Dr. Hielers Praxis war gemütlich und hätte auch zu einem Gelehrten gepasst – eine Insel von Büchern und sanfter Rockmusik in einem Meer von anstaltsmäßiger Nüchternheit. Seine Sekretärin, eine gelassene junge Frau mit dunkler Haut und langen Fingernägeln, die sich knapp und professionell gab, führte mich und Mom aus dem Wartezimmer zum Allerheiligsten, als wären wir hier, um besonders seltene Diamanten zu kaufen. Sie brachte mir eine Cola und Mom eine Flasche Wasser, dann deutete sie armwedelnd auf eine offene Bürotür. Wir traten ein.
Dr. Hieler kam hinter seinem Schreibtisch hervor, nahm dabei seine Brille ab und schenkte uns ein Lächeln mit geschlossenen Lippen, das seine Augen traurig wirken ließ. Aber vielleicht waren seine Augen sowieso immer traurig. Wenn ich mir den ganzen Tag lang irgendwelche Geschichten über Elend und seelische Verletzungen anhören müsste, würden meine Augen wahrscheinlich auch traurig aussehen.
»Hi«, sagte er und hielt Mom seine Hand entgegen. »Ich bin Rex.«
Mom streckte den Arm aus und wirkte dabei viel zu steif und zu förmlich. »Guten Tag, Dr. Hieler«, sagte sie. »Ich bin Jenny Leftman. Das hier ist meine Tochter Valerie.« Sie wandte sich zurück und berührte mich leicht an der Schulter, um mich ein wenig nach vorne zu schieben. »Dr. Dentley aus dem Kreiskrankenhaus hat uns hierher überwiesen.«
Dr. Hieler nickte, er wusste das alles und ihm war auch klar, was als Nächstes aus Moms Mund kommen würde. »Valerie geht auf die Garvin-Highschool. Oder vielmehr ging sie dorthin«, berichtigte sie. Vergangenheitsform.
Dr. Hieler ließ sich in einen dick gepolsterten Sessel sinken und bedeutete uns, dass wir auf dem Sofa direkt gegenüber von ihm Platz nehmen sollten. Ich plumpste hinein und sah Mom dabei zu, wie sie sich mit steifem Rücken ganz vorne auf die Kante setzte, als hätte sie Angst, sich schmutzig zu machen. Auf einmal fand ich alles, was Mom sagte oder tat, peinlich, ärgerlich, frustrierend. Ich hätte sie am liebsten aus dem Raum geschubst. Noch lieber hätte ich mich weggeschubst.
»Wie gesagt«, fuhr Mom fort, »Valerie war dabei, als der Amoklauf passiert ist.«
Dr. Hielers Augen wanderten zu mir, aber er sagte kein Wort.
»Sie, nun ja, sie kannte den jungen Mann im Mittelpunkt von alldem«, schloss Mom. Ich konnte das auf einmal alles nicht mehr ertragen, diese ganze falsche Tour.
»Kannte«, fauchte ich. »Er war mein Freund, Mom. Himmel noch mal!«
Einen Moment lang war es still und Mom rang sichtbar um ihre Fassung. (Allzu sichtbar für mein Gefühl, es kam mir so vor, als täte sie es in erster Linie für Dr. Hieler – sie wollte ihm zeigen, mit was für einer grässlichen Tochter sie gestraft war.)
»Das tut mir sehr leid«, sagte Dr. Hieler ganz leise und zuerst glaubte ich, er spräche mit Mom. Doch als ich aufsah, blickte er mich direkt an, nahm mich in sich auf.
Dann war es lange Zeit still, Mom schniefte in ein Papiertaschentuch und ich starrte meine Schuhe an, wobei ich Dr. Hielers Blick oben auf meinem Kopf spürte.
Schließlich brach Mom das Schweigen, mit einer Stimme, die schrill durch die drückende Luft tönte. »Tja, ihr Vater und ich, wir sind natürlich sehr besorgt um sie. Sie hat eine Menge zu verarbeiten und wir wollen, dass sie mit ihrem Leben weitermachen kann.«
Ich schüttelte den Kopf. Mom glaubte immer noch daran, dass ich ein Leben hätte, mit dem ich weitermachen könnte.
Dr. Hieler holte tief Luft und beugte sich in seinem Sessel vor. Endlich wandte er den Blick von mir ab und schaute wieder Mom an. »Nun ja«, sagte er mit leiser Stimme, die sich wie ein Wiegenlied anfühlte, »mit dem Leben weitermachen ist wichtig. Aber im Moment könnte es noch wichtiger sein, die Gefühle rauszulassen, mit ihnen umzugehen und einen Weg zu finden, um mit dem, was passiert ist, zurechtzukommen.«
»Sie redet nicht darüber«, wandte Mom ein. »Seit sie aus dem Krankenhaus ist, hat sie die ganze Zeit …«
Aber Dr. Hieler brachte sie mit einem Blick zum Schweigen, seine Augen ruhten nun wieder auf mir.
»Hör mal, ich werd dir jetzt nicht erzählen, dass ich wüsste, wie du dich fühlst. Ich will das, was du durchlebst, nicht damit entwerten, dass ich dir einrede, ich könnte mir vorstellen, wie es ist«, sagte er zu mir. Ich sagte nichts. Er bewegte sich in seinem Sessel. »Wie wär’s, wenn wir so anfangen: Wir werfen deine Mutter raus und dann reden du und ich für eine Weile. Wär das okay für dich?«
Ich gab keine Antwort.
Mom dagegen wirkte erleichtert. Sie stand auf. Auch Dr. Hieler erhob sich und ging mit ihr Richtung Tür.
»Ich arbeite viel mit Jugendlichen in Valeries Alter«, sagte er leise. »Ich neige dazu, sehr offen und direkt zu sein. Nicht harsch, nur direkt. Wenn es etwas gibt, das auf den Tisch muss, kommt es auf den Tisch, damit wir daran arbeiten und rauskriegen können, ob wir einen Weg finden, der hindurchführt und mit dem etwas besser wird. Ich neige dazu, anfangs vor allem zuzuhören und meine Unterstützung anzubieten.« Er wandte sich um, sah mich an und sagte alles, was dann kam, zu uns beiden – zu mir auf dem Sofa und zu Mom mit ihrer Hand am Türknauf. »Später kann es sein, dass es irgendetwas in deinem Leben gibt, das du ändern solltest. Muss aber nicht sein. Falls ja, reden wir drüber. Höchstwahrscheinlich werden wir in dieser Phase dann auch mehr über einzelne Gedanken und Verhaltensweisen reden. Gibt es dazu Fragen?«
Ich sagte nichts.
Moms Hand löste sich vom Türknauf. »Haben Sie schon mal mit einer Sache wie dieser zu tun gehabt?«
Dr. Hieler blickte kurz zur Seite. »Ich hatte mit Gewalt zu tun. Aber mit etwas wie dem hier noch nicht. Ich denke, dass ich helfen kann, aber ich will nicht lügen und so tun, als wüsste ich ganz genau Bescheid.« Er sah mich wieder direkt an und ich war mir total sicher, dass diesmal echter Schmerz in seinen Augen lag. »Was du durchgemacht hast, ist richtig beschissen.«
Ich sagte immer noch nichts. Mit Dr. Hieler war Schweigen leichter. Dr. Dentley hätte mich dafür eingesperrt, Dr. Hieler dagegen wirkte so, als würde er nichts anderes erwarten.
Ich konzentrierte mich auf meine Schuhe, als Mom das Zimmer verließ. »Ich bin direkt hier draußen«, hörte ich sie sagen. Dann schloss Dr. Hieler die Tür und plötzlich war es so still im Raum, dass ich das Ticken seiner Uhr hörte. Ich hörte sogar, wie Luft aus den Polstern seines Sessels wich, als er sich wieder setzte.
»Das hier ist eine von den Situationen, in denen es wohl nichts zu sagen gibt, was richtig ist«, sagte er leise. »Ich muss mir vorstellen, dass das Ganze schrecklich ist und nicht aufhört, schrecklich zu sein.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich bekam es immer noch nicht fertig, den Kopf zu heben.
Er räusperte sich und redete ein wenig lauter weiter. »Erst bist du selbst da durch, hast einen Schuss abgekriegt und einen Menschen verloren, den du liebst. Das hat dann Schule, Familie und deine Freundschaften so ziemlich ruiniert. Und jetzt sitzt du hier im Büro von einem fetten Seelendoktor fest, der versucht, in deinen Kopf reinzukommen.«
Ich blickte nur mit den Augen hoch und ließ meinen Kopf unten, damit er mich nicht grinsen sah. Aber anscheinend tat er das doch, denn er grinste ein winziges bisschen zurück. Ich mochte ihn jetzt schon.
»Schau mal«, sagte er. »Es ist ja nicht nur so, dass diese ganze Geschichte furchtbar gewesen sein muss für dich. Mir ist auch bewusst, dass du höchstwahrscheinlich die ganze Zeit über so gut wie keine Kontrolle hattest über das, was mit dir passiert. Ich möchte, dass wir es hier anders machen. Ich möchte dir viel Kontrolle geben. Wir bewegen uns nur so schnell, wie es dir passt. Wenn ich ein Thema bringe, über das du nicht reden willst, oder wenn ich zu viel Druck mache bei irgendwas, sag’s mir einfach und ich wechsele das Thema und rede über was Leichtes und Sicheres.«
Ich hob mein Kinn ein wenig.
»Mein Vorschlag für unser nächstes Treffen ist, dass wir einfach damit anfangen, etwas über dich in Erfahrung zu bringen – ich würde gern wissen, was dich interessiert, wie dein Leben war, bevor das alles passiert ist. So lernen wir uns gegenseitig ein bisschen kennen und dann machen wir von da aus weiter. Einverstanden?«
»Okay«, sagte ich. Meine Stimme war unglaublich leise, aber es überraschte mich zu hören, dass da überhaupt eine Stimme war.