»Erzähl mir was über diesen Spitznamen für dich – Todesschwester«, verlangte Detective Panzella am nächsten Morgen, kaum dass er das Zimmer betreten hatte. Diesmal hielt er sich gar nicht erst auf mit einer Einleitung, es gab kein Wie geht’s deinem Bein?. Nein, es ging gleich los: Erzähl mir was über diesen Spitznamen.
»Was gibt’s da zu erzählen? Es war einfach so ein blöder Name«, sagte ich und stellte das Kopfende meines Betts hoch, damit ich leichter sitzen konnte. Ich hatte mir gerade – noch mal – die Ausdrucke angesehen, die er am Vortag dagelassen hatte, und war ziemlich mies drauf. Dieses ganze Zeug, über das wir geredet hatten – warum hatte ich die Katastrophe nicht kommen sehen? Wieso hatte ich nicht kapiert, dass es Nick ernst war?
Panzella blätterte in seinem kleinen Notizbuch und nickte. »Wie ist er entstanden?«
»Was? Meinen Sie, warum die andern mich so genannt haben? Wegen meinem Lidstrich. Weil ich schwarze Jeans trage und mir die Haare schwarz färbe. Keine Ahnung, warum. Fragen Sie doch die andern. Ich hab mir den Namen schließlich nicht selbst ausgesucht.«
Das hatte ich wirklich nicht, da war ich mir ganz sicher. Trotzdem hatten im Fernsehen ein paar Leute so darüber geredet, als wäre das der Fall. Christy Bruter war für mich eben »dieser eine Mensch« gewesen, wie meine Mutter sich immer ausdrückte. Dieser eine Mensch, der gesehen hatte, wie schwach und verletzlich ich war, und der daraufhin sofort losgeschlagen hatte. Diese eine Person, die genug andere im Schlepptau hatte, um jeden Spitznamen durchzusetzen, der ihr in den Sinn kam, diese eine Person, die die Macht hatte, mir das Leben zur Hölle zu machen. Es hatte Christy einfach gefallen, mir irgendwelche blöden Namen anzuhängen. Jessica Campbell und Meghan Norris hatte es auch gefallen. Und Chris Summers hatte Nick eben bei jeder Gelegenheit fertiggemacht. Warum? Woher sollte ich das wissen?
»Es ging bei dem Spitznamen also nicht darum, dass du zusammen mit Nick Leute umbringen wolltest?«
»Nein! Das hab ich doch schon gesagt. Ich habe überhaupt nichts geplant mit Nick. Ich hab nicht mal gewusst, dass Nick irgendwas plant. Es war einfach nur ein blöder Spitzname, den ich gehasst habe wie die Pest.«
Er blätterte um. »Ein blöder Spitzname, mit dem Christy Bruter angefangen hat.«
Ich nickte.
»Das Mädchen, auf das Nick, wie es aussieht, zuerst geschossen hat. Auf den Überwachungsbändern kann man diese Szene allerdings nicht so gut erkennen. Man sieht nur, wie du und Nick ihr gegenübertretet, dann fällt Christy um und alle rennen weg.«
»Ich hab nicht auf sie geschossen, falls Sie das glauben«, sagte ich. »Das hab ich nicht getan.«
Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und beugte sich zu mir vor. »Sag du mir, was ich glauben soll. Sag mir, wie es wirklich abgelaufen ist. Wir wissen nur, was wir sehen. Und wir sehen, wie du deinem Freund zeigst, wo Christy Bruter ist. Es gibt mindestens drei Schüler, die das bestätigen können.«
Ich nickte und fuhr mir mit den Fingern über die Stirn. Ich fühlte mich schläfrig und war mir ziemlich sicher, dass der Verband an meinem Bein gewechselt werden musste.
»Wie wär’s, wenn du mir erzählst, warum du das getan hast?«
»Ich wollte, dass Nick sie zur Rede stellt«, sagte ich beinahe flüsternd. »Sie hat meinen MP3-Player kaputt gemacht.«
Panzella stand auf, ging zum Fenster und ließ die Jalousien ein Stück herunter, sodass die Sonne nicht mehr direkt ins Zimmer schien. Ich zwinkerte mit den Augen. Der Raum sah jetzt finster aus. Als würde Mom nie mehr zurückkommen. Als müsste ich bis ans Ende meiner Tage in diesem Bett liegen und mich von diesem Polizisten verhören lassen. Sogar dann noch, wenn ich mich vor Schmerzen wand, wenn sich die Schusswunde in meinem Bein entzündete und mein ganzer Oberschenkel in sich zusammenfiel.
Er zog einen zweiten Stuhl heran und stellte ihn auf die andere Seite vom Bett, setzte sich drauf und kratzte sich am Kinn.
»Okay«, sagte er. »Du bist also in die Cafeteria gegangen und hast deinem Freund gezeigt, wo Christy ist. Und dann hat sie auf einmal ein großes Loch im Bauch. Dazwischen fehlt doch was, Valerie. Was ist da passiert?«
Ich merkte, wie mir eine Träne entwischte. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was passiert ist, das schwöre ich. In dem einen Moment sind wir beide noch einfach in die Cafeteria gegangen, wie an jedem andern Tag auch, und im nächsten sind alle brüllend durcheinandergerannt.«
Detective Panzella spitzte die Lippen und schloss sein Notizbuch, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und fixierte einen Punkt an der Decke, als stünde dort etwas geschrieben. »Nach Augenzeugenberichten hast du dich gleich nach dem Schuss neben Christy hingekniet, dann bist du wieder aufgestanden und weggerannt. Angeblich hat es so ausgesehen, als hättest du dich vergewissern wollen, dass der Schuss sie erwischt hat, und als wärst du erst danach weitergelaufen. Du wolltest sie offenbar sterben lassen. Ist das richtig?«
Ich presste die Augen so fest zusammen, wie ich nur konnte, denn ich wollte auf gar keinen Fall vor mir sehen, wie Christy Bruters Bauch geblutet und wie ich meine Hände gegen die Wunde gedrückt hatte. Wollte die Panik nicht noch einmal spüren, die mir an diesem Tag in der Kehle hochgestiegen war. Wollte den Gestank von Schießpulver in der Luft nicht riechen und die Schreie nicht hören. Noch mehr Tränen liefen mir das Gesicht herunter. »Nein, ist es nicht.«
»Du bist also nicht weggerannt? Auf den Videobändern sieht es aber so aus.«
»Nein – ich meine, ja, ich hab sie liegen lassen, aber ich bin nicht weggerannt. Jedenfalls nicht, um sie sterben zu lassen. Ehrlich. Ich bin von ihr weg, weil ich unbedingt Nick finden musste. Ich musste ihn doch dazu bringen, dass er aufhört.«
Er nickte und blätterte wieder in seinem Buch. »Und was hast du noch mal zu deiner Freundin Stacey Brinks gesagt, als du an diesem Morgen aus dem Bus gestiegen bist?«
Schmerz hämmerte in meinem Bein und auch in meinem Kopf. Meine Kehle war trocken vom vielen Reden. Und ich bekam langsam Angst. Ich wusste nicht mehr, was ich zu Stacey gesagt hatte. Inzwischen war ich an dem Punkt, wo ich mich an fast gar nichts mehr erinnerte. Und ich hatte keine Ahnung, ob ich dem, woran ich mich doch noch erinnerte, trauen konnte.
»Na?«, sagte er. »Hast du irgendwas zu Stacey Brinks gesagt, nachdem du aus dem Bus gestiegen bist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nach Staceys Angaben hast du etwas in der Art gesagt wie: ›Ich könnte sie umbringen. Das wird sie noch bereuen.‹ Hast du das gesagt?«
Genau in diesem Moment kreuzte eine Schwester auf. »Es tut mir leid, Sir, aber ich muss den Verband vor Schichtende noch wechseln«, sagte sie.
»Natürlich«, antwortete Detective Panzella. Er stand auf und bahnte sich einen Weg zwischen den Maschinen und Drähten hindurch. »Wir reden dann später weiter«, sagte er zu mir.
Ich wünschte mir sehnlichst, aus später würde niemals werden. Hoffte, dass zwischen jetzt und später ein Wunder geschehen würde und er keine Antworten mehr von mir erwartete.