Meistens fand ich es einfach nur absurd, dass Mom Frankie zur Schule brachte, weil er es nicht aushielt, mit dem Bus zu fahren, während ich mit dem Bus fuhr, weil ich die quälende Autofahrt mit Mom nicht aushielt. Aber es gab auch Tage, an denen ich mir wünschte, ich hätte mir einen Ruck gegeben und Moms morgendliche Moralpredigten über mich ergehen lassen. Manchmal war Busfahren nämlich die Hölle.
Meistens kroch ich auf einen Platz irgendwo in der Mitte, ließ mich in C-Form zusammensinken und hörte – mit den Knien am Vordersitz – Musik von meinem MP3-Player. Ich versuchte, komplett abzutauchen.
Aber in letzter Zeit hatte mich Christy Bruter beim Busfahren extrem genervt. Das war eigentlich nichts Neues, schließlich hatte ich Christy Bruter noch nie ausstehen können. Sie war eins von diesen Mädchen, die nur darum beliebt sind, weil sich kaum einer traut, nicht mit ihnen befreundet zu sein. Christy war groß und stämmig, ihr Bauch ragte angriffslustig vor und mit ihren gigantischen Oberschenkeln konnte sie Schädel zerquetschen. Trotz ihrer Figur war sie Spielführerin vom Softballteam – wie das zusammenging, hatte ich nie begriffen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Christy Bruter schneller als irgendwer sonst an der First Base ankam. Aber ab und zu muss sie das wohl geschafft haben. Oder der Trainer hatte einfach nicht genug Mumm gehabt, sich gegen sie zu entscheiden, wer weiß?
Jedenfalls kannte ich Christy schon aus dem Kindergarten und hatte mir seither nicht mal eine Sekunde lang vorstellen können, sie zu mögen. Umgekehrt war es genauso. Am ersten Elternabend im Schuljahr hatte Mom jedes Mal meine Lehrerin beiseitegenommen und sie gebeten, darauf zu achten, dass Christy und ich nie zusammen in einer Gruppe wären. »Ich denke, es gibt für jeden diesen einen Menschen …«, hatte Mom mit einem entschuldigenden Lächeln zu der Lehrerin gesagt. Christy Bruter war für mich dieser eine Mensch.
In der Grundschule hatte mich Christy jahrelang nur »Hasenzahn« genannt. In der sechsten Klasse hatte sie das Gerücht in die Welt gesetzt, ich würde Stringtangas tragen, was in dem Alter noch ein echter Skandal war. Als wir dann auf die Highschool kamen, beschloss sie, dass meine Art, mich zu schminken und anzuziehen, total daneben war, und begann, mich Todesschwester zu nennen, was die andern superkomisch fanden.
Zum Glück stieg sie immer erst zwei Stationen nach mir ein, sodass ich genug Zeit hatte, mit der Umgebung zu verschmelzen, bevor sie im Bus aufkreuzte. Angst vor ihr hatte ich zwar nicht, aber ich war es leid, mich dauernd mit ihr rumschlagen zu müssen.
Auch an diesem Morgen sank ich in meinen Sitz und rutschte nach unten, bis mein Kopf kaum noch über die Lehne ragte, dann steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und schaltete den MP3-Player ein. Aus dem Fenster spähend malte ich mir aus, wie gut es wäre, nachher Nicks Hand zu halten. Ich konnte es kaum erwarten, endlich in die Schule zu kommen und ihn zu sehen. Ich sehnte mich so danach, den Zimtkaugummi in seinem Atem zu riechen und in der Mittagspause meinen Kopf in seinen Arm zu schmiegen – ich würde mich sicher und beschützt fühlen und der Rest der Welt könnte mir nichts anhaben. Christy Bruter. Jeremy. Mom und Dad und ihre dämlichen »Diskussionen«, die jedes Mal in wüstes Gebrüll ausarteten und damit endeten, dass Dad aus dem Haus schlüpfte und in der Dunkelheit verschwand, während Mom in ihrem Zimmer dramatisch vor sich hinschniefte.
Der Bus hielt an der ersten Haltestelle, dann an der zweiten. Mein Blick klebte die ganze Zeit über am Fenster. Gerade beobachtete ich einen Terrier, der vor einem Haus eine Tüte mit Abfall durchwühlte. Sein Schwanz wedelte wild und sein Kopf verschwand fast ganz in der Mülltüte. Ich fragte mich, wie er da drin Luft kriegte und was er wohl Aufregendes gefunden haben konnte.
Der Bus fuhr wieder an und ich stellte meinen MP3-Player lauter. Je mehr Leute einstiegen, umso schlimmer wurde nämlich der Krach. Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Da stieß jemand gegen meine Schulter. Ich hielt das für einen zufälligen Rempler im Vorbeigehen und reagierte gar nicht darauf. Doch dann kam noch ein Stoß, jemand schnappte das Kabel und riss mir den Ohrhörer aus dem rechten Ohr. Jetzt baumelte er lose vor mir in der Luft, Musik drang verzerrt daraus hervor.
»Was soll der Mist?«, sagte ich, zog mir den Hörer aus dem linken Ohr und wickelte das Kabel wieder ordentlich auf. Als ich nach rechts blickte, grinste mich von der andern Seite des Gangs Christy Bruter an. »Lass mich zufrieden, Christy.«
Ellen, ihre hässliche rothaarige Freundin – sie war genauso ein Wummer wie Christy, hatte ein Gesicht wie ein Kerl und spielte auch Softball –, lachte laut, aber Christy selbst sah mich nur mit unschuldigem Augenaufschlag an.
»Keine Ahnung, wovon du redest, Todesschwester. Wahrscheinlich hast du Halluzinationen. Hast vielleicht ’nen schlechten Trip erwischt oder so. Oder es war der Teufel.«
Ich verdrehte die Augen. »Und wennschon.« Ich schob mir die Ohrhörer wieder rein, setzte mich bequem in meinem Sitz zurecht und klappte die Augen zu. Ich wollte ihr nicht das Vergnügen machen, dass ich mich gegen diesen Quatsch auch noch wehrte.
Gerade als der Bus in die Straße vor der Schule einbog, rempelte sie mich wieder an, riss aber diesmal gleichzeitig so stark am Ohrhörerkabel, dass mir der komplette MP3-Player aus der Hand flog, über den Boden schlitterte und eine Sitzreihe vor mir liegen blieb. Ich hob ihn auf. Das grüne Licht an der Seite leuchtete nicht mehr und das Display war schwarz. Ich schaltete ihn kurz aus und wieder an, aber nichts passierte. Das Ding war kaputt.
»Verdammt! Was ist dein Problem?«, fragte ich mit lauter Stimme.
Ellen machte sich schon wieder ins Hemd vor lauter Kichern, genauso wie ein paar andere Fans von Christy weiter hinten im Bus. Christy sah mich wieder mit diesem pseudomäßig erstaunten Blick an.
Die Bustüren öffneten sich und wir standen alle auf. Das muss eine Art Schülerinstinkt sein. Egal, was gerade los ist – wenn sich die Bustüren öffnen, stehen alle auf. Ein Gesetz des Lebens. Man wird geboren, man stirbt und man steht auf, wenn sich die Bustüren öffnen.
Christy und ich standen direkt nebeneinander. Ich konnte fast riechen, was sie gefrühstückt hatte. Sie grinste verächtlich und musterte mich mit einem langen Blick von oben bis unten.
»Musst wohl zur nächsten Beerdigung, was? Nimm dir statt Nick doch einfach ’ne hübsche kalte Leiche. Das wär doch was für dich, oder? Obwohl, Blödsinn, Nick ist ja selber die reinste Leiche.«
Ich sah ihr direkt in die Augen. Auf gar keinen Fall würde ich klein beigeben. Sie machte immer dieselben blöden Witze, schon seit ewigen Zeiten, aber anscheinend wurde ihr nicht langweilig dabei. Mom hatte mir mal gesagt, wenn ich Christy einfach ignorierte, hätte sie irgendwann keinen Spaß mehr dran, mich zu ärgern. Aber an Tagen wie heute war das leichter gesagt als getan. Auch wenn ich dieses Gerangel total satthatte – dass sie meine Sachen kaputt machte, würde ich ihr auf gar keinen Fall durchgehen lassen.
Ich drückte mich an ihr vorbei auf den Gang, wo sich jetzt alle in Bewegung setzten. »Egal was dein Problem ist«, begann ich und hielt meinen MP3-Player hoch, »für das hier wirst du jedenfalls zahlen.«
»Oh, ich zitter schon vor Angst«, antwortete sie.
Irgendwer anderer warf ein: »Pass auf, Christy, die verhext dich noch«, und alle lachten.
Ich ging den Gang entlang, stieg aus, düste hinter dem Bus vorbei und rannte zur Tribüne hinüber, wo auf einer der oberen Bänke Stacey, Duce und David rumhockten wie an jedem andern Morgen auch.
Wütend und außer Atem kletterte ich zu ihnen hoch.
»Hey«, sagte Stacey. »Was ist los? Du siehst total sauer aus.«
»Stimmt«, antwortete ich. »Guck dir an, was Christy Bruter, dieses Miststück, mit meinem Player gemacht hat!«
»Oh, verdammt«, sagte David. Er nahm ihn mir aus der Hand und versuchte ein paarmal, ihn an- und auszustellen. »Vielleicht kann man den ja reparieren lassen oder so.«
»Ich will ihn nicht reparieren lassen, verdammt noch mal«, sagte ich. »Ich will sie umbringen. Echt, ich könnt ihr den Kopf abreißen. Das wird sie noch bereuen. Das zahl ich ihr heim, und wie!«
»Lass die doch«, meinte Stacey. »Das ist einfach eine blöde Kuh. In Wirklichkeit kann keiner sie ausstehen.«
Ein schwarzer Camaro donnerte auf den Parkplatz und blieb neben dem Footballfeld stehen. Als ich Jeremys Auto erkannte, schlug mein Herz schneller. Für einen Augenblick vergaß ich sogar den MP3-Player.
Die Beifahrertür öffnete sich und Nick kletterte heraus. Er trug die dicke schwarze Jacke, die er in letzter Zeit meistens anhatte. Den Reißverschluss hatte er zum Schutz gegen den Wind bis ganz nach oben hochgezogen.
Ich hüpfte ein paar Stufen hinunter und rief laut nach ihm.
»Nick!«, schrie ich und wedelte wild mit den Armen.
Er sah mein Winken, hob das Kinn und änderte seine Richtung. Mit langsamen, gezielten Schritten kam er direkt auf mich zu. Ich sprang die Tribüne nun ganz hinunter und lief über den Rasen auf ihn zu.
»Hallo, Baby«, sagte ich, als ich ihn erreichte, und schlang die Arme um ihn. Kurz schien er mir auszuweichen, doch dann beugte er sich vor und küsste mich, drehte mich herum und legte mir den Arm um die Schultern wie immer. Es fühlte sich unglaublich gut an, wieder seinen Arm um mich zu spüren.
»Hallo«, sagte er. »Was treibt ihr so, ihr Loser?« Mit dem freien Arm tauschte er mit Duce eine Art Handschlag und haute David auf die Schulter.
»Wo hast du dich denn die ganze Zeit rumgetrieben?«, fragte David.
Nick grinste ein bisschen und mir fiel plötzlich auf, dass er irgendwie seltsam wirkte. Er sprühte vor Energie, war total überdreht.
»Hab zu tun gehabt«, antwortete er einsilbig. Seine Augen wanderten über die Vorderfront der Schule. »Hab zu tun gehabt«, wiederholte er, aber so leise, wie er es sagte, hörte es wahrscheinlich keiner außer mir. Allerdings hatte ich sowieso nicht das Gefühl, dass er mit einem von uns redete. Ich hätte schwören können, er spräche mit der Schule. Mit dem Gebäude und dem wilden Gewusel davor und darin, das an einen Ameisenhaufen erinnerte.
In diesem Moment schlappte Mr Angerson auf uns zu und begann, mit seiner Direktorenstimme zu reden, die wir auf Partys so gern nachäfften: Wirklich, liebe Schülerinnen und Schüler, Bier ist schädlich für das Wachstum des Gehirns. Achtet darauf, liebe Schülerinnen und Schüler, dass ihr ein gesundes Frühstück zu euch nehmt, bevor ihr in die Schule kommt. Und vor allem, liebe Schülerinnen und Schüler, sagt Nein zu Drogen!
Stacey und ich kicherten und schubsten uns gegenseitig mit dem Ellbogen, als er loslegte: »Also, liebe Schülerinnen und Schüler, ihr werdet doch nicht herumtrödeln wollen. Es ist Zeit für den Unterricht.«
Duce salutierte und bewegte sich im Marschschritt Richtung Schulgebäude. Lachend folgten ihm Stacey und David. Ich wollte auch los, doch ich spürte, wie mich Nicks Arm zurückhielt. Also blieb ich stehen und sah zu ihm hoch. Er starrte immer noch die Schule an, mit einem leisen Lächeln um die Mundwinkel.
»Lass uns mal los, sonst kriegt Angerson einen Anfall«, sagte ich und zog an Nicks Arm. »Hey, wie wär’s, wenn wir in der Mittagspause rübergehen zu Casey’s?«
Er gab keine Antwort, sondern starrte nur weiter die Schule an, total in sich versunken.
»Nick? Wir müssen los«, wiederholte ich. Keine Reaktion. Daraufhin schubste ich ihn kurz mit der Hüfte an. »Nick?«
Er blinzelte und sah mich an, wieder total aufgedreht und mit diesem seltsamen Lächeln im Gesicht. Ich fragte mich, was für ein Zeug er und Jeremy heute Morgen wohl eingeworfen hatten. Nick war jedenfalls total eigenartig drauf.
»Ja«, sagte er. »Ja. Gibt viel zu tun heute.«
Wir liefen los, unsere Hüften berührten sich bei jedem Schritt.
»Ich würd dir ja meinen MP3-Player ausleihen, aber Christy Bruter hat ihn im Bus geschrottet«, sagte ich und hielt ihm das Teil hin. Er warf einen kurzen Blick darauf und sein Lächeln wurde breiter. Er drückte mich eng an sich und lief plötzlich viel schneller mit mir Richtung Eingangstür.
»Der wollt ich’s schon lange mal zeigen«, sagte er.
»Die hat’s auch echt verdient. Ich hasse sie«, jammerte ich. Da ich nun endlich Nicks Aufmerksamkeit hatte, wollte ich so viel wie möglich aus dieser Geschichte rausholen. »Ich hab keine Ahnung, was ihr Problem ist.«
»Ich kümmer mich drum.«
Aufgeregt lächelte ich. Der Ärmel von Nicks Jacke rieb an meinem Nacken entlang. Das fühlte sich gut an. Irgendwie echt. Als ob alles in Ordnung wäre, solange nur dieser Ärmel an meinem Nacken entlangrieb, auch wenn Nick offenbar irgendwas vorhatte. Jetzt in diesem Moment war er jedenfalls hier bei mir, hielt mich im Arm und wollte etwas für mich tun. Nicht für Jeremy. Sondern für mich.
Als wir an die Eingangstür kamen, ließ Nick meine Schultern los. Genau in diesem Moment fegte ein Windstoß heran und fuhr unter mein Shirt, das sich aufblähte. Plötzlich war mein Rücken ganz kalt und ich zitterte.
Nick hielt mir die Tür auf und ließ mich durchgehen.
»Lass uns das hier durchziehen«, sagte er. Ich nickte und riss auf dem Weg zur Cafeteria die Augen weit nach Christy Bruter auf, mit klappernden Zähnen.