Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mich die Fernsehkameras nicht nervös machten. Es waren so viele. Wir hatten große Resonanz erwartet – aber gleich dieses Aufgebot? Ich merkte, wie mein Hals bei dem Versuch zu sprechen trocken und kratzig wurde.
Es war heiß dafür, dass es erst Mai war, und der feierliche Talar blieb bei jedem Windstoß an meinen Beinen kleben. Die Abschlussfeier fand wie immer draußen statt, auf der endlos großen Wiese an der Ostseite der Schule. Die Schulverwaltung hatte schon öfter angekündigt, dass die Feier wegen steigender Schülerzahlen und dem unzuverlässigen Wetter hier im Mittleren Westen eines Tages wohl in einen großen Festsaal verlegt würde. Heute aber nicht. Heute folgten wir der Tradition. Das immerhin war möglich für die leidgeprüfte Abschlussklasse von 2009. Traditionen waren wichtig für uns.
Ich konnte meine Familie sehen – Frankie saß zwischen Mom und Dad, ziemlich weit hinten an der Seite. Links von Dad saß Briley.
Mom hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck und warf den Kameraleuten unentwegt böse Blicke zu. Auf einmal war ich ihr unendlich dankbar, dass sie es irgendwie geschafft hatte, die Kameras während dieser ganzen Geschichte von mir fernzuhalten. Die einzige Person von der Presse, mit der ich geredet hatte, war Angela Dash gewesen, und die hatte ich selbst in ihrem Büro aufgesucht. Es erschütterte mich, als ich begriff, dass Mom, trotz all der Anschuldigungen und trotz ihres Misstrauens mir gegenüber im letzten Jahr, nicht nur versucht hatte, den Rest der Welt vor mir zu beschützen – sie hatte auch mich vor der Welt beschützt. Obwohl manches schwierig war zwischen uns, lag doch allem eine Liebe zugrunde, auf die ich mich verlassen konnte und die mir immer eine Heimat sein würde.
Dad fühlte sich ganz offensichtlich sehr unwohl zwischen Mom und Briley, aber wenn sich unsere Augen fanden, glitt ein Hauch von Erleichterung über sein Gesicht. Diese Erleichterung war echt, das konnte ich sehen. Seine Augen waren voller Hoffnung und ich wusste – oder war mir jedenfalls ziemlich sicher –, dass wir einander trotz allem, was zwischen uns passiert war, irgendwann würden verzeihen können. Auch wenn wir es sicher niemals vergessen würden. Es brauchte nur Zeit.
Ab und zu beugte sich Briley zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das ihn zum Lächeln brachte. Ich wünschte mir, Mel wäre mit Mom hergekommen. Dann hätte auch sie Grund zum Lächeln.
Frankie wirkte gelangweilt, aber ich hatte den Verdacht, dass er nur so tat. Nächstes Jahr würde er die Gänge der Garvin-Highschool erkunden, würde sich unter den wachsamen Blicken von Mr Angerson wegducken und über die Unordnung in Mrs Tates Büro staunen, die erschütternd und behaglich zugleich war. Ich war mir ziemlich sicher, dass Frankie alles in allem gut klarkäme. Trotz allem würde es hier okay sein für ihn.
Dr. Hieler war auch gekommen. Er saß eine Reihe hinter Mom und Dad und hatte den Arm um seine Frau gelegt. Sie sah überhaupt nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war weder schön noch glamourös. Es lag auch keine madonnenhafte Geduld und Anmut in ihrem Gesicht. Sie guckte dauernd auf die Uhr, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und einmal schnauzte sie auch irgendwas in ihr Handy. Meine Version von ihr gefiel mir besser. Ich wollte einfach daran glauben, dass solche Familien, wie ich sie Dr. Hieler angedichtet hatte, wirklich existierten. Vor allem für ihn.
Hinter Dr. Hieler gab es einen dicken Klecks Purpur. Dort saß Bea, die sich die Haare hochgesteckt und sie mit so vielen purpurfarbenen Kugeln geschmückt hatte, dass sie wahrscheinlich bei jeder Bewegung leise klingelte. Sie trug ein wehendes purpurfarbenes Kostüm und hielt eine Handtasche in der Größe eines kleinen Koffers vor sich auf den Knien, natürlich ebenfalls in Purpur. Bea lachte mich an, sie sah heiter und schön aus, wie eine Frau auf einem Gemälde.
Angerson erhob sich und bat um Ruhe, damit die Feier beginnen konnte. Er hielt eine kurze Ansprache, in der es um Beharrlichkeit ging, aber offenbar wusste er nicht recht, was er über diesen Jahrgang sagen sollte. Alle üblichen Floskeln waren hier fehl am Platz. Wie sollte er über die Zukunft sprechen, wenn auch Eltern anwesend waren, die ganz in der Vergangenheit lebten, deren Hoffnungen auf die Zukunft ihrer Söhne und Töchter sich in Nichts aufgelöst hatten, deren Kinder seit mehr als einem Jahr weg waren und nie mehr zurückkommen würden? Was konnte er uns andern sagen, die wir gezeichnet waren von dem, was in dieser Schule passiert war? Es würde keine unbeschwerten Erinnerungen geben – sie waren für immer dunkel verfärbt. Und wohl auch keine Klassentreffen – sie würden alle viel zu sehr aufwühlen.
Bald übergab Angerson das Wort an Jessica, die sich selbstsicher erhob und die Treppe des Rednerpults hinaufstieg. Mit ausgeglichener und ruhiger Stimme sprach sie übers College und die akademische Welt – eher nüchterne Dinge, die keine Tränen der Rührung hervorrufen würden. Doch dann zögerte sie und senkte den Kopf auf den Stapel Papier in ihren Händen.
Die Pause dauerte so lange, dass die Leute zu husten begannen und zappelig wurden; Unbehagen machte sich breit. Es sah fast aus, als würde Jessica beten, und wer weiß, vielleicht tat sie das sogar. Angerson wurde nervös und war offenbar kurz davor, hochzugehen und sie anzutreiben oder sie von der Bühne zu führen. Als sie endlich wieder aufsah, hatte sich ihr Gesicht verändert. Aus der resoluten Schülersprecherin war das Mädchen geworden, das meinen Arm berührt hatte, als Christy Bruters Vater über Vergebung sprach.
»Unser Jahrgang«, begann Jessica, »wird für immer geprägt sein von einem Datum. Dem zweiten Mai 2008. Niemand aus diesem Jahrgang wird je an diesen Tag denken können, ohne sich an jemanden zu erinnern, den er sehr mochte und der jetzt nicht mehr da ist. Ohne sich an das zu erinnern, was er an diesem Morgen gesehen und gehört hat. Ohne sich an den Schmerz zu erinnern, an Trauer, Verlust und Verwirrung. Ohne an Vergebung zu denken. Uns einfach nur zu erinnern wird immer wichtig sein. Wir, der Schülerrat des Jahrgangs von 2009, widmen unserer Schule deshalb einen Ort des Gedenkens …« Ihre Stimme brach bei diesem Wort, sie hielt inne und senkte wieder den Kopf, bemüht, sich zusammenzureißen. Als sie aufblickte, war ihre Nase tiefrot und ihre Stimme zitterte. »… an die Opfer dieses Tages. Wir werden sie niemals vergessen.«
Meghan stand auf und ging hinüber zu einer Erhebung im Gras dicht bei der Bühne, die mit einem Tuch verhüllt war. Sie nahm das Tuch und zog es weg. Eine Sitzbank aus Beton, deren helles Grau fast blendete, stand über einem Loch im Boden, das in etwa die Größe eines Fernsehapparats hatte. An dem Loch war frische Erde aufgehäuft und daneben stand eine Metallkiste mit geöffnetem Deckel – die Zeitkapsel. Von meinem Platz aus konnte ich erkennen, dass die Kiste fast ganz gefüllt war mit den unterschiedlichsten Gegenständen: Fransen von Cheerleader-Pompons, Plüschwürfeln, Fotos und so weiter.
Jessica nickte mir zu und ich stand auf. Meine Beine waren wie Gummi, als ich die Treppe zum Rednerpult hochkletterte. Jessica machte mir Platz, als ich näher kam, aber bei meinen letzten Schritten stürzte sie auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Ich ließ es zu und spürte die Hitze ihres Körpers durch meinen Talar, der dadurch noch mehr klebte. Aber das war mir egal.
Ich erinnerte mich daran, wie sie an dem Tag, als ich mich aus dem Projekt zurückgezogen hatte, hinter mir hergelaufen war. Sie hatte geweint und verzweifelt die Hand aufs Herz gelegt, ihre Stimme aber hatte voll und stark geklungen. Ich habe überlebt und das hat alles verändert, hatte sie gesagt. Damals hatte ich sie für verrückt erklärt, aber jetzt, als ich bei der Abschlussfeier mit ihr auf der Bühne stand und wir uns im Bewusstsein aneinander festhielten, dass unser Projekt abgeschlossen war, begriff ich, was sie damals gemeint hatte – und sie hatte recht gehabt. Dieser Tag hatte alles verändert. Wir waren Freundinnen geworden, nicht weil wir das so gewollt hatten, sondern weil es notwendig gewesen war. Es mag sich verrückt anhören, aber ich hatte fast das Gefühl, wir waren Freundinnen geworden, weil wir dazu bestimmt waren.
Fern von uns blitzten Kameras auf, was ich mehr spürte, als dass ich es sah. Ich hörte die Journalisten im Hintergrund tuscheln. Als Jessica und ich uns voneinander getrennt hatten, trat ich ans Rednerpult und räusperte mich.
Ich sah alle meine alten Freunde: Stacey, Duce, David und Mason. Ich sah Josh und Meghan und sogar Troy, der hinten bei Meghans Eltern saß. Ich sah sie alle, wie ein wogendes Meer von Unbehagen und Traurigkeit, jeder von ihnen trug seinen eigenen Schmerz in sich, jede hatte ihre eigene Geschichte und keine dieser Geschichten war tragischer oder glänzender als irgendeine andere. Im Grunde hatte Nick recht gehabt: Jeder von uns konnte manchmal ein Sieger sein. Allerdings hatte er nicht verstanden, dass wir auch alle Verlierer sein mussten. Das eine geht nicht ohne das andere.
Mrs Tate kaute an ihren Fingernägeln, während sie mir zusah. Mom hatte die Augen geschlossen. Es sah aus, als würde sie nicht einmal atmen. Kurz kam mir in den Sinn, dass ich vielleicht doch auf meinen allerersten Einfall zurückkommen und die Gelegenheit nutzen sollte, mich zu entschuldigen. Offiziell. Der Welt gegenüber. Vielleicht war eine Entschuldigung viel wichtiger als das, was ich jetzt vorhatte.
Aber da spürte ich, wie Jessicas Hand in meine glitt, wie ihre Schulter meine berührte, und im gleichen Moment sah ich, wie Angela Dash sich über ihren Notizblock beugte und zu schreiben begann. Ich warf einen Blick auf meine Rede.
»Hier an der Garvin-Highschool haben wir dieses Jahr eine bittere Lektion über die Realität lernen müssen. Leute empfinden Hass. Das ist unsere Realität. Leute hassen einander und werden gehasst, sie wünschen einander Schlechtes und wollen sich gegenseitig bestrafen.« Ich schaute zu Mr Angerson hinüber, der nur noch auf der Kante von seinem Stuhl saß und bereit war, jederzeit aufzuspringen und mich zu unterbrechen, falls ich zu weit gehen sollte. Ich merkte, wie ich zitterte und kurz ins Stolpern geriet. Jessicas Hand drückte meine ein wenig fester. Ich fuhr fort. »In der Zeitung lesen wir, dass die Zeiten des Hasses vorbei sind.«
Angela Dash lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, Notizblock und Stift waren vergessen. Sie blitzte mich mit hässlichen, vorgewölbten Lippen an. Ich blinzelte, schluckte und zwang mich weiterzumachen.
»Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Menschen vom Hass zu befreien. Nicht einmal Menschen wie uns, die hautnah miterlebt haben, was Hass anrichten kann. Wir alle sind verletzt. Wir werden noch lange verletzt sein und leiden an alldem. Und wir werden, vielleicht mehr als sonst irgendwer, jeden Tag nach einer neuen Realität suchen. Einer besseren.« Ich blickte ganz nach hinten, über meine Eltern hinweg, zu Dr. Hieler. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und fuhr mit dem Zeigefinger über seine Unterlippe. Er nickte mir ein ganz klein wenig zu, fast unmerklich.
Ich machte einen halben Schritt zur Seite. Jessica beugte sich zum Mikrofon vor und hielt dabei meine Hand noch immer fest umschlungen.
»Wir wissen, dass es möglich ist, die Realität zu verändern«, sagte sie. »Es ist schwer und die meisten Leute machen sich nicht einmal die Mühe, es zu versuchen, aber es ist möglich. Man kann die Realität des Hasses überwinden, indem man sich für eine Freundschaft öffnet. Indem man einen Feind rettet.« Jessica blickte mich an. Sie lächelte. Ich lächelte traurig zurück. Ich fragte mich, ob wir noch Freundinnen sein würden, wenn das hier vorbei war. Ob wir uns nach dem Tag heute überhaupt noch sehen würden.
»Aber wer die Realität verändern will, muss bereit sein, zu lernen und zuzuhören. Wirklich genau hinzuhören. Als Sprecherin der Abschlussklasse von 2009 bitte ich Sie alle, sich an die Opfer des zweiten Mai zu erinnern und sich anzuhören, wer diese Leute wirklich waren.«
Ich räusperte mich.
»Viele von den Opfern sind deshalb gestorben, weil der Täter …« Ich verstummte. Ich konnte nicht einmal zu Dr. Hieler hinschauen, der mir gerade ermutigend zunickte, das wusste ich genau. »… weil mein Freund, Nick Levil, und ich glaubten, sie wären schlecht. Wir haben nur gesehen, was wir sehen wollten, und wir …« Ich wischte mir über mein eines Auge. Jessica ließ meine Hand los und begann mir stattdessen über den Rücken zu streicheln. »Mhm … wir haben nicht … Nick und ich … wir wussten nicht … wer diese Leute in Wirklichkeit waren.«
Jessica beugte sich wieder nach vorne.
»Abby Dempsey«, sagte sie, »war eine passionierte Reiterin. Sie hatte ein eigenes Pferd, das Nietzsche hieß, und ist jeden Samstagvormittag auf Nietzsche geritten. Nächsten Sommer hätte sie beim Knofton-Jugendrodeo mitmachen sollen. Sie war sehr aufgeregt deswegen. Abby war auch meine beste Freundin«, fügte sie heiser hinzu. »Wir haben eine Strähne von Nietzsches Mähne für Abby in diese Zeitkapsel getan, die uns für immer an die Opfer des zweiten Mai erinnern soll.«
Sie trat einen Schritt zurück und ich kam wieder nach vorne. Meine Finger, in denen ich die Karten mit meinen Redenotizen hielt, zitterten und ich konnte immer noch nicht ins Publikum schauen. Aber als ich mich an die Gesichter all der Eltern erinnerte, mit denen Jessica und ich geredet hatten, wurde es leichter. All die Eltern, die ich endlich persönlich um Entschuldigung gebeten hatte. All die Eltern, die meine Entschuldigung angenommen hatten. Einige hatten mir verziehen, andere nicht. Manche hatten gesagt, es habe für sie nie etwas gegeben, wofür ich mich entschuldigen müsste. Wir hatten miteinander geweint und es hatte sie überglücklich gemacht, uns Geschichten von ihren Kindern zu erzählen. Die meisten von ihnen saßen jetzt wohl im Publikum.
»Christy Bruter«, sagte ich, »hat einen Studienplatz an der Notre-Dame-Universität und will dort Psychologie studieren. Sie hat vor, mit Traumapatienten zu arbeiten, und schreibt zusammen mit einer Co-Autorin gerade an einem Buch über ihre Nahtod-Erfahrung. Christy hat uns einen Softball für die Zeitkapsel übergeben.«
Jessica beugte sich wieder vor. »Jeff Hicks kam am Morgen des zweiten Mai gerade aus dem Krankenhaus, wo er seinen neugeborenen Bruder zum ersten Mal gesehen hatte. Er brach verspätet von dort auf und konnte nicht pünktlich in der Schule sein, doch als er das Krankenhaus verließ, war er total begeistert über einen zweiten Jungen in seiner Familie. Er schlug sogar einen Namen für das Baby vor – Damon, nach einem Footballspieler, den er gut fand. Zu Ehren von Jeff nannten seine Eltern das Baby Damon Jeffrey. Wir legen Damon Jeffreys Namensbändchen aus dem Krankenhaus für Jeff in die Zeitkapsel.«
»Ginny Baker«, begann ich. Ich atmete tief ein. Es gab so viel, was ich über Ginny sagen wollte. Ginny, die so viel durchlitten hatte. Die weiter leiden würde. Die hier nicht dabei sein konnte, weil sie immer wieder aufs Neue versuchte, zu Ende zu führen, was Nick begonnen hatte. Die sich bestrafen wollte, weil sie fand, dass sie die Spirale des Hasses in Gang gesetzt hatte. »Ginny hat schon mit zwei Jahren bei einem Kindercasting den ersten Platz belegt. Ihre Mutter sagt, dass sie schon als kleines Mädchen immer gern Sachen vorführte und mit Begeisterung getanzt hat. Ginny hat sich entschieden …«, ich brach ab und versuchte, das Weinen zu unterdrücken, »… nichts in die Zeitkapsel zu legen.« Ich senkte den Kopf.
So machten wir weiter – abwechselnd präsentierten wir Geschichten und Gegenstände zu Leuten wie Lin Yong und Amanda Kinney, Max Hills und anderen. Die Witwe von Mr Kline schluchzte laut auf, als wir für ihn eine Vierteldollar-Münze in die Zeitkapsel legten, wegen seiner Angewohnheit, Schülern, die eine Frage richtig beantwortet hatten, einen Vierteldollar zuzuwerfen. Eine seiner Töchter hatte ihren Kopf tief in den Falten vom Kleid ihrer Mutter vergraben und rührte sich nicht.
Wir kamen zum Schluss und ich stieg die Treppe hinunter zurück zu meinem Platz. Ich vermied es, irgendwen direkt anzuschauen – das Geräusch von sich schnäuzenden Nasen um mich herum war überwältigend.
Jessica stand nun allein am Rednerpult, aufrecht, mit roter Nase, aber auch mit wild entschlossenem Blick. Ihre blonden Haare wehten leicht wie Spinnweben durch den Wind.
»Es gibt noch zwei andere«, sagte sie ins Mikrofon. Ich runzelte die Stirn und begann, die Leute an den Fingern abzuzählen. Ich war mir sicher, dass wir alle genannt hatten. Jessica atmete tief ein.
»Nick Levil«, sagte sie, »liebte Shakespeare.« Ich hielt die Luft an. Wann hatte Jessica mit Nicks Familie gesprochen? Warum hatte sie das getan? War sie ganz bewusst ohne mich hingegangen? Ich kniff die Augen zu und schielte zu der Bank hinüber. Tatsächlich, da war Nicks Name, es war der letzte auf der Liste der Opfer. Ganz hinten aus meinem Hals stieg ein kleiner Ton und ich bedeckte meinen Mund mit den Händen. Diesmal konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen liefen, vor allem als sie Nicks zerfledderte alte Hamlet-Ausgabe in die Zeitkapsel legte, aus der er mir so oft vorgelesen hatte.
Ich hörte kaum, wie sie sagte: »Valerie Leftman ist eine Heldin. Sie hat mehr Mut als irgendwer sonst, den ich je gekannt habe – die Kugel, die sie traf, gehört dabei noch zu den weniger beängstigenden Sachen, denen sie im vergangenen Jahr ins Auge sehen musste. Valerie hat im Alleingang mein Leben gerettet und den Amoklauf vom zweiten Mai 2008 beendet, bevor es noch mehr Opfer gab. Ich bin glücklich, sie meine Freundin nennen zu dürfen. Valerie übergibt uns für die Zeitkapsel ein Buch mit Zeichnungen.« Sie zog mein schwarzes Notizbuch hervor und ließ es auf Nicks Hamlet-Ausgabe fallen. Meine Wirklichkeit und Nicks Zuflucht … eins auf dem anderen.
Zuerst klatschte niemand, als Jessica sich bei den Zuhörern bedankte und wieder Platz nahm. Doch dann brandete wilder Applaus auf, der immer lauter wurde und in ein rhythmisches Klatschen mündete. Ein paar standen sogar von ihren Stühlen auf.
Ich drehte den Kopf nach hinten und schaute: Mom und Dad klatschten beide und wischten sich die Augen. Dr. Hieler stand vor seinem Stuhl und ließ seine Tränen einfach laufen.
Irgendwann betrat Mr Angerson wieder die Bühne und holte uns zurück auf den Boden der offiziellen Abschlussfeier, zurück ins Leben, das weitergehen musste.
Ich dachte an den Koffer, der offen auf meinem Bett lag. An meine Sachen, die fast fertig gepackt waren. Da war das Bild von mir und Nick, wie wir am Blue Lake auf dem Felsen sitzen, irgendwo zwischen meiner Unterwäsche und meinen BHs verborgen. Und das Buch, das Dr. Hieler mir geschenkt hatte: Mut zur Angst hieß es – ich solle immer gut auf mich aufpassen, hatte er gesagt, als er es mir gab. Außerdem noch der Stapel Telefonkarten, den mir Dad letzten Samstag wortlos in die Hand gedrückt hatte, als er Frankie abholte. Und die College-Broschüren, die ich von Mrs Tate bekommen hatte.
Ich dachte an den Zug, mit dem ich am nächsten Morgen aufbrechen wollte – mit unbekanntem Ziel –, und daran, wie Mom am Bahnhof wahrscheinlich in Tränen ausbrechen und mich noch einmal anflehen würde, nicht zu fahren, zumindest nicht ohne einen klaren Plan. Daran, wie erleichtert Dad sicher aussehen würde, wenn ich am Fenster stand und winkte, und wie er nach der Abfahrt des Zuges immer kleiner und kleiner werden würde. Und ich würde ihm seine Erleichterung nicht einmal vorwerfen, falls es wirklich so wäre.
Ich malte mir aus, was ich wohl alles verpassen würde, während ich weg war. Würden Mom und Mel heiraten, ohne dass ich dabei war? Wäre ich nicht da, wenn Frankie seinen ersten Job bekam, vielleicht als Rettungsschwimmer im Freibad in unserem Viertel? Würde ich die Ankündigung verpassen, dass Briley schwanger war? Würde ich das alles versäumen und hätte ich, wenn ich später von diesen Dingen hörte, das Gefühl, meine Familie hätte zumindest das verdient – dass ich nicht da war in diesen glücklichen Zeiten?
»Bist du dir ganz sicher?«, hatte Dr. Hieler mich in unserer letzten Stunde gefragt. »Hast du genug Geld?«
Ich nickte. »Und Ihre Nummer hab ich auch.« Aber ich glaube, wir wussten beide, dass ich ihn niemals anrufen würde, nicht einmal, wenn ich mit Schmerzen im Bein in einem finsteren, muffigen Hostel aufwachte und Nicks Stimme in meinen Ohren widerhallte. Nicht einmal, wenn mein Hirn endlich zuließ, dass ich mich ernsthaft an das undeutliche Bild von Nick erinnerte, wie er sich vor meinen verschwimmenden Augen eine Kugel ins Hirn gejagt hatte. Nicht einmal, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, ihm Frohe Weihnachten zu wünschen oder um Alles in Ordnung zu sagen oder Helfen Sie mir.
Er hatte mich umarmt und sein Kinn auf meinen Kopf gelegt. »Es wird alles gut gehen«, hatte er geflüstert und ich hatte mich gefragt, ob er es sich selbst zuflüsterte oder mir.
Und ich war nach Hause gegangen, hatte gepackt und den Koffer danach offen auf meinem Bett liegen lassen, direkt neben den Pferden auf der Tapete, die sich nicht rührten – was sie natürlich auch vorher nie getan hatten.