[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Ginny Baker, 16 – Baker, eine der besten und erfolgreichsten Schülerinnen der Garvin-Highschool, verabschiedete sich Berichten zufolge gerade von ihren Freunden und wollte zum Unterricht gehen, als der erste Schuss fiel. Zeugenaussagen legen die Schlussfolgerung nahe, dass Baker zu dem Kreis jener Opfer gehört, die der Täter ganz bewusst auswählte: Levil bückte sich offenbar gezielt vor dem Tisch, unter dem sie sich versteckt hatte.
»Sie hat gekreischt: ›Hilf mir, Meg!‹, als er die Waffe auf sie gerichtet hat«, sagte ihre Schulkameradin Meghan Norris aus. »Aber ich hatte echt keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich hab nicht mal richtig kapiert, was da abläuft. Den ersten Schuss hab ich gar nicht gehört. Alles ging so schnell. Ich weiß nur, dass Mrs Flores auf einmal gebrüllt hat, wir sollen schnell unter die Tische und unsere Köpfe schützen, also haben wir das gemacht. Zufällig bin ich unter dem gleichen Tisch wie Ginny gelandet. Und er hat sie erwischt. Er hat keinen Ton zu ihr gesagt. Hat sich einfach nur gebückt, ihr die Knarre ins Gesicht gehalten, hat abgedrückt und ist weggegangen. Danach war sie total still. Sie hat nicht mehr gebettelt, ich soll ihr helfen, und ich hab gedacht, sie ist tot. So ausgesehen hat sie jedenfalls.«
Bakers Mutter war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Der Vater, der in Florida lebt, bezeichnete den Vorfall als »die schlimmste Tragödie, die Eltern sich nur vorstellen können«. Er fügte hinzu, er werde zurück in den Mittleren Westen ziehen, um seiner Tochter beizustehen. Es werden zahlreiche chirurgische Eingriffe notwendig sein, um ihr Gesicht zu retten.
»Dann hat deine Mom also heute wieder angefangen zu arbeiten?«, fragte Stacey. Wir standen mit unseren Tabletts in einer Schlange von Schülern und warteten auf unser Mittagessen. Gerade hatten wir zusammen Englisch gehabt. Die Atmosphäre im Unterricht war angespannt gewesen, aber immerhin so, dass ich damit klarkam. Ein paar Mädchen hatten sich gegenseitig Zettel geschrieben und Ginnys Platz war leer geblieben, ansonsten war nichts weiter passiert. Mrs Long, meine Englischlehrerin, gehörte zu der kleinen Gruppe von Lehrern, die den Dankesbrief von der Schulbehörde unterschrieben hatten. Ihre Augen waren feucht geworden, als ich ins Klassenzimmer kam, aber sie hatte nichts gesagt, sondern nur gelächelt und mir zugenickt. Nachdem ich an meinem Platz angekommen war, hatte sie zum Glück einfach mit dem Unterricht angefangen.
»Ja, hat sie.«
»Meine Mutter hat deine Mutter neulich angerufen.«
Ich hielt inne, das Salatbesteck noch in der Hand über meinem Teller. »Echt? Und wie ist das gelaufen?«
Stacey sah mich nicht an, sondern hielt den Blick starr auf das Essenstablett vor ihr gerichtet. Ein Außenstehender hätte nicht erkennen können, ob wir zusammen hier in der Essensschlange standen oder ob sie nur Pech gehabt hatte und zufällig neben mir gelandet war. Wahrscheinlich war das genau in ihrem Sinn, denn in diesem Fall war es besser für sie, Pech zu haben.
Sie stellte ein Schüsselchen mit regenbogenbuntem Wackelpudding auf ihr Tablett. Ich nahm mir auch eins. »Du weißt ja, wie meine Mutter ist«, sagte sie. »Sie hat ihr gesagt, sie will nicht, dass unsere Familie weiter mit eurer zu tun hat. Sie findet, deine Mom ist eine schlechte Mutter.«
»Oh«, sagte ich. Mir war auf einmal seltsam zumute. Es war fast, als täte mir Mom leid – ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr zugelassen hatte. Meine Schuldgefühle zerrissen mich fast. Da war es viel leichter zu glauben, sie sähe in mir nichts als die schlimme Tochter, die ihr Leben ruiniert hatte. »Das sitzt.«
Stacey zuckte mit den Achseln. »Deine Mutter hat zu meiner Mom gesagt, sie soll sich ihr Gerede in den Arsch stecken.«
Das hörte sich echt nach Mom an. Trotzdem ist sie hinterher garantiert in ihr Zimmer gegangen und hat geheult. Sie und Mrs Brinks sind schließlich fünfzehn Jahre lang Freundinnen gewesen. Wir beide sagten nichts. Keine Ahnung, wie es Stacey ging – bei mir lag es jedenfalls an diesem blöden Kloß im Hals.
Wir nahmen unsere Tabletts und bezahlten, dann gingen wir hinüber zu den Tischen, um uns einen Platz zu suchen.
Eigentlich war das nichts, worauf man irgendwelche Gedanken verschwenden musste. Früher hatten Stacey und ich unsere Tabletts einfach rüber auf die andere Seite des Raums getragen, zum dritten Tisch von hinten. Ich hatte Nick geküsst und mich zwischen ihn und Mason gesetzt, dann hatten wir alle zusammen gegessen, gelacht, über Leute hergezogen, Servietten zerfetzt und getan, was man eben so tut in der Mittagspause.
Jetzt ging Stacey vor mir her und machte kurz halt, um sich noch Ketchup zu holen. Ich nahm mir auch welchen, obwohl ich gar nichts hatte, wozu Ketchup passte. Aber ich hatte keine Lust, mich umzusehen und mitzukriegen, wie viele Gesichter in meine Richtung guckten. Bestimmt jede Menge. Stacey nahm wieder ihr Tablett und lief los, allerdings so, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass ich ihr folgte. Vielleicht tat ich das aus alter Gewohnheit, aber vermutlich lag es eher daran, dass ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen.
Klare Sache, da saßen sie alle, an dem Tisch hinten ganz links. David war da. Und Mason. Duce. Bridget. Und Joey, Bridgets Stiefbruder. David blickte auf und winkte Stacey, aber als er mich wahrnahm, geriet er ins Stocken. Dann winkte er auch mir halbherzig, aber man sah ihm an, wie unwohl er sich dabei fühlte.
Stacey stellte ihr Tablett auf den einzigen freien Platz, zwischen Duce und David. Sofort verwickelte Duce sie in ein Gespräch – es ging um irgendeinen Clip auf YouTube. Sie lachte laut auf und quiekte: »Oh, jaa! Hab ich auch gesehen!« Ich stand mit meinem Tablett ein paar Meter vom Tisch entfernt und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
»Ach so, na ja«, sagte Stacey und guckte zu mir rüber. Sie tat erstaunt, dass ich da war. Als hätten wir nicht eben zusammen an der Essensausgabe angestanden. Als hätte sie nicht eben noch mit mir geredet. Sie warf Duce einen kurzen Blick zu und sah dann wieder mich an. »Tja. Mhm …« Sie presste die Lippen zusammen. »Val. Wir haben … na ja … hier gibt’s wohl nicht genug Stühle.« Duce legte den Arm um sie und wieder glitt dieses arrogante kleine Grinsen über ihr Gesicht.
David machte Anstalten aufzustehen, wohl um einen Stuhl für mich zu suchen oder mir seinen anzubieten, denn er aß mittags meistens sowieso nichts.
Doch Duce stieß mit dem Fuß gegen das Stuhlbein, sodass David ins Stolpern geriet. Er guckte ihn dabei nicht mal an, aber David überlegte es sich trotzdem anders und setzte sich wieder. Verlegen zuckte er mit den Achseln und heftete den Blick auf die Tischplatte, weg von mir. Duce flüsterte Stacey etwas ins Ohr. Sie kicherte. Und sogar David hörte jetzt gespannt einer Geschichte zu, die ihm Bridget erzählte. Es kam mir so vor, als hätte mich meine »Familie« rausgeschmissen, nachdem Nick von der Bildfläche verschwunden war. Vielleicht hatte ich mich auch selbst rausgeschmissen, keine Ahnung.
»Schon okay«, sagte ich, auch wenn mich offenbar sowieso keiner hörte. »Ich kann ja irgendwo anders sitzen. Kein Problem.«
In Wirklichkeit meinte ich etwas ganz anderes: Ich würde mich allein draußen verkriechen, wo mich keiner störte und (was viel wichtiger war) wo ich auch keinen störte. Das war sowieso die beste Lösung. Worüber hätte ich mit ihnen schon reden können? Sie hatten den Sommer über einfach weitergemacht mit ihrem Leben. Ich dagegen hatte mich in dieser Zeit verzweifelt abgemüht, mir ein neues zurechtzubasteln.
Ich drehte mich weg und sah mich in der Cafeteria um. Es war total verrückt – alles wirkte genauso wie immer. Die gleichen Leute saßen zusammen. Die gleichen dünnen Mädels aßen den gleichen Salat. Die gleichen Footballstars stockten ihr Proteinlevel auf. Die gleichen Langeweiler saßen in der gleichen Ecke und taten wie immer so, als wären sie unsichtbar. Der Lärm war ohrenbetäubend. Mr Cavitt kreuzte durch die Cafeteria und schnaubte in einer Tour: »Hände auf den Tisch. Nehmt die Hände auf den Tisch!«, als wären Tischmanieren das einzig Wichtige auf der Welt.
Nur ich hatte mich verändert.
Mit einem tiefen Atemzug schob ich mich nach vorne und bemühte mich, Staceys Lachen und ihre spitzen Schreie hinter mir zu ignorieren. Du hast es so gewollt, sagte ich mir. Du wolltest Stacey loswerden. Du wolltest zurück in diese Schule. Du wolltest allen beweisen, dass du dich nicht zu verstecken brauchst. Du wolltest das hier, jetzt hast du’s. Das ist die Mittagspause, weiter nichts. Bring sie einfach hinter dich. Auf dem Weg nach draußen guckte ich nur auf mein Tablett und den Fußboden vor mir.
Gleich außerhalb der Cafeteria lehnte ich mich mit dem Rücken gegen eine Wand, ließ den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. Ich stieß einen langen Atemzug aus. Ich schwitzte, aber dort, wo meine Hände das Tablett berührten, wurden sie immer kälter. Ich hatte überhaupt keinen Hunger und wünschte mir nur, dieser Tag wäre endlich vorbei. Langsam ließ ich mich nach unten gleiten und stellte das Tablett vor mir auf dem Boden ab. Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg meinen Kopf in den Händen.
Innerlich zog ich mich dorthin zurück, wo ich mich sicher fühlte: zu Nick. Ich erinnerte mich daran, wie ich in seinem Zimmer mit dem Joystick seiner Playstation auf dem Boden saß und ihn anbrüllte: »Lass mich nicht gewinnen, du Idiot. Verdammt, Nick, du lässt mich doch extra gewinnen. Hör auf damit!«
Und er machte, was er immer tat, wenn er fies wirken wollte – er streckte die Zungenspitze seitlich aus dem offenen Mund, grinste und kicherte immer wieder leise vor sich hin.
»Nick, ich hab gesagt, lass das. Im Ernst, das ist doch blöd. Ich hasse das, wenn du mich gewinnen lässt. Das beleidigt mich.«
Wieder kicherte er, dann gab es eine wilde Feuerattacke und das Spiel war vorbei – er hatte absichtlich verloren.
»Verdammt, Nick!«, schrie ich und knallte ihm den Joystick gegen den Arm, als meine Figur in Siegerpose auf dem Bildschirm auftauchte. »Ich hab gesagt, du sollst mich nicht gewinnen lassen. Herrgott noch mal!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in die andere Richtung.
Jetzt lachte er laut und stieß mich in die Seite. »Wieso?«, sagte er. »Du hast einfach gewonnen und fertig. Außerdem bist du ein Mädchen. Da brauchst du schon Hilfe.«
»Das hast du jetzt nicht gesagt, oder? Ich zeig dir gleich, wer hier Hilfe braucht!«, knurrte ich, schmiss den Joystick weg und prügelte wie wild auf ihn ein, was ihn nur noch mehr zum Lachen brachte.
Mit geballten Fäusten boxte ich ihn gegen die Schultern und auf die Brust, aber jetzt eher im Spaß, denn er freute sich derart diebisch, dass ich mich nicht mehr richtig ärgern konnte. Nick war nicht oft so drauf wie jetzt, aber wenn er Lust zum Rumalbern hatte, war das total ansteckend. »Nein! Hilfe! Du bist so brutal«, jammerte er zwischen den Lachern mit einer künstlichen Quengelstimme. »Aua, du tust mir weh.«
Ich hängte mich noch mehr rein, grunzte und schubste ihn, bis wir beide auf dem Boden lagen. Wir kullerten herum und auf einmal lag er über mir und presste meine Handgelenke auf den Boden. Wir waren beide total außer Atem. Sein Gesicht kam ganz nah an meins heran. »Weißt du, manchmal ist es okay, wenn einer dich gewinnen lässt«, sagte er plötzlich ganz ernsthaft. »Wir müssen nicht immer Verlierer sein, Valerie. Klar, die andern wollen uns weismachen, wir wären es, aber das stimmt nicht. Auch wir können manchmal gewinnen.«
»Ich weiß«, sagte ich und fragte mich, ob er wohl begriff, was in mir vorging: Nie sonst fühlte ich mich so auf der Gewinnerseite wie jetzt in seinem Armen.
»Du kannst dich zu mir setzen«, riss mich eine Stimme aus meinem Tagtraum. Ich öffnete die Augen und stellte mich auf das ein, was einem Satz wie diesem normalerweise folgte: Du kannst dich zu mir setzen … wenn der Mississippi rückwärts fließt. Oder: Du kannst dich zu mir setzen … haha, das hast du doch nicht wirklich geglaubt, oder? Was ich stattdessen sah, verschlug mir den Atem.
Jessica Campbell blickte von oben auf mich herunter, mit einem Gesichtsausdruck, der ihre Gefühle nicht erkennen ließ. Sie trug ihren Volleyballdress und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Jessica war so was wie die Königin von Garvin High. Sie war beliebt wie niemand anderer, aber sie konnte auch sehr grausam sein. Jeder wollte sich gut mit ihr stellen und war zu allem bereit, um ihre Anerkennung zu kriegen. Zwar war es Christy Bruter gewesen, die mir den Spitznamen »Todesschwester« verpasst hatte, aber erst wenn Jessica mich mit kalter, verächtlicher Stimme so nannte, fühlte ich mich wirklich klein und dumm. Sie war es, die Jacob Kinney dazu gebracht hatte, Nick in den Gängen immer wieder ein Bein zu stellen, sie war es, die Mr Angerson eingeredet hatte, wir würden morgens vor der Schule auf dem Parkplatz Joints rauchen, was komplett gelogen war, uns aber ein paar Tage Unterrichtsausschluss eingehandelt hatte. Jessica machte sich nicht mal die Mühe, hinter unserm Rücken schlecht über uns zu reden. Sie sagte es uns direkt ins Gesicht. Etliche Male war sie auf die Hassliste gekommen. Ihr Name war unterstrichen. Mit Ausrufezeichen dahinter.
Sie war es, die eine große, eingedellte Narbe an ihrem Oberschenkel hätte haben müssen. Sie war es, die hätte sterben sollen. Sie war es, deren Leben ich gerettet hatte. Vor diesem Tag im Mai hatte ich Jessica gehasst. Jetzt hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich für sie empfand.
Als ich Jessica Campbell das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich vor Nick zusammengekauert und sich die Hände vors Gesicht gehalten. Sie hatte geschrien. So irrsinnig geschrien, dass es ihre Kehle zu zerreißen schien. Sie war verrückt gewesen vor Angst. Allerdings war das in diesem Moment so gut wie jeder in der Cafeteria. Ich weiß noch, dass ein Bein ihrer Jeans mit Blut verschmiert war und dass sie Essensreste im Haar hatte. Seitdem habe ich öfter über diese Ironie des Schicksals nachgedacht, dass die erbärmlichste Person, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, ausgerechnet Jessica Campbell war. Aber daran freuen konnte ich mich nicht.
»Was?«, krächzte ich jetzt.
Sie deutete in Richtung Cafeteria. »Du kannst an meinem Tisch essen, wenn du willst«, sagte sie. Da war immer noch kein Lächeln, kein Stirnrunzeln, keine Gefühlsregung in ihrem Gesicht. Jessicas Angebot kam mir wie eine Falle vor. Es war einfach unmöglich, dass sie es ernst meinte. Sie lockte mich an, um mich wegzustoßen, dieses Spiel kannte ich.
Zögernd schüttelte ich den Kopf. »Ist schon in Ordnung so. Trotzdem danke.«
Sie starrte mich noch eine ganze Weile lang mit geneigtem Kopf an und kaute dabei auf den Innenseiten ihrer Wangen. Komisch, ich konnte mich nicht erinnern, dass ich das vorher schon mal bei ihr beobachtet hatte. Sie wirkte irgendwie … verletzlich. Ernsthaft. Vielleicht auch so, als hätte sie ein bisschen Angst. Diesen Gesichtsausdruck war ich von ihr nicht gewöhnt.
»Bist du sicher? Da sitzen sowieso nur Sarah und ich, und Sarah ist komplett abgetaucht in ihr Psychologie-Projekt. Die merkt’s gar nicht, dass du da bist.«
Ich schaute an ihr vorbei zu dem Tisch, an dem sie immer saß. Stimmt, da war Sarah, total vertieft in ihre Aufzeichnungen, aber es saßen noch jede Menge anderer Leute dort. Alle gehörten zu Jessicas Clique. Dass die meine Anwesenheit nicht bemerken würden, bezweifelte ich. Ich war nicht blöd. Und ich war auch nicht völlig am Ende.
»Nein, echt. Das ist nett, aber ich bleibe lieber hier.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Aber du kannst jederzeit rüberkommen, wenn du’s dir anders überlegst.«
Ich nickte. »Okay, merk ich mir.«
Sie hatte sich schon ein paar Schritte entfernt, blieb dann aber stehen und drehte sich noch mal zu mir um. »Kann ich dich was fragen?«, sagte sie.
»Meinetwegen.«
»Viele hier rätseln, warum du wohl zurückgekommen bist.«
Aha, darum ging es. Jetzt kommt’s gleich, dachte ich, jetzt fängt sie an, mich zu beschimpfen, sagt mir, dass mich keiner hier will, macht sich über mich lustig. Ich merkte, wie eine altbekannte Mauer in mir zu wachsen begann.
»Weil das eben meine Schule ist«, sagte ich, was allerdings so klang, als wollte ich mich rechtfertigen. »Warum sollte ich gehen? Die Schule hat gesagt, ich könnte wiederkommen.«
Sie kaute weiter auf der Innenseite ihrer Wange, dann sagte sie: »Das stimmt. Schließlich hast du keinen erschossen.«
Sie verschwand wieder in der Cafeteria und mir kam ein Gedanke, der mich bis ins Mark erschütterte. Sie machte sich nicht über mich lustig. Sie meinte ernst, was sie gesagt hatte. Und ich hatte es mir nicht nur eingebildet: Jessica Campbell sah wirklich nicht so aus wie sonst. Sie wirkte verändert.
Ich schnappte mein Tablett und warf das Essen in den Müll.
Dann hockte ich mich wieder auf den Boden, und zwar so, dass ich die Cafeteria genau im Blick hatte. Schau dir einfach an, was da ist, Valerie, sagte die Stimme von Dr. Hieler in meinem Kopf. Ich griff in meinen Rucksack und holte mein Notizbuch und einen Bleistift raus. Ich beobachtete die Leute da drinnen genau. Ich sah ihnen zu, wie sie genau das taten, was sie immer taten, und zeichnete sie dabei – ein Rudel Wölfe, übers Essen gebeugt, mit lang gezogenen Schnauzen und gefletschten Zähnen oder einem höhnischen Grinsen im Gesicht. Nur Jessica nicht. Ihr Wolfsgesicht erwiderte vorsichtig meinen Blick. Ich war selbst überrascht, als ich hinuntersah auf meine Zeichnung und merkte, dass ihr Wolfsgesicht eher an das von einem Hundewelpen erinnerte.