[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Katie Renfro, 15 – Renfro, die in der ersten Oberschulklasse war, wurde Opfer des Amokläufers, obwohl sie sich gar nicht in der Cafeteria aufhielt. »Katie war nach einem Besuch im Sekretariat nur dort vorbeigelaufen«, berichtete Beratungslehrerin Adriana Tate der Presse. »Sie kannte Nick Levil nicht mal, jedenfalls nicht, dass ich wüsste«, fügte sie hinzu.
Renfro, deren Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren, wurde von einem Querschläger am Oberarm getroffen, der von einer Schließfachreihe bei der Cafeteria abgeprallt sein musste.
»Es hat nicht sehr wehgetan«, sagte die Schülerin. »Es fühlte sich mehr wie ein Stich an. Ich hab erst gar nicht gemerkt, dass er mich getroffen hat, bis ich draußen war und einer von den Feuerwehrleuten gesagt hat, dass mir Blut den Arm runterläuft. Da bin ich auf einmal durchgedreht. Aber ich glaube, hauptsächlich bin ich durchgedreht, weil alle andern auch durchgedreht sind, verstehen Sie?«
Die Eltern des Mädchens haben nach eigener Aussage nun die Entscheidung getroffen, Katie in Zukunft nicht mehr auf eine öffentliche Schule gehen zu lassen.
»Das war uns auf der Stelle klar«, sagte Vic Renfro. »Es hat uns schon öfter besorgt gestimmt, dass Katie eine öffentliche Schule besucht. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.«
»Man weiß bei den öffentlichen nie«, fügte Katies Mutter, Kimber Renfro, hinzu, »mit wem das eigene Kind zur Schule geht. Die lassen jeden da rein. Auch die Verhaltensgestörten. Wir wollen nicht, dass unsere Tochter mit Leuten zusammen ist, die gestört sind.«
»Sie macht so ein Riesentheater darum«, sagte ich. Ich lief hektisch hin und her, was ich in Dr. Hielers Büro sonst nie tat. Allerdings stand ich dort normalerweise auch nicht unter Moms Röntgenblick, der in der letzten Zeit jeden Tag schlimmer geworden war. Statt mir nach und nach mehr zu vertrauen, kriegte Mom es allen Ernstes fertig, mir gerade im Gegenteil immer weniger zu vertrauen. Als hätte sie Angst, dass ich gleich wieder in einen Amoklauf verwickelt würde, wenn sie mich kurz aus den Augen verlor, und sei es nur für Sekunden.
»Daraus kannst du mir ja wohl kaum einen Vorwurf machen«, sagte Mom schniefend und tupfte sich die Nase mit einem zusammengeknäulten Papiertaschentuch, das sie aus ihrer Manteltasche hervorgekramt hatte. »Es fällt mir wirklich schwer zu glauben, dass sie jetzt ausgerechnet mit diesen Leuten zusammen sein will und dass die sich allen Ernstes mit ihr abgeben wollen. Und dann dieses Projekt, ein Mahnmal? Das kann doch nicht gesund für sie sein, sich immer weiter mit dieser Sache zu beschäftigen. Sie sollte jetzt nach vorne gucken, oder etwa nicht?«
»Zum letzten Mal, Mom, ich will doch gar nicht mit denen zusammen sein, als wären wir Freunde oder so. Ich mach bei einem Projekt mit und fertig. Einem Schulprojekt. Ich hab gedacht, du willst, dass ich wieder mitmache bei solchen Schulsachen. Nach vorne gucken, genau das mach ich doch!«
Mom schüttelte den Kopf. »Vor zwei Tagen hat sie sich noch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, überhaupt zurück in die Schule zu gehen. Und jetzt will sie gleich bei einem Schulprojekt mitmachen, und zwar ausgerechnet mit den Leuten, die auf dieser Liste gestanden haben«, sagte sie zu Dr. Hieler. »Das wirkt doch irgendwie verdächtig, oder? Da ist doch was faul.«
Jetzt richtete ich mich an Dr. Hieler. »Sie hat schließlich nicht mit Jessica geredet. Ich aber schon. Jessica hat es ernst gemeint, als sie mich gefragt hat. Da ist nichts faul dran.«
Dr. Hieler nickte und rieb sich die Nase, sagte aber nichts.
Mom schüttelte den Kopf, als wäre ich ein Vollidiot, wenn ich Jessica Campbell glaubte. Als wäre alles, was ich überhaupt glaubte, nur ein weiterer Beweis für meine Idiotie – bloß weil ich irgendwann einmal Nick geglaubt hatte. Es war jetzt still im Raum und Mom stierte mich an.
»Was?«, stieß ich schließlich hervor. Meine Stimme klang zu laut. »Warum guckst du mich so an? Sie tut mir nichts. Sie legt mich nicht rein, okay? Warum ist das so schwer zu begreifen? Hast du nicht ferngesehen? Du musst doch die Geschichten kennen, wie der Amoklauf alle in der Schule verändert hat. Die Leute sind nicht mehr so. Die tun mir nichts an.«
»Ich sorge mich auch nicht darum, dass sie dir was antun könnten«, sagte Mom mit heiserer Stimme und sah mich aus roten Augen an. Dann wischte sie sich wieder die Nase mit dem Papiertaschentuch.
Ich blickte von ihr zu Dr. Hieler. Er saß immer noch bewegungslos da, den Zeigefinger an der Lippe, und sagte keinen Ton.
»Was für Sorgen machst du dir denn sonst?«, fragte ich.
»Dass du ihnen was antust?«, sagte Mom. »Willst du vielleicht nur mit ihnen zusammen sein, damit du beenden kannst, was Nick angefangen hat?«
Ich ließ mich in einen Stuhl sinken. Ihr ganzes Herumheulen und Gebettel, all ihre Verbote und dass sie die Zeitungen vor mir versteckt und mich zu Dr. Hieler geschleppt hatte … dabei war es gar nicht darum gegangen, mich vor den andern zu beschützen. Sondern darum, die andern vor mir zu beschützen. Moms Problem war, dass ich ihnen etwas antun könnte. Ich war der Bösewicht für sie. Egal, was ich sagte, in den Augen meiner Mutter änderte das nichts.
»Ich hab einfach nicht gut genug aufgepasst«, sagte sie, halb zu mir und halb in Dr. Hielers Richtung. »Und dann ist es passiert. Die Leute halten mich für eine miserable Mutter – und ich weiß nicht, vielleicht haben sie ja recht. Eine Mutter sollte solche Dinge wissen. Eine Mutter sollte nicht so überrascht sein, wie ich es war. Und wenn ich sie jetzt einfach so machen lasse … habe ich Angst, dass am Ende noch mehr Tote mein Gewissen belasten.«
Sie wischte sich die Nase, während Dr. Hieler in seiner sanften, verständnisvollen Stimme mit ihr redete. Aber ich war zu benommen, um mitzukriegen, was er sagte.
Ich hatte Mom verändert. Hatte ihr Selbstverständnis als Mutter verändert. Nie mehr würde das, was sie zu tun hatte, so einfach und klar umrissen sein wie am Tag meiner Geburt. Ihre Aufgabe war nicht mehr, mich vor dem Rest der Welt zu beschützen. Jetzt war ihre Aufgabe, den Rest der Welt vor mir zu beschützen.
Und das war so unfair.