[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]

 

Lin Yong, 16 – »Was er getan hat, bricht mir das Herz«, sagt Sheling Yong zu den Verletzungen ihrer Tochter. »Ich bin dankbar, dass Lin noch am Leben ist, aber die Kugel hat ihren Arm für alle Zeiten ruiniert. Sie war eine exzellente Geigerin und hat auf Landesebene gespielt. Das ist jetzt vorbei. Ihre Finger funktionieren nicht mehr richtig. Sie kann nicht mehr spielen.«

Lin Yong war in den Unterarm getroffen worden, der Aufprall der Kugel beschädigte ihr Handgelenk schwer und hatte erhebliche Nervenschädigungen in ihrem Arm zur Folge. Auch nach vier Operationen kann sie Mittelfinger und Daumen nur eingeschränkt benutzen.

»Und es ist der rechte Arm«, sagt Yong. »Darum fällt mir auch das Schreiben schwer. Ich versuche jetzt, mit links schreiben zu lernen. Aber meine Freundin Abby ist tot, also will ich über meinen Arm nicht zu viel jammern. Er hätte mich schließlich auch umbringen können.«

***

 

Nach dem Schülerratstreffen zwang Mom Dr. Hielers Sekretärin, auf der Stelle einen Termin für uns einzuschieben.

»Deine Mutter sagt, du wärst außer dir gewesen, als du aus dem Treffen kamst«, meinte Dr. Hieler, schon bevor ich mich gesetzt hatte. Ich bildete mir ein, einen Hauch von Verärgerung in seiner Stimme zu hören, und fragte mich, ob er wegen mir wohl erst später nach Hause kommen würde. Ob seine Frau das Essen im Herd warm hielt und ob seine Kinder vorm Kamin Hausaufgaben machten und sehnsüchtig auf ihren Daddy warteten, der mit ihnen Cowboy und Indianer spielen würde, sobald er daheim war. Genau so stellte ich mir Dr. Hielers Privatleben vor – eine perfekte Fünfziger-Jahre-Idylle wie aus dem Fernsehen, mit einer geduldigen und liebevollen Familie, in der es nie irgendwelche Probleme gab.

Ich nickte. »Ja, schon, aber es hat kein großes Drama gegeben oder so.«

»Wirklich? Deine Mutter sagt, jemand wäre dir hinterhergerannt. Ist irgendwas passiert?«

Ich überlegte. Sollte ich nicken und ihm erzählen, was passiert war – dass ich Nick öffentlich fallen gelassen hatte, dass es den andern am Ende doch noch gelungen war, mich davon zu überzeugen, dass Nick schlecht war? Sollte ich ihm sagen, dass ich mich irrsinnig schuldig fühlte deshalb? Dass ich mich dafür hasste, mich dem Druck derer gebeugt zu haben, die an der Schule den Ton angaben? Dass ich mich entsetzlich schämte?

»Ach«, sagte ich so lässig, wie ich es hinbekam. »Mir ist mein Taschenrechner runtergefallen und ich hab’s nicht gemerkt. Sie wollte ihn mir zurückgeben. Ich krieg ihn dann morgen in der ersten Stunde. Nicht so wichtig. Mom steigert sich da in was rein.«

Er legt den Kopf schief, woran ich merkte, dass er mir kein Wort glaubte. »Dein Taschenrechner?«

Ich nickte.

»Worüber hast du dann geweint? Über den Taschenrechner?«

Wieder nickte ich und blickte zu Boden. Ich kaute auf meiner Unterlippe, damit sie nicht zitterte.

»Muss ein guter Taschenrechner sein«, überlegte er. »Ein wirklich besonderer Taschenrechner.« Als ich immer noch nichts sagte, redete er langsam, sanft und in wohlgesetzten Worten weiter: »Ich wette, es geht dir total schlecht, weil du so einen guten Taschenrechner einfach hast runterfallen lassen. Bestimmt denkst du, du hättest besser auf diesen Taschenrechner achtgeben müssen.«

Ich blickte auf und sah ihn an. Sein Gesicht gab nichts preis. »Ja, so ähnlich war es«, sagte ich.

Er nickte und bewegte sich in seinem Sessel hin und her. »Du bist kein schlechter Mensch, Valerie, wenn du ab und zu deinen Taschenrechner vergisst. Und falls du ihn irgendwann gar nicht mehr finden solltest und einen neuen Taschenrechner brauchst … na ja, es gibt eine Menge guter Taschenrechner in der Welt.«

Ich kaute noch fester auf meiner Lippe herum und nickte.

Ein paar Tage später stand Mrs Tate gerade am Kopierer im Sekretariat, als ich hereinkam, um mich wegen meiner Verspätung zu melden. Ich versuchte zu entwischen, bevor sie mich bemerkte, aber die Sekretärin redet immer total laut, und als sie mehr oder weniger brüllte: »Hast du denn ein Arztattest, Valerie?«, drehte sich Mrs Tate um und sah mich.

Sie gab mir zu verstehen, dass ich mitkommen sollte, und wir gingen in ihr Büro.

Sie schloss hinter uns die Tür. Ihr Büro sah aus, als hätte sie es gerade entrümpelt. Auf dem Boden türmten sich zwar immer noch die Bücherstapel, aber sie waren jetzt alle in eine Ecke geschoben. Auf ihrem Schreibtisch lagen keine schmuddeligen Essenstüten mehr herum und der windschiefe Aktenschrank war ersetzt worden durch einen neuen, der schwarz glänzte. Alle ihre Fotos hatte sie auf diesen Aktenschrank gestellt, sodass die Schreibtischoberfläche vergleichsweise blank und ordentlich wirkte, obwohl immer noch stapelweise loses Papier darauf herumlag.

Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch und sie ließ sich mit einer Pobacke auf einer Tischecke nieder. Mit einem ihrer lackierten Fingernägel schob sie eine Locke zurück in ihren Haarknoten und lächelte mich an.

»Wie geht’s dir, Valerie?«, fragte sie total leise, als wäre ich derart zerbrechlich, dass ich bei der falschen Lautstärke gleich einen Nervenzusammenbruch bekäme. Mir wäre es lieber gewesen, die Sekretärin draußen hätte so mit mir geredet und Mrs Tate würde ganz normal mit mir sprechen.

»Alles in Ordnung, denke ich«, sagte ich und wedelte mit meinem Entschuldigungszettel. »Ich war beim Arzt. Wegen meinem Bein.«

Sie warf einen Blick hinunter. »Wie steht es inzwischen mit deinem Bein?«

»Ganz okay.«

»Gut«, sagte sie. »Warst du in letzter Zeit mal wieder bei Dr. Hieler?«

»Vor ein paar Tagen erst. Nach dem Treffen vom Schülerrat.«

»Gut, das ist gut«, sagte Mrs Tate und nickte nachdrücklich. »Nach allem, was ich höre, ist Dr. Hieler ein großartiger Arzt, Valerie. Er macht seine Arbeit sehr gut.«

Ich nickte. Es war tatsächlich so – alle Situationen, in denen ich mich in letzter Zeit bestärkt und sicher gefühlt hatte, hatten mit Dr. Hieler zu tun.

Mrs Tate stand auf und lief um ihren Tisch. Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, der unter ihrem Gewicht knarrte.

»Hör mal, ich möchte mit dir über die Mittagspausen reden.«

Ich seufzte. Mit den Mittagspausen kam ich weiterhin nicht besonders gut klar. In den Räumen der Cafeteria spukte es für mich immer noch. Stacey und ich schoben uns an der Essensausgabe dicht aneinander vorbei, bevor sie den Tisch ansteuerte, an dem alle saßen, die mal meine Freunde gewesen waren – und Stacey tat bei alldem so, als würde sie mich nicht kennen. Ich ging dann mit meinem Tablett nach draußen und setzte mich neben den Jungentoiletten auf den Gang, als wäre es mein sehnlichster Wunsch, hier ganz allein auf dem Boden zu hocken und zu essen.

»Ich seh dich jeden Tag draußen auf dem Gang sitzen«, sagte Mrs Tate, als könnte sie Gedanken lesen. »Warum isst du nicht in der Cafeteria?« Sie beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf dem Tisch ab. Sie hatte ihre Finger ineinandergelegt, als würde sie beten. »Jessica Campbell war gestern bei mir. Sie sagt, sie hätte dich eingeladen, mittags bei ihr am Tisch zu essen, aber du hättest abgelehnt. Stimmt das?«

»Ja. Sie hat mich vor einer Weile gefragt. Es war nichts gegen sie oder so. Ich hatte nur zu tun … mit einem Kunstprojekt.« Meine Hand berührte unwillkürlich das schwarze Spiralheft.

»Aber du hast Kunst doch gar nicht belegt.«

»Das ist ein Projekt nur für mich. Ich mach bei einem Kurs im Stadtteilzentrum mit«, sagte ich. Mrs Tate war mit Sicherheit klar, dass das eine glatte Lüge war, aber das war mir egal. »Hören Sie, ich hab nichts gegen Jessica. Ich bin einfach lieber allein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Jessicas Freunde mich dort haben wollen. Ginny Baker sitzt an diesem Tisch. Sie hält es nicht aus, mich zu sehen.«

»Ginny Baker ist für eine Weile von der Schule beurlaubt.«

Das hatte ich nicht gewusst. Mein Gesicht brannte. Ich machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu.

»Nicht deinetwegen, Valerie, falls du das denkst. Ginny muss mit allerhand fertigwerden, sie ist traumatisiert und es ist ihr schon die ganze Zeit über schwergefallen, wieder in die Schule zu gehen. Sie hat alles genau mit ihren Lehrern besprochen. Es ist gut für sie, eine Weile lang von zu Hause aus am Schulstoff weiterzuarbeiten. Jessica bemüht sich wirklich um dich. Du solltest nicht vor ihr weglaufen.«

»Ich laufe nicht vor ihr weg«, sagte ich. »Ich bin ja sogar zum Schülerrat gegangen. Es ist nur …« Mrs Tate hielt ihren Blick auf mich gerichtet, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich seufzte. »Ich denk drüber nach«, sagte ich, meinte aber genau das Gegenteil: Ich würde mich auf gar keinen Fall an diesen verdammten Tisch setzen. Ich stand auf, meine Bücher eng an den Körper gedrückt.

Mrs Tate musterte mich kurz und erhob sich dann ebenfalls. »Hör zu, Valerie«, sagte sie und zupfte am Saum ihrer Kostümjacke, die eng und unbequem aussah. »Ich hätte das hier gerne anders geregelt, aber ich muss dir sagen, dass außerhalb der Cafeteria zu essen nur mit besonderer Genehmigung eines Lehrers erlaubt ist. Mr Angerson hat jede Form von Einzelgängertum untersagt.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, wenn dich einer erwischt, wie du dich ohne Genehmigung allein irgendwo herumtreibst, musst du nachsitzen oder kriegst einen Verweis.«

Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich geschrien: Bin ich hier etwa im Gefängnis? Sind Sie neuerdings die Aufseherin? Aber wahrscheinlich hätte sie darauf nur geantwortet: Das sind wir doch immer gewesen, also ließ ich es bleiben.

»Was soll’s«, sagte ich und machte mich auf den Weg zur Tür.

»Valerie«, sagte sie und zog mich leicht am Ellbogen. »Versuch’s doch einfach mal. Jessica liegt wirklich viel daran, dass es klappt.«

»Dass was klappt?«, fragte ich. »Bin ich jetzt das neueste Unterrichtsprojekt? Oder einfach ein großer Witz? Warum lässt sie mich nicht in Ruhe? Die haben sich doch früher auch nicht um mich gekümmert.«

Mrs Tate zuckte mit den Achseln und lächelte. »Ich glaub, sie wäre einfach gern mit dir befreundet.«

Aber warum?, wollte ich schreien. Warum will Jessica Campbell auf einmal mit mir befreundet sein? Wieso ist sie auf einmal nett zu mir? »Ich brauch keine Freunde«, sagte ich. Mrs Tate blinzelte, eine Falte bildete sich zwischen ihren Augen und sie saugte die Lippen ein. Ich seufzte. »Ich will nur den Unterrichtsstoff durchziehen und meinen Abschluss machen«, sagte ich. »Dr. Hieler findet, ich soll mich im Augenblick vor allem darauf konzentrieren. Ich soll einfach das hinkriegen, was ansteht.«

Das war natürlich gemogelt. Dr. Hieler hatte mir nie so was eingeredet wie »Häng dich rein und zieh das durch« oder ähnlichen Blödsinn. In erster Linie sorgte Dr. Hieler dafür, dass ich mir nicht das Leben nahm.

Mrs Tate sagte nichts mehr und das nahm ich als Hinweis, dass ich jetzt gehen konnte. Mit pochendem Bein, das mir von all dem Gezerre und Geziehe heute Morgen beim Arzt mehr wehtat als sonst, verließ ich das Büro und dachte dabei an nichts anderes als an die Frage, wie ich vermeiden konnte, heute in die Mittagspause zu müssen.