Während Christy Bruter direkt vor mir zu Boden ging und um mich herum ein Chaos von Schreien, Gerenne und allgemeiner Panik losbrach, war ich einen bizarren Moment lang fest davon überzeugt, dass das alles nur in meiner Einbildung passierte. Dass ich noch zu Hause im Bett läge und alles nur träumte. Gleich würde mein Handy klingeln und Nick wäre dran, um mir zu erzählen, dass er mit Jeremy zum Blue Lake fahren und nicht in die Schule kommen würde.

Aber dann rannte Nick weg, Willa kniete sich neben Christy und drehte sie auf den Rücken. Da war so viel Blut. Das Blut war überall. Christy atmete noch, aber es klang total übel, als müsste sie durch Pudding atmen. Willa hielt Christys Hand und redete auf sie ein. Es würde alles gut werden, diesen einen Satz wiederholte sie immer wieder.

Ich kniete mich neben Willa und nahm Christys andere Hand.

»Hast du ein Handy?«, rief ich Willa zu. Sie schüttelte den Kopf. Meins war in meinem Rucksack, aber in dem ganzen Durcheinander konnte ich ihn nirgends entdecken. Später sah ich auf den Überwachungsbändern, dass er direkt hinter mir gelegen hatte, mitten in einer Blutlache auf dem Boden. Beim Ansehen dieser Aufnahmen verstand ich kaum, wie es sein konnte, dass ich ihn eindeutig angeschaut, aber nicht wiedererkannt hatte. »Blutlache« und »Rucksack« gingen für mich anscheinend nicht zusammen.

»Ich hab mein Handy«, sagte Rachel Tarvin. Sie stand unmittelbar hinter Willa und wirkte unglaublich ruhig, als wäre ein Amoklauf für sie etwas ganz Alltägliches.

Rachel zog ihr Handy aus der Jeanstasche und klappte es auf. Sie war gerade dabei, eine Nummer einzutippen, als wieder ein lauter Knall ertönte und gleich darauf noch mehr Schreie. Dann knallte es noch zweimal. Drei weitere Schüsse folgten.

Etliche Leute drängten auf uns zu. Ich bekam Angst, sie könnten mich niedertrampeln, und sprang auf.

»Geh nicht weg«, weinte Willa. »Sie stirbt. Du darfst nicht gehen. Ich brauch dich. Bitte!«

Aber die Menge riss mich fort, und bevor ich es kapierte, rutschte ich auf Christys Blut in ein Knäuel von Schülern hinein, die alle versuchten, irgendwie aus der Cafeteria zu entkommen. Jemand rammte mir seinen Ellbogen gegen die Lippe. Ich schmeckte Blut. Jemand trat mir auf den Fuß, richtig fest. Aber ich reckte den Kopf so sehr, dass ich das kaum merkte. Christy schien auf einmal unglaublich weit weg zu sein. Und außerdem bemerkte ich jetzt etwas, das noch schlimmer war.

Drüben an dem Tisch, wo die Schülervertretung ihre Donuts verkaufte, war alles voll Blut. Ich sah zwei leblose Körper unter dem Tisch liegen. Ein Stück weiter schubste Nick Stühle aus dem Weg und warf Tische um. Dann und wann kniete er sich hin und spähte unter einen Tisch, zog jemanden darunter hervor, redete mit ihm und wedelte ihm dabei mit der Waffe dicht vorm Gesicht herum. Gleich darauf knallte es wieder und es ertönten neue Schreie.

Langsam begann ich zu begreifen. Nick. Die Knarre. Das Knallen, immer wieder dieses Knallen. Die Schreie. Mein Gehirn arbeitete immer noch langsam, aber nach und nach wurde es schneller. Das alles ergab für mich keinen Sinn. Oder vielleicht doch. Wir hatten über das hier geredet, könnte man sagen.

»Hast du von dem Amoklauf gehört, in dieser Schule in Wyoming oder so?«, hatte Nick mich eines Abends am Telefon gefragt, erst vor ein paar Wochen. Ich hatte auf dem Bett gesessen und mir die Zehennägel lackiert, während ich mich über die Freisprechanlage mit Nick unterhielt. Eins von einer Million Gesprächen, die wir geführt hatten, kein bisschen bedeutender oder unbedeutender als irgendein anderes.

»Ja«, sagte ich und wischte mir einen Rest Nagellack vom Zeh. »Verrückt, was?«

»Hast du diesen Blödsinn mitgekriegt, den die im Fernsehen über die Täter verzapfen? Dass es angeblich überhaupt keine Vorzeichen gegeben hat?«

»Ja, denk schon. Ich hab’s nicht so genau verfolgt.«

»Die betonen andauernd, diese Typen wären total beliebt gewesen, jeder hätte sie gemocht, sie wären keine Einzelgänger gewesen oder so. Das ist doch Schwachsinn, oder?«

Einen Augenblick lang waren wir beide still und ich nutzte die Zeit, um meinen MP3-Player am Computer anzuschließen. »Na ja, im Fernsehen reden sie eben Scheiße, ist doch nichts Neues.«

»Ja.«

Wieder Stille. Ich blätterte in einer Zeitschrift.

»Also, was meinst du? Könntest du’s tun?«

»Was tun?«

»All diese Leute abknallen. Christy und Jessica zum Beispiel, und Tennille und so.«

Ich nagte an meinem Finger und las, was unter einem Bild von Cameron Diaz stand. Irgendwas über ihre Handtasche. »Vielleicht schon«, murmelte ich und blätterte um. »Aber ich bin nicht beliebt oder so, also wär’s irgendwie nicht das Gleiche.«

Er seufzte – der Lautsprecher ließ es laut wie Donner klingen. »Ja. Hast recht. Aber ich könnt’s tun. Ich könnte die alle umpusten, echt. Bloß dass keiner überrascht wäre.«

Da hatten wir beide gelacht.

Aber er hatte unrecht gehabt. Es waren eben doch alle überrascht gewesen. Vor allem ich. So überrascht, dass ich sicher war, es wäre alles nur ein Irrtum. Ein Irrtum, dem ich ein Ende machen musste.

Ich schob mich an ein paar Mädchen vorbei, die sich gegenseitig in den Armen wiegten, und boxte mich durch eine Traube von Schülern, die in Richtung Tür drängten – alle außer mir wollten dringend nach draußen. Beim Laufen fühlte ich mich gleich stärker und energischer, ich stieß Leute aus dem Weg. Rempelte sie richtig an, sodass manche ins Stolpern kamen, auf dem Blut ausrutschten und auf die Fliesen krachten. Schließlich begann ich zu rennen. Zu schubsen. Aus meiner Kehle kamen heisere Töne.

»Nein«, rief ich, während ich Leute beiseiteschob. »Nein. Halt …«

Endlich entdeckte ich eine Stelle, die halbwegs frei war, und stürmte dorthin. Ich sah jemanden, den ich nicht erkannte, am Boden liegen, gerade mal einen halben Meter von mir entfernt. Er lag mit dem Gesicht nach unten und sein Hinterkopf bestand nur noch aus Blut.

Da knallten wieder drei oder vier Schüsse und rissen mich weg von dem toten Jungen.

»Nick!«, kreischte ich.

Jetzt, wo ich in der Mitte des Raums war, sah ich ihn nirgends mehr. Viel zu viele Leute rannten kreuz und quer durcheinander. Ich blieb stehen und sah mich um, warf meinen Kopf wie irr von einer Seite zur anderen.

Dann erkannte ich zu meiner Linken schemenhaft eine Gestalt, die mir bekannt vorkam. Mr Kline, den Chemielehrer. Wie festgewurzelt stand Mr Kline vor einer kleinen Gruppe von Schülern und breitete die Arme aus. Sein Gesicht war rot und wirkte schweißnass, vielleicht war es auch voller Tränen. Ich sprintete rüber zu der Gruppe.

»Wo ist sie?«, brüllte Nick. Ein paar von den Schülern hinter Mr Kline stießen tränenerstickte Schreie aus und drängten sich noch enger aneinander.

»Leg die Waffe weg, Kumpel«, sagte Mr Kline. Seine Stimme zitterte, obwohl er sich Mühe gab, entschieden und stark zu klingen. »Leg sie weg, dann reden wir.«

Nick fluchte und trat gegen einen Stuhl. Der Stuhl donnerte Mr Kline direkt zwischen die Beine, aber der bewegte sich keinen Millimeter. Er zuckte nicht mal.

»Wo ist sie?«

Langsam schüttelte Mr Kline den Kopf. »Ich weiß nicht, von wem du sprichst. Leg einfach diese Waffe weg und dann klären wir den …«

»Maul halten! Halt’s Maul, verdammt noch mal. Entweder du sagst mir jetzt, wo Tennille steckt, diese verfickte Schlampe, oder ich blas dir deinen gottverdammten Schädel weg!«

Ich versuchte, mich noch schneller zu bewegen, aber meine Beine fühlten sich wie Gummi an.

»Mann, ich weiß nicht, wo sie ist. Hörst du die Sirenen nicht? Die Polizei ist gleich hier. Es ist vorbei. Leg die Waffe weg und erspar dir …«

Wieder zerriss ein Knall die Luft. Instinktiv schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich Mr Kline zu Boden stürzen, noch immer mit ausgebreiteten Armen. Er fiel einfach nach hinten um und sackte im Fallen seitlich zusammen. Mir war nicht klar, wo genau er getroffen worden war, aber seine Augen wirkten, als würde er die Cafeteria nicht mehr sehen.

Erstarrt stand ich da, meine Ohren vom Lärm des Schusses betäubt, mit brennenden Augen und wundem Hals. Ich brachte keinen Ton heraus. Ich stand einfach nur da und schaute Mr Kline an, der dalag und am ganzen Körper bebte.

Diejenigen, die hinter ihm Schutz gesucht hatten, waren jetzt eingezwängt zwischen Nick und der Wand hinter ihnen. Es waren etwa sechs oder sieben Leute, sie standen dicht gegeneinandergedrängt und gaben hilflose kleine Töne von sich. Hinten in dem Gewirr entdeckte ich Jessica Campbell. Sie stand vornübergebeugt mit dem Hintern an der Wand. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber einzelne Haarbüschel hatten sich daraus gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie zitterte so, dass ihr buchstäblich die Zähne klapperten.

Ich war beim letzten Schuss ganz in der Nähe gewesen, darum konnte ich nicht mehr richtig hören. Ich verstand nicht wirklich, was Nick sagte, doch ein paar Fetzen klangen wie »weg hier« oder »weg ihr«, und beim Reden fuchtelte er wild mit der Waffe herum. Erst weigerten sie sich, aber als Nick wieder einen Schuss abfeuerte und Lin Yong in den Arm traf, jagten sie auseinander. Lin zerrten sie mit sich, doch Jessica ließen sie zurück, ganz allein an die Wand gekauert.

Da begriff ich. Genau in diesem Moment wusste ich, was er tun würde. Ich hörte immer noch nicht richtig, aber es reichte, um mitzubekommen, wie er sie anbrüllte und wie sie schrie und weinte. Ihr Mund war weit aufgerissen, ihre Augen fest zusammengekniffen.

Mein Gott, dachte ich. Die Liste. Er schnappt sich die Leute von der Liste. Ich bewegte mich weiter auf ihn zu, aber jetzt fühlte es sich so an, als müsste ich durch Sand rennen. Meine Füße waren schwer und kraftlos; mein Brustkorb wirkte, als hätte jemand etwas darumgebunden und würde jetzt langsam die Luft aus mir rauspressen und mich gleichzeitig nach hinten zerren.

Nick hob wieder die Waffe. Jessica schlug die Hände vors Gesicht und sank noch mehr in sich zusammen. Ich würde es nicht rechtzeitig schaffen.

»Nick!«, schrie ich.

Er drehte sich zu mir, die Waffe immer noch vorgereckt. Er lächelte. Egal, woran ich mich später im Leben erinnern werde, wenn ich an Nick Levil zurückdenke, nie werde ich dieses Lächeln vergessen, das in seinem Gesicht lag, als er sich in diesem Moment umdrehte. Es wirkte nicht menschlich. Aber irgendwo in diesem Lächeln, irgendwo in Nicks Augen lag echte Zuneigung, das schwöre ich. Als wäre der Nick, den ich kannte, irgendwo da drinnen, voller Sehnsucht, herauskommen zu können.

»Nein!«, brüllte ich und war nun fast bei ihm. »Mach’s nicht! Hör auf!«

Ein fragender Blick trat in sein Gesicht. Er lächelte weiter, aber er schien nicht zu verstehen, warum ich auf ihn zurannte. Als wäre mit mir was verkehrt, nicht mit ihm. Er sah mich weiter mit diesem überraschten Gesichtsausdruck an und – genau verstand ich ihn immer noch nicht – sagte wohl so etwas wie: »Hast du denn unsern Plan vergessen?«, was mich kurz innehalten ließ, denn ich konnte mich an keinen Plan erinnern. Außerdem hatte er einen total unheimlichen Blick, als er das sagte, so als wäre er ganz weit weg und würde gar nicht kapieren, was hier in der Cafeteria gerade ablief. Er sah überhaupt nicht mehr aus wie er selbst.

Er schüttelte kurz den Kopf, als könnte er nicht fassen, dass ich so bescheuert war, diesen »Plan« zu vergessen, und lächelte noch breiter. Dann wandte er sich zurück zu Jessica und richtete die Waffe wieder auf sie. Da stürzte ich mich auf ihn, mit einem einzigen Gedanken: Ich kann nicht zulassen, dass Jessica Campbell vor meinen Augen stirbt.

Ich muss über Mr Kline gestolpert sein. Inzwischen weiß ich es sogar sicher, denn man sieht es auf den Überwachungsbändern. Ich stolperte also über Mr Kline und prallte seitlich gegen Nick. Wir wankten beide ein paar Schritte lang, dann ertönte noch so ein Knall und der Fußboden der Cafeteria kippte unter mir weg.

Danach weiß ich nichts mehr, nur dass ich halb unter einem Tisch lag, gut einen Meter entfernt von Mr Kline, und dass Nick die Waffe in seiner Hand mit einem Ausdruck noch größerer Überraschung ansah. Er war auf einmal weit weg von mir und ich begriff nicht, wie ich mich so schnell von ihm entfernt haben konnte. Jessica Campbell stand jetzt nicht mehr vor der Wand, ich bildete mir ein, ihren Rücken zu sehen, der auf die Traube von Leuten an den Cafeteria-Türen zurannte.

Und dann – ich glaube, ich spürte es mehr, als dass ich es sah, aber ich sah es auch – nahm ich den Schwall von Blut wahr, der stoßweise aus meinem Oberschenkel spritzte, mächtig und rot. Und ich versuchte, Nick irgendwas zu sagen – ich weiß nicht mehr, was –, und ich glaube, ich hob meinen Kopf, als wollte ich aufstehen. Nick blickte von der Waffe zu mir, seine Augen wirkten glasig. Da stieg irgendwas Graues, Verschwommenes hinter meinen Augen hoch und mein Körper wurde immer leichter und leichter, vielleicht auch immer schwerer und schwerer, und dann war auf einmal alles schwarz.