[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Chris Summers, 16 – Nach Zeugenaussagen ist Summers als Held gestorben.
»Er versuchte, uns alle irgendwie nach draußen zu bringen«, berichtet die 16-jährige Anna Ellerton. »Er hat Leuten geholfen, durch die Türen nach draußen in den Gang zu kommen. Das ist typisch Chris – immer dabei, irgendwas zu organisieren.«
Nach Auskunft von Anna Ellerton wurde Summers von Schülern, die in Panik aus der Cafeteria flüchteten, weggestoßen, wodurch er Levil direkt vor die Füße stolperte.
»Nick hat gelacht und ihn gefragt, wer denn jetzt der große Macker wäre, und dann hat er auf ihn geschossen«, schildert Ellerton. »Ich dachte mir, dass er tot ist, darum bin ich weitergerannt. Keine Ahnung, ob er auf der Stelle gestorben ist oder nicht. Ich weiß nur, dass er versucht hat zu helfen. Er hat nur versucht zu helfen.«
Beinahe wäre ich wieder gegangen. Ich blickte durch das kleine Fenster in der Tür des Klassenzimmers und sah einen Haufen Schüler auf Stühlen herumlümmeln, die lose im Kreis aufgestellt waren – und mittendrin saß Jessica Campbell, die mit ernster Miene auf die anderen einredete. Mrs Stone, die Betreuungslehrerin für den Schülerrat, saß etwas abseits an einem Tisch. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und einer ihrer Schuhe baumelte an ihren Zehen. Das erinnerte mich an ein Bild, das ich nach dem Amoklauf in der Zeitung gesehen hatte: ein einzelner hochhackiger Schuh, der herrenlos auf dem Gehweg vor der Schule herumlag – seine Besitzerin war zu verängstigt oder zu schwer verletzt oder zu tot, um zurückzukommen und ihn sich zu holen.
War es wirklich erst ein Jahr her, dass wir in der Aula gesessen und den Kandidaten für den Schülerrat bei ihren Wahlreden zugehört hatten? Dass Nick und ich mit unseren jeweiligen Kursen dort hereinmarschiert waren und von der anderen Seite des Raumes sofort nacheinander Ausschau gehalten hatten? Dass wir die Augen verdreht hatten, als die Schülerratskandidaten einer nach dem anderen die Bühne betraten, und uns mit Gesten gezeigt hatten, was wir nicht laut aussprechen konnten?
»Wen hast du heute in der Schulversammlung gewählt?«, hatte ich ihn gefragt, als wir abends zusammen waren. Er lag mit nacktem Oberkörper neben mir in dem Zelt, das wir auf der Wiese hinter seinem Haus aufgestellt hatten. Seit sich das Wetter geändert hatte, waren wir jeden Abend in diesem Zelt gewesen, es war unser Zufluchtsort, an dem wir allein sein und einander vorlesen konnten und miteinander über das sprachen, was uns wichtig war.
Er schaltete seine Taschenlampe an und richtete sie auf das Zeltdach. Die Silhouette einer Spinne tanzte in dem Lichtstrahl, sie zappelte sich ab, um hoch an die Spitze des Zeltes zu kommen. Ich überlegte, was sie wohl tun wollte, wenn sie erst oben war. Oder war das einfach die Art, wie Spinnen ihr Leben verbrachten – sich abzappeln, bis man irgendwo oben angekommen ist, und das war schon alles?
»Gar keinen«, antwortete Nick mürrisch. »Wozu denn? Ist mir doch egal, wer da gewinnt.«
»Ich hab Homer Simpson auf den Zettel geschrieben«, sagte ich. Wir lachten beide. »Hoffentlich wird Jessica Campbell nicht Schülersprecherin.«
»Na klar wird sie das«, sagte er. Er knipste die Lampe wieder aus und auf einmal war es total finster im Zelt. Ich sah überhaupt nichts mehr – nur die Wärme, die von Nicks Körper ausging, verriet mir, dass ich nicht allein war. Ich reckte mich in meinem Schlafsack und kratzte mich mit dem Zeh vom andern Fuß am Unterschenkel. Auf einmal war ich mir sicher, dass die Schattenspinne jetzt, wo ich sie nicht mehr sehen konnte, garantiert überall auf mir herumkrabbeln würde – ihre nächste Eroberung wäre ich.
»Glaubst du, unser Abschlussjahr wird anders?«, fragte ich.
»So nach dem Motto, wenn wir Jessica Campbell wählen, nennt sie dich nicht mehr Todesschwester und Chris Summers hört auf, ein Arschloch zu sein?«, fragte er zurück. »Nein, das glaube ich nicht.«
Danach schwiegen wir beide und hörten den Fröschen draußen vor unserm Zelt zu, die bei einem Tümpel links von uns ein Konzert veranstalteten.
»Da müssten wir uns selbst drum kümmern«, hatte er ganz leise hinzugefügt.
Mir wurde schwindelig, als ich jetzt im Korridor vor der Tür des Schülerrats stand, und ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Backsteinwand. Ich würde ein paarmal tief durchatmen und dann wieder verschwinden. Ich konnte das hier nicht durchziehen. Auf gar keinen Fall. Leute waren gestorben, die Situation war derart verfahren, dass nichts auf der Welt sie retten konnte.
Jemand musste mich gesehen haben. Die Tür ging auf.
»Hey«, sagte eine Stimme. »Schön, dass du gekommen bist.«
Ich blickte hoch. Jessica stand in der Tür. Sie signalisierte mir, ich solle hereinkommen. Mein Körper schaltete auf Autopilot und ich folgte ihr.
Alle Blicke lagen auf mir. Man könnte sagen, nicht alle diese Gesichter schauten freundlich, aber das wäre krass untertrieben. Kein einziges tat das. Nicht mal das von Jessica. Ihr Gesichtsausdruck war sachlich, fast geschäftsmäßig – mit dem gleichen Blick hätte sie auch einen Gefangenen in die Todeszelle führen können.
Meghan Norris glotzte mich mit leicht gesenkten Lidern und gespitzten Lippen an, ihre Knie wippten unter dem Tisch ungeduldig auf und ab. Als ich ihren Blick erwiderte, verdrehte sie die Augen und sah aus dem Fenster hinaus.
»Okay«, sagte Jessica und nahm wieder Platz. Ich setzte mich neben sie und hielt meine Bücher dabei eng an mich gepresst. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Ich atmete tief ein, hielt zehn Sekunden lang die Luft an und atmete dann ganz langsam wieder aus, so lautlos, wie ich nur konnte. »Okay«, wiederholte sie. Sie sortierte die Blätter in ihrer Hand, ganz die Geschäftsfrau. »Ich habe mit Mr Angerson geredet. Wir bekommen in jedem Fall einen Platz in der nordwestlichen Ecke vom Schulhof, direkt neben den Türen zur Cafeteria. Wir können dort alles aufstellen, was wir wollen, solange wir die Zustimmung vom Schulelternrat haben, was kein großes Problem sein dürfte.«
»Und das darf dann auch dort stehen bleiben?«, fragte Micky Randolf.
Jessica nickte. »Ja. Wir präsentieren es auf unserer Abschlussfeier und danach kann es dort bleiben.«
»Wir könnten eine Skulptur aufstellen oder so«, sagte Josh.
»Ja, oder einen Baum pflanzen«, sagte Meghan aufgeregt – offenbar hatte sie einen Moment lang vergessen, dass ich die Luft um sie herum verpestete.
»Skulpturen sind teuer«, wandte Mrs Stone ein. »Ist denn genug Geld da für etwas in dieser Größenordnung?«
Jessica wühlte in ihren Papieren herum. »Der Schulelternrat hat schon einen Beitrag zugesichert. Außerdem haben wir das, was auf unserem Konto ist. Und dazu die Einnahmen … aus dem Donutverkauf …« Einen Moment lang herrschte unbehagliches Schweigen. Seit dem 2. Mai waren keine Donuts mehr verkauft worden. Seit Abby Dempsey, Jessicas beste Freundin, am Donutstand getötet worden war. »Abby hätte gewollt, dass wir das Geld dafür verwenden«, sagte sie. Ich spürte Blicke auf mir, sah aber nicht hoch, um festzustellen, von wem sie kamen. Ich wand mich in meinem Stuhl, holte wieder tief Luft, hielt den Atem an und ließ ihn langsam herausströmen.
»Wir können uns was anderes ausdenken, um Geld aufzutreiben«, schlug Rachel Manne vor. »Wir könnten Lutscher verkaufen, mit einer Art Zustellservice wie bei Blumen.«
»Gute Idee«, sagte Jessica und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. »Und wir könnten eine große Eiscremeparty für die ganze Schule organisieren.«
»Eine Eiscremeparty, das ist gut. Ich würde mit Mr Hudspeth reden, vielleicht kann die Theatergruppe ein paar Showeinlagen dafür vorbereiten«, ergänzte Mrs Stone.
»Ja, super! Und der Schulchor würde bestimmt auch was aufführen«, sagte irgendwer anderer. Von überall her kamen jetzt Ideen angeflogen, alle redeten wild durcheinander. Zum Glück war ich dabei außen vor, alle hatten mich vergessen.
»Damit ist es beschlossen«, sagte Jessica, klappte ihren Block zu und legte den Stift weg. »Wir veranstalten eine Show und eine Eiscremeparty, um Geld aufzutreiben. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, was für eine Art Denkmal es denn sein soll. Hat jemand Ideen?« Sie verschränkte die Arme. Keiner sagte etwas.
»Eine Zeitkapsel«, sagte ich. Jessica blickte mich an.
»Wie meinst du das?«
»Wir könnten eine Zeitkapsel machen. Mit einer Plakette oder einer Tafel, damit man weiß, wo sie liegt, und es müsste festgelegt sein, wann sie geöffnet werden soll, in fünfzig Jahren oder so. Dann könnten die Leute sehen, dass mit dieser Schule … dass da nicht nur … na ja, dass da mehr war.«
Stille breitete sich im Raum aus, während alle darüber nachdachten.
»Wir könnten eine Bank daneben aufstellen«, ergänzte ich. »Und die Namen von den … den …« Auf einmal konnte ich nicht weiterreden.
»Den Opfern«, sagte Josh. Sein Stimme klang rau. »Das hast du doch sagen wollen, oder? Die Namen von den Opfern sollen auf der Bank stehen. Oder auf der Plakette.«
»Alle oder nur die, die gestorben sind?«, fragte Meghan. Um mich herum wurde die Luft schwer. Ich blickte nach unten, denn ich wollte lieber nicht so genau wissen, wen alle ansahen. Mir war klar, dass ich es sein musste.
»Alle«, sagte Josh. »Ginny Bakers Name zum Beispiel, der muss doch unbedingt drauf, oder?«
»Dann ist es aber keine Gedenkstätte im engeren Sinn«, warf Mrs Stone ein und plötzlich redeten wieder alle durcheinander.
»Aber Ginnys Gesicht …«
»… das ist doch egal, es könnte ja auch einfach ein Ort des Erinnerns sein …«
»… ich finde, da müssen alle Schüler aus der Abschlussklasse aufgeführt werden …«
»Schließlich sind wir auf irgendeine Art alle davon betroffen …«
»… könnte darum gehen, dass Leute ihr Leben verloren haben, aber vielleicht auch um andere Verluste, zum Beispiel …«
»… nicht nur unsere Klasse. Es sind ja auch Leute aus andern Stufen gestorben …«
»Aber wir kriegen’s nicht hin, die Namen von allen in der Schule draufzuschreiben …«
»Lasst uns alle draufschreiben, die gestorben sind«, sagte Jessica.
»Nicht alle«, sagte Josh derart laut, dass das Gerede der anderen verstummte. »Nicht alle«, wiederholte er. »Nick Levil kommt nicht drauf. Auf gar keinen Fall.«
»Streng genommen war er auch ein Opfer«, flüsterte Mrs Stone kaum hörbar. »Wenn ihr die Namen der Opfer draufschreiben wollt, sollte er auch dabei sein.«
Josh schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Ich finde das nicht richtig.«
»Ich auch nicht«, hörte ich mich sagen, bevor mir klar wurde, dass ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte. »Das wäre nicht fair den andern gegenüber.« Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt, als ich begriff, was ich da gerade tat. Nick war alles für mich gewesen. Ich glaubte immer noch nicht, dass er ein Monster war, auch nach allem, was er in der Schule angerichtet hatte. Und ich fühlte mich nicht schuldlos, was meine eigene Rolle in dem Ganzen betraf. Trotzdem hatte ich ihn gerade den andern zum Fraß vorgeworfen. Und warum? Damit der Schülerrat mit mir zufrieden war? Damit ich klarkam mit Leuten, die vor ein paar Monaten noch laut gelacht hatten, wenn Chris Summers Nick lächerlich gemacht oder Christy Bruter mich Todesschwester genannt hatte? Um mich Jessica Campbell gegenüber wichtigzutun, obwohl ich nicht mal genau wusste, ob sie mich hasste oder sich irgendwie geändert hatte? Oder glaubte ich etwa selbst, was ich eben gesagt hatte? War da plötzlich etwas hochgekommen, das mir bisher noch nicht bewusst gewesen war? Hatte ich eine verborgene Angst laut ausgesprochen – dass Nick und ich womöglich gar keine Opfer gewesen waren, sondern die schlimmsten Täter von allen?
In meinem Innern gab es einen Ruck, so jäh, dass ich ihn fast körperlich spürte. Ich konnte beinah zusehen, wie ich mich in zwei verschiedene Personen aufspaltete: die Valerie vor dem Amoklauf und die Valerie jetzt. Und die beiden passten einfach nicht zusammen.
Auf einmal war es mir unmöglich, hier sitzen zu bleiben und gemeinsame Sache mit den andern zu machen, statt auf Nicks Seite zu sein. »Ich muss los«, sagte ich. »Äh, meine Mutter wartet auf mich.« Ich schnappte mir meine Bücher und stürzte zur Tür hinaus. Auf einmal war ich unendlich froh darüber, dass ich Mom vorhin angerufen und ihr gesagt hatte, sie sollte zur gleichen Zeit wie immer kommen und auf mich warten, nur für den Fall, dass ich doch zu viel Schiss bekam, um zu dem Treffen zu gehen. Moms Misstrauen mir gegenüber kam mir jetzt entgegen – ich wusste genau, sie würde da sein. Die Fenster der Schule fest im Blick vor lauter Angst, es könnte etwas passieren, würde sie draußen im Auto sitzen und beim Warten wahrscheinlich an den Fingernägeln kauen.
Ich wagte es nicht nachzudenken, bis ich sicher vor der Schule und in Moms Auto angekommen war. Wagte nicht, auch nur für einen Moment innezuhalten, bevor ich in den Sitz sank und alle Türen zwischen mir und den Leuten vom Schülerrat zugesperrt waren.
»Fahr«, sagte ich. »Fahr einfach nach Hause.«
»Was ist los?«, fragte Mom. »Was ist denn passiert, Valerie? Was war auf dem Treffen?«
»Das Treffen ist vorbei«, sagte ich und schloss die Augen. »Fahr einfach.«
»Aber warum rennt dieses Mädchen da aus der Tür? O Gott, Valerie, warum rennt sie?«
Ich machte die Augen wieder auf und linste aus dem Beifahrerfenster. Jessica näherte sich im Laufschritt dem Wagen.
»Fahr endlich los!«, rief ich. »Bitte, Mom!«
Da trat Mom aufs Gas, wohl ein bisschen zu viel, denn wir schossen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Im Seitenspiegel sah ich Jessica immer kleiner und kleiner werden. Sie stand am Bordstein, genau an der Stelle, wo ich eben ins Auto gestiegen war, und sah uns auch immer kleiner und kleiner werden.
»Mein Gott, Valerie, was ist denn passiert? Was war da bloß los? Gott, sag endlich, dass nichts passiert ist. Valerie, das halt ich nicht aus, wenn noch was passiert ist.«
Ich ignorierte sie. Erst als mich etwas im Gesicht kitzelte und ich beim Wegreiben merkte, dass es eine Träne war, die mir die Wange hinunterlief, begriff ich, dass mein Schweigen einen anderen Grund hatte. Ich ignorierte sie nicht wirklich, ich weinte nur zu sehr, um ihr zu antworten.
Einen Augenblick später bogen wir in die Zufahrt ein. Als Mom vor dem sich öffnenden Garagentor kurz anhielt, rannte ich los. Ich bückte mich unter dem Tor durch und lief ins Haus. Ich war auf halbem Weg die Treppen hoch, als ich sie unten in der Küche ins Telefon schnauzen hörte: »Dr. Hieler bitte. Ja, es ist dringend, verdammt noch mal.«