Als ich am nächsten Morgen aufstand, hockte Detective Panzella gegenüber von Mom an unserm Küchentisch, einen Becher Kaffee vor sich. Mom lächelte und ihr Gesicht wirkte heiterer, als ich es seit Ewigkeiten gesehen hatte. Der Kommissar sah grimmig aus wie immer, aber seine Schultern wirkten entspannt, was mir den Eindruck vermittelte, er hätte bestimmt gelächelt, wenn er nicht der wäre, der er war – und ich nicht die, die ich war.

Als ich in die Küche humpelte, schabten die Gummistopper an meinen Krücken unter meinem Gewicht leise über das Linoleum. Ich kämpfte kurz mit dem Gefühl, die Welt würde gleich unter mir wegsacken, was ich schon kannte – ich hatte es seit meiner Operation etliche Male erlebt. Ich war immer noch vollgepumpt mit Medikamenten, nicht nur mit Schmerzmitteln, sondern auch mit Psychopharmaka, und außerdem war ich immer noch ein bisschen high davon, endlich frei zu sein.

»Valerie«, sagte Mom. »Detective Panzella hat gute Neuigkeiten.«

Ich wollte mich schon an den Tisch setzen, überlegte es mir aber anders und lehnte mich ans gegenüberliegende Ende der Küchentheke, um Abstand zwischen mich und diesen Mann zu bringen – den Abstand, nach dem ich mich im Krankenhaus so dringend gesehnt hatte.

Ich musterte ihn genau. Wie immer trug er einen braunen Anzug. Er sah aus, als hätte er sich vor Kurzem gründlich gewaschen; vielleicht war er gerade unter der Dusche gewesen, bevor er zu uns kam. Ich hatte sogar das Gefühl, ich könnte Seife an ihm riechen, die gleiche Sorte, die wir hier auch verwendeten. Ich roch auch sein Aftershave, was meinen Magen auf der Stelle Salto schlagen ließ. Unwillkürlich schossen mir Tränen in die Augen, und wenn ich beide Beine normal hätte bewegen können, wäre ich vielleicht schreiend aus dem Haus gerannt, nur um von ihm wegzukommen.

»Hallo«, sagte er. Er wandte sich auf seinem Stuhl um und sah mich an, dabei zog er den Kaffeebecher in einem kleinen Bogen über den Tisch. Später wischte ich diese feuchte Spur weg, mit dem Gefühl, ihn damit auch physisch für immer aus meinem Leben zu entfernen.

»Hi«, antwortete ich.

»Valerie«, sagte Mom wieder. »Detective Panzella ist hergekommen, um uns mitzuteilen, dass du nicht mehr unter Verdacht stehst.«

Ich sagte nichts. Plötzlich war ich mir nicht ganz sicher, ob ich überhaupt wach war. Vielleicht war ich noch im Krankenhaus, in der psychiatrischen Abteilung, und schlief. Gleich würde ich wach werden, mit dem Rollstuhl zur Gruppensitzung fahren und dort von dem verrückten Traum erzählen, den ich gerade gehabt hatte, und die schizophrene Nan würde anfangen, herumzuschreien und sich über Terroristen aufzuregen, Daisy würde weinen und an den Mullbinden um ihre Handgelenke herumzupfen und Andy fände wahrscheinlich, ich sollte mich verpissen. Der Idiot von einem Therapeuten würde einfach nur dasitzen und nicken und alle machen lassen, was sie wollten, und dann würde er uns irgendwann zum Frühstück und zur Medikamentenausgabe schicken.

»Ist das nicht toll?«, fragte Mom.

»Okay«, sagte ich. Was sollte ich schon sagen? Gott sei Dank? Ich hab’s doch gleich gesagt? Warum? Nichts davon passte in diesem Moment. Also blieb ich bei »okay« und schob ein genuscheltes »Danke« hinterher. Was mir komplett blöd vorkam.

»Es gab ein paar Zeugen, die für dich ausgesagt haben«, erklärte Panzella und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Eine vor allem. Sie hat auf einem Gespräch mit mir und dem Staatsanwalt bestanden und hat eine sehr genaue und überzeugende Aussage gemacht. Es wird keine Anklage gegen dich erhoben.«

Ich war total benebelt. Ich wollte dringend aufwachen, denn mir wurde fast schwindlig vor Erleichterung, und das war nicht gut. Denn dann wäre es nachher nur umso schlimmer, aufzuwachen und herauszufinden, dass meine Zeit im Gefängnis noch vor mir lag.

»Stacey?«, krächzte ich, fast schockiert darüber, dass sie bereit war, sich für mich einzusetzen, obwohl sie mir eindeutig nicht vertraute und wir keine Freundinnen mehr waren.

Panzella schüttelte den Kopf. »Blond, groß. In der gleichen Klassenstufe wie du. Dauernd hat sie gesagt: ›Valerie hat auf niemanden geschossen.‹«

Diese Beschreibung passte garantiert auf keine von meinen Freundinnen.