»Sie wissen ja wahrscheinlich, dass mein Dad ausgezogen ist«, sagte ich und musterte Dr. Hielers Bücherregal, während er im Sessel seine übliche Haltung einnahm: ein Bein über die Lehne gelegt, den rechten Zeigefinger versonnen an die Unterlippe gelegt.
»Deine Mutter hat’s mir erzählt«, sagte er. »Was hältst du davon?«
Ich zuckte mit den Achseln und blickte hoch auf die Figürchen, die oben auf seinem Bücherregal standen. Ein Porzellanelefant, eine Kitschfigur von einem Arzt mit einem Kind, ein polierter Bergkristall. Geschenke von seinen Patienten. »Ich wusste es schon. Ich war nicht sonderlich überrascht.«
»Manchmal kann einem auch etwas wehtun, womit man gerechnet hat«, gab er zu bedenken.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, mit Dad bin ich lange durch. Damals hat’s mir wohl schon wehgetan, aber jetzt … keine Ahnung … jetzt kommt’s mir fast wie eine Erleichterung vor.«
»Danke übrigens. Wegen Moms Magersuchts-Theater und so.«
Er nickte. »Aber du musst was essen. Das ist dir doch klar, oder?«
»Ja, weiß ich. Ich ess ja auch was. Ich hab sogar ein bisschen zugenommen. Kein Grund, nervös zu werden. Ist ja nicht so, dass ich versuche abzunehmen.«
»Das glaube ich dir. Sie macht sich eben Sorgen, das ist alles. Manchmal muss man seine Alten einfach bei Laune halten. Zeig ihr ab und zu, dass du was isst, okay?«
Ich nickte. »Okay. Sie haben recht.«
Er grinste breit und reckte seine geballte Faust hoch. »Schon wieder! Damit könnt ich echt Geld verdienen!«
Ich kicherte und verdrehte die Augen. »Oh! Beinah hätte ich’s vergessen. Ich hab was für Sie gemacht.«
Er zog die Augenbrauen hoch und beugte sich vor, um nach dem Bild zu greifen, das ich aus meinen Rucksack hervorgeholt hatte.
»Das hättest du nicht tun müssen«, sagte er.
Er drehte das Bild um und sah es sich genau an. Es war das Porträt, das ich am vergangenen Samstag in Beas Studio gemalt hatte.
»Das ist unglaublich«, sagte er. Dann wiederholte er mit Begeisterung: »Das ist wirklich unglaublich! Ich hatte keine Ahnung, dass du so was kannst.«
Ich stellte mich hinter ihn und blickte über seine Schulter auf mein Bild Porträt eines Heilers. Es zeigte nicht den Mann mit den dunkelbraunen Haaren und den verständnisvollen Augen, zu dem ich jeden Samstag ging, sondern sein wahres Wesen, so wie ich ihn sah: eine Insel der Gelassenheit, ein Bündel Sonnenlicht, ein Ausweg aus dem tiefen, dunklen Tunnel, in dem ich lebte.
Ich nickte. »Ja, ich glaub, ich male wirklich gern. Ich bin öfter bei dieser Frau gewesen, die gegenüber von hier ihr Studio hat, und sie hat mich umsonst malen lassen. Ich hab auch ein Heft angefangen. Ich hab darin die Dinge so gezeichnet, wie ich sie wirklich sehe. Also nicht das, was die andern gerne wollen, dass man sieht. Sondern das, was wirklich da ist. Das hat mir geholfen. Obwohl manche Leute glauben, es wäre wieder ein Hassbuch. Aber das ist egal. Dann zeichne ich sie einfach auch.«
Er lehnte das Bild behutsam gegen die Lampe auf dem Tisch neben sich. »Darf ich mir das Heft ansehen? Bringst du es zum nächsten Termin mit?«
Ich lächelte schüchtern. »Okay. Tja. Na gut.«