumpe, dunkelhaarige Frau in einem viel zu engen Jeansrock und altmodischen Stiefeln auf mich zugetrottet. Sie führte mich durch eine Glastür in den Innenbereich.

»Ich bin Valerie Leftman«, sagte ich.

»Ich weiß, wer du bist«, antwortete sie. Ihre Stimme klang kräftig und ein bisschen maskulin. Sie fegte jetzt hastig durch die Gänge und ich lief stolpernd hinter ihr her, um sie nicht zu verlieren. Schließlich verschwand sie in einem schäbigen kleinen Büro, in dem es außer dem grauen Schein eines Computerbildschirms kaum Licht gab. Ich folgte ihr hinein.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. »Herrje, was hab ich alles angestellt, um mit dir sprechen zu können«, sagte sie, wobei sie alle Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richtete und wild mit der Maus herumklickte. »Deine Eltern haben wahnsinnig gut auf dich aufgepasst.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass sie alle Anrufe überwacht haben. Das hab ich erst viel später mitgekriegt«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich hätte ich sowieso nicht mit Ihnen geredet. Damals hab ich praktisch mit überhaupt keinem geredet. Auch nicht mit meinen Eltern, die so wahnsinnig gut auf mich aufgepasst haben.«

Sie sah von ihrem Bildschirm auf und warf einen desinteressierten Blick in meine Richtung. »Was führt dich hierher? Bist du jetzt bereit zu reden? Wenn das so ist, muss ich dir allerdings sagen, dass wir dich nicht mehr brauchen können. Die Story ist inzwischen leider ziemlich ausgelutscht. Abgesehen von dem Selbstmordversuch und der Schweigeminute hat es in letzter Zeit nichts mehr Neues dazu gegeben. Das Thema ist durch, der Amoklauf ist Schnee von gestern.«

Auch wenn Angela Dash anders aussah, als ich sie mir vorgestellt hatte, benahm sie sich definitiv so wie vermutet, was mich nur bestärkte. Ich zog den Artikel heraus, den ich in Ginnys Krankenhauszimmer hatte mitgehen lassen, und schmiss ihn auf den Tisch.

»Ich möchte, dass Sie aufhören, solches Zeug zu schreiben«, sagte ich. »Bitte.«

Der Finger auf der Maus hörte auf mit dem Rumgeklicke. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sie am Saum ihres Oberteils sauber. Dann setzte sie sie wieder auf und blinzelte. »Wie bitte?«

Ich deutete auf die Zeitung. »Was Sie da schreiben, ist nicht wahr. Es ist nicht so, wie Sie es in Ihren Artikeln darstellen. Sie sorgen dafür, dass alle glauben, wir kämen inzwischen wieder bestens klar und der Alltag in der Schule wäre ein einziges großes Fest der Liebe. Aber das stimmt alles nicht.«

Sie verdrehte die Augen. »Ich hab nie was von einem Fest der Liebe geschrieben.«

»Sie haben so getan, als wäre Ginny Baker nur eine verrückte Lebensmüde, die einfach nicht hinwegkommt über das, was passiert ist, während es allen andern inzwischen wieder gut geht«, sagte ich. »Aber das ist gelogen. Ich bin sicher, Sie haben nicht mal mit Ginny Baker geredet. Sie haben nie wirklich mit irgendwem geredet. Sie sprechen immer nur mit Mr Angerson und verbreiten genau die Lügen, die er verbreitet sehen will. Er hat Angst um seinen Job, darum sorgt er dafür, dass es sich anhört, als wäre alles wieder normal an der Schule.«

Auf die Ellbogen gestützt lehnte sie sich vor und sah mich mit einem frechen kleinen Grinsen an. »Aha, ich verbreite also Lügen weiter? Woher hast du denn deine Infos?«, fragte sie.

»Ich erlebe alles selbst«, sagte ich. »Ich bin jeden Tag in der Schule. Ich kriege mit, was die Leute einander immer noch antun. Ich kriege mit, dass Ginny Baker nicht die Einzige ist, die immer noch leidet. Und ich kriege mit, dass es einen riesigen Unterschied gibt zwischen dem, was Mr Angerson sieht, und dem, was er sehen will. Sie sind nie dort gewesen. Keinen einzigen Tag. Sie sind nie bei mir zu Hause gewesen. Und auch nie bei einem Footballspiel oder einem Leichtathletik-Wettkampf oder einer Schulparty. Sie waren nie im Krankenhaus, um zu sehen, wie es Ginny geht.«

Sie stand auf. »Du hast ja keine Ahnung, wo ich überall gewesen bin.«

»Hören Sie auf zu schreiben«, sagte ich. »Schreiben Sie nicht mehr über uns. Über die Garvin-Highschool. Lassen Sie uns in Ruhe.«

»Ich werde gern über deinen Vorschlag nachdenken«, sagte sie in einem aufgesetzt freundlichen Singsang. »Aber du wirst nachvollziehen können, dass ich in erster Linie dem Herausgeber dieser Zeitung verpflichtet bin und in zweiter Linie auf dich höre.«

Jetzt erst fiel mir auf, wie klein und behäbig sie hinter ihrem Schreibtisch wirkte – diese Frau, die ich mir als eine unendlich einflussreiche Riesin vorgestellt hatte.

»Ich muss mit meiner Arbeit weitermachen«, sagte sie. »Falls es dir darum geht, dass Leute die Wahrheit zu lesen kriegen, solltest du am besten ein Buch schreiben. Ich arbeite nebenbei übrigens auch als Ghostwriterin, falls du Interesse hast.«

Und auf einmal war mir klar, dass die Geschichte, die Angerson verbreitet wissen wollte, genau die Geschichte war, die die Welt zu hören bekommen würde. Dass Angela Dash eine faule und schlechte Journalistin war und dass sie genau das schreiben würde, was er von ihr lesen wollte. Dass nie jemand die Wahrheit über unsere Schule erfahren würde. Und dass ich daran nichts ändern konnte.

Aber vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit.

Rasch ging ich nach draußen, wo Mom am Straßenrand auf mich wartete.

»Hast du gekriegt, was du brauchtest?«, fragte sie und musterte mich. »War die Recherche erfolgreich?«

»Ja, wohl schon«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe ganz genau bekommen, was ich brauchte.«