»Tut mir leid, ihr beiden, aber ihr könnt hier nicht mehr sitzen«, sagte Mr Angerson. »Die Handwerker müssen andauernd hier durch.«

Mit unseren Tabletts in den Händen standen Jessica und ich da.

Schon den ganzen Vormittag über hatte es im Gebäude von Handwerkern nur so gewimmelt, sie hämmerten und klopften und machten einen solchen Lärm, dass sich kaum noch jemand konzentrieren konnte. Sie montierten neue Türen an den Klassenzimmern, die sich von innen automatisch verschlossen, sobald sie zugingen. Das bedeutete, dass jeder, der während des Unterrichts auf die Toilette ging, hinterher klopfen musste, damit er wieder reinkam. Die beabsichtigte Folge war natürlich, dass wir hier nun wie in einer kleinen, sicheren Festung saßen, nur für den Fall, dass irgendwer mit einer Waffe oder einer Bombe oder so was im Gebäude aufkreuzte.

»Okay«, sagte Jessica. Wir blickten uns an und dann drehten wir uns um Richtung Cafeteria.

»Komm«, sagte sie in ihrem alten Jessica-Kommandoton, an den ich mich noch bestens erinnern konnte. »Du kannst bei mir sitzen.« Sie warf ihr Haar selbstbewusst über die Schulter zurück, streckte die Brust vor und marschierte energisch durch die Menge.

Meine Füße fühlten sich kalt und schwer an, trotzdem folgte ich ihr. Sie führte mich ausgerechnet zu dem Tisch, der für mich immer das RBBS-Hauptquartier gewesen war, ein Gedanke, der mich in Panik versetzte.

»Hallo, Leute!«, sagte Jessica. Sie stellte ihr Tablett auf dem Tisch ab und schubste ein paar leere Stühle aus dem Weg. Die Gespräche am Tisch verstummten auf einen Schlag.

»Hallo, Jess«, sagte Meghan. Aber ihre Stimme war total leise und sie lächelte nicht. Die Szene in Mrs Stones Zimmer, als wir zusammen Luftballons aufgeblasen hatten, kam mir wie eine Halluzination vor. »Hallo, Val.«

Ich versuchte, meinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen, aber zu sprechen kam absolut nicht infrage.

»Ich hab gedacht, du isst jetzt immer draußen im Gang«, sagte Josh. »Mit ihr

»Angerson hat dem natürlich ein Ende gesetzt«, sagte Jessica. »Komm schon, Val. Setz dich. Das stört keinen.«

Irgendwer zischte, als sie das sagte, aber ich bekam nicht mit, wer.

Ich setzte mich und versuchte, mich ganz und gar auf das Essen auf meinem Tablett zu konzentrieren, aber mir war sowieso klar, dass ich keinen Bissen davon runterbringen würde. Die Soße wirkte auf einmal wie brauner Glibber und das Fleisch wie Plastik. In meinem Magen drehte sich alles.

»Hey, Jess, gehst du auch auf diese Scheunenparty?«, fragte irgendwer.

»Ja, da gehn wir beide hin.«

»Was heißt wir beide?«

Jessica deutete mit ihrer Gabel auf mich. »Ich hab Val gefragt, ob sie bei mir übernachten will an diesem Abend.«

»Das kann nicht sein«, sagte Josh energisch.

»Doch«, sagte Jessica. »Wo ist das Problem?« Ich bemerkte einen Hauch von Hochnäsigkeit in ihrer Stimme – es war ein Tonfall, den ich nur allzu gut kannte, denn er war oft auf mich gemünzt gewesen. Was guckst du so, Todesschwester? Hübsche Stiefel, Todesschwester. Ich werd doch nicht im Ernst mit deinen Versagerfreunden reden, Todesschwester. Hast du ein Problem? Was für ein Problem hast du? Gibt’s da ein Problem, Todesschwester? Allerdings richtete sie ihn diesmal nicht an mich, sondern an ihre Freunde, die sie fest im Griff hatte. Das erleichterte mich, aber ich fühlte mich gleichzeitig auch schuldig wegen dieser Erleichterung. In diesem Moment hätte ich nicht sagen können, wer sich mehr verändert hatte: Jessica Campbell oder ich.

»Ehrlich gesagt hab ich meine Eltern noch nicht gefragt«, nuschelte ich Jessica zu. »Das wollte ich am Wochenende tun.«

Sie wischte meinen Satz mit einer Handbewegung weg, ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt dem anderen Ende des Tischs. Ihre Augen waren zu Schlitzen geworden, ihr Blick forderte ihre Freunde heraus: Keiner von ihnen sollte es wagen, laut zu sagen, dass sie mich hier am Tisch nicht haben wollten. Ihre Gabel hielt sie die ganze Zeit über vor sich ausgestreckt. Die Stimmung am Tisch schlug um, Unbehagen machte sich breit.

Jeder starrte jetzt hinab auf das eigene Tablett und es wurde nicht mehr geredet. Ein paar Leute brummelten vor sich hin – ich hörte, dass es um mich ging, verstand aber nicht, was sie sagten.

Dann allerdings hörte ich jemanden sagen: »Bringt sie denn ihr Notizbuch mit?«, und irgendwer anderer antwortete lachend: »Kommt sie zusammen mit einem Typen?«

Es war zu viel. Wie dumm von mir zu glauben, dass ich hier dazugehören könnte. Das war nicht möglich, auch nach der ganzen Zeit nicht. Und auch nicht mit Jessica an meiner Seite. Schau dir einfach an, was da ist, hatte Dr. Hieler mir aufgetragen. Schau dir an, wie die Wirklichkeit ist. Jetzt sah ich, was wirklich da war, und nichts davon war gut. Es war alles genauso wie vorher. Nur dass ich vorher ihre Namen auf die Hassliste gesetzt hätte und zu Nick gelaufen wäre, der mich getröstet hätte. Jetzt war ich ein anderer Mensch und ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, außer wegzulaufen.

»Ich hab was vergessen«, sagte ich, erhob mich und nahm mein Tablett. »Ich muss vor der sechsten Stunde unbedingt noch mein Englischreferat abgeben, sonst kriege ich null Punkte. Wie blöd.« Ich versuchte, ganz lässig zu tun, aber mein Mund war total ausgetrocknet und ich war mir sicher, dass es beim Sprechen in meiner Kehle knackste.

Ich trug mein Tablett zur Geschirrrückgabe, kippte mein gesamtes Mittagessen in den Abfall und hastete aus der Cafeteria, wobei ich undeutlich Dr. Hielers Stimme in meinem Kopf hörte: Wenn du weiter abnimmst, Valerie, wird deine Mutter wieder anfangen, mich in Sachen Magersucht zu löchern. Ich marschierte geradewegs zu den Mädchentoiletten im Sprachentrakt und schloss mich in der Behindertenkabine ein. Da blieb ich, bis die Glocke läutete, und versprach mir hoch und heilig, dass mich keine Macht der Welt dazu bringen würde, auf diese Party zu gehen.