Es konnte gut sein, dass es zu spät war, um wieder bei dem Projekt vom Schülerrat einzusteigen, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Bis zum Schuljahresende war es nur noch ein paar Wochen hin und ich wollte Jessica unbedingt von meinen Ideen für die Gedenkstätte erzählen.

Zögernd betrat ich Mrs Stones Zimmer. Ich rechnete damit, dass der gesamte Schülerrat hier sitzen würde, aber es war nur Jessica da, über einen Stapel Papiere gebeugt.

»Hey«, sagte ich von der Türöffnung her. Sie blickte auf. »Wo sind denn die andern? Ich hab gedacht, heute wäre ein Treffen.«

»Oh, hallo«, sagte sie. »Fällt aus. Mrs Stone hat die Grippe. Ich lern nur gerade für meine Abschlussarbeit in Mathe.« Sie rieb sich die Ellbogen und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wolltest du denn dabei sein? Ich hab gedacht, du hättest aufgehört.«

»Ich hab da eine Idee, wie man noch zusätzlich etwas machen könnte für die Gedenkstätte«, sagte ich, ging durchs Zimmer und setzte mich an den Tisch neben ihr. Ich zog ein Blatt Papier heraus, an dem ich den ganzen letzten Abend über gearbeitet hatte – ein Entwurf meines Plans –, und gab es ihr. Sie nahm das Blatt und begann zu lesen.

»Ja«, sagte sie und langsam breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus. »Ja. Das ist gut. Das ist super, Val.« Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Brauchst du jemanden, der dich fährt?«

Ich grinste sie an. »Ja, in Ordnung.«

Zuerst fuhren wir zum Haus von Mr Kline. Es war braun angestrichen, ziemlich klein und wirkte gemütlich, mit verwilderten Blumenbeeten davor und einer mageren roten Katze, die auf den Treppenstufen zur Veranda saß.

Jessica parkte in der Garageneinfahrt und stellte den Motor aus.

»Bist du bereit?«, fragte sie. Ich nickte. In Wirklichkeit würde ich wohl niemals bereit sein für das, was ich vorhatte, aber ich musste es einfach tun.

Sieh dir die Dinge an, wie sie wirklich sind, erinnerte ich mich. Schau dir an, was da ist.

Wir stiegen aus dem Auto und gingen die Treppe hoch zur Eingangstür. Die Katze miaute uns wehmütig an und verschwand unter einem Strauch. Ich klingelte.

Drinnen begann ein kleiner Hund wild zu kläffen, und gleich darauf erklang eine Stimme, die den Hund zu beruhigen versuchte, was aber nichts brachte. Schließlich ging die Haustür auf und eine unscheinbare Frau mit wirren Haaren und riesigen Brillengläsern spähte zu uns hinaus. Neben ihr stand ein schielendes Kind mit einem Eis in der Hand.

Sie öffnete das Fliegengitter vor der Haustür nur einen kleinen Spaltbreit.

»Ja bitte?«, fragte sie.

»Hallo«, sagte ich nervös. »Mhm, sind Sie Mrs Kline? Ich bin Val-«

»Ich weiß, wer du bist«, sagte sie kurz angebunden. »Was willst du hier?«

Ihre Stimme klang eisig und ich spürte, wie mich der Mut verließ. Jessica warf mir einen Blick zu, und als sie sah, wie ängstlich ich auf einmal wirkte, ergriff sie das Wort.

»Wir möchten Sie nicht stören«, sagte sie. »Aber wenn es möglich ist, würden wir gern ein paar Minuten mit Ihnen reden. Wegen einem Projekt, in dem es auch um Ihren Mann geht.«

»Eine Gedenkstätte für die Opfer«, fügte ich ohne nachzudenken hinzu. Mein Gesicht begann sofort zu brennen. Ich schämte mich, weil ich damit irgendwie auch den Tod ihres Mannes erwähnt hatte. Als würde er dadurch realer für diese unbeugsame kleine Frau, die ihre Kinder nun allein großziehen musste.

Eine ganze Weile lang betrachtete sie uns still. Sie schien gründlich nachzudenken. Vielleicht hatte sie auch Angst, ich könnte eine Waffe dabeihaben und auch sie erschießen, wodurch ihre Kinder zu Waisen würden.

»Okay«, sagte sie schließlich. Sie schob die Tür ein bisschen weiter auf und machte Jessica und mir Platz, damit wir uns an ihr vorbei in das vollgestopfte Wohnzimmer hinter ihr schieben konnten. »Aber ich hab nur ein paar Minuten.«

»Danke«, hauchte Jessica und wir gingen hinein.

Vierzig Minuten später waren wir bei Abby Dempsey zu Hause – was sehr aufwühlend war für Jessica, denn sie war Abbys Freundin gewesen und hatte deren Eltern seit der Beerdigung nicht mehr gesehen – und eine Stunde danach hockten wir auf Gartenstühlen in einer Garage und redeten mit Max Hills’ großer Schwester Hannah.

Es dämmerte schon, als wir Ginny Baker in ihrem Krankenhauszimmer besuchten und zusahen, wie sie einen ganzen Haufen von zerknüllten Papiertaschentüchern vollweinte. Ginny hatte einen schlechten Tag. Sie wollte unbedingt nach Hause. Aber am Abend vorher hatte sie den Spiegel aus einer Puderdose zerbrochen und versucht, sich mit einer Scherbe die Pulsadern aufzuschneiden. Sie würde ziemlich lange hierbleiben müssen und war todunglücklich darüber. Wir redeten auch mit ihrer Mutter, im Aufenthaltsraum des Krankenhauses.

Gegen acht kamen wir dann fast um vor Hunger und es gab immer noch einen Besuch, der ausstand. Jessica machte kurz halt an einer Tankstelle, wo wir uns den Bauch mit Mini-Salamis, Chips und anderen Knabbersachen vollschlugen. Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, dass ich ein bisschen später nach Hause käme. Als sie daraufhin meinte, das wäre kein Problem, solange ich nur Bescheid sagte und gut auf mich aufpasste, hätte ich weinen können vor Glück. Denn genau das hätte sie vor dem Amoklauf zu mir gesagt. Irgendwann hatten wir dann genug gegessen und saßen unentschlossen im Auto auf dem Tankstellenparkplatz herum.

»Vielleicht ist das sowieso eine blöde Idee«, sagte ich. Mir war ganz flau im Bauch von dem vielen Fett.

»Machst du Witze?«, antwortete Jessica und warf sich noch einen Käsecracker in den Mund. »Die Idee ist super! Und wir haben es fast geschafft. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher.«

»Ich überlege nur, ob es den Leuten nicht mehr wehtut, als dass es ihnen hilft. Ich denk drüber –«

»Du denkst drüber nach, dass es dir Angst macht, zu Christy Bruter zu gehen. Das kann ich gut verstehen, Val, aber wir gehen trotzdem hin.«

»Aber sie war schließlich der Grund, wegen ihr hat alles angefangen. Mein MP3-Player …«

»Sie war überhaupt nicht der Grund. Nick war der Grund. Meinetwegen auch das Schicksal oder irgendwas in der Art. Ist auch egal. Wir ziehen das jedenfalls durch.«

»Ich weiß nicht.«

Sie knüllte die Crackerpackung zusammen und warf sie auf den Rücksitz. Dann drehte sie den Schlüssel im Zündschloss und das Auto sprang an. »Aber ich weiß es. Wir gehen da hin«, sagte sie und fuhr los. Ich hatte keine Wahl.

»Es tut nur manchmal weh«, sagte Christy, die zwischen ihren Eltern auf der Couch saß. Sie sah nur Jessica an, wenn sie redete. Das nahm ich ihr nicht übel. Mir selbst fiel es auch schwer, sie anzuschauen. »Eigentlich ist wehtun auch der falsche Ausdruck. Inzwischen fühlt es sich nur noch verquer an. Als wäre mein ganzer Körper irgendwie aus den Fugen. Am schlimmsten finde ich ehrlich gesagt, dass ich nicht mehr Softball spielen kann. Dabei hatte ich schon die Zusage für ein Sportstipendium. Außerdem hat mein Dad immer mit mir trainiert und jetzt …«

Ihr Vater unterbrach sie und umklammerte ihr Knie fest mit der Hand. »Jetzt ist ihr Dad froh, dass er all die Jahre mit ihr trainieren konnte«, sagte er. »Jetzt ist er froh, dass er eine Tochter hat, die lebt und aufs College gehen kann.«

Christys Mutter murmelte etwas, das ein bisschen wie »Amen« klang, und tupfte sich mit dem Finger die Augenwinkel. Mrs Bruter hatte kaum etwas gesagt, seit Jessica und ich hier angekommen waren. Sie saß neben Christy, tätschelte ihr das Knie oder nickte zu dem, was Christy sagte, und hatte die ganze Zeit über ein zittriges, ziemlich unüberzeugendes Lächeln im Gesicht. Als Christys Dad meinte, er hätte sich in seinen Gebeten eine Tochter gewünscht, die glücklich wäre und lange leben würde, und nicht eine, die Softball spielen könnte, nickte sie.

»Machst du …«, entfuhr es mir, aber dann kam ich ins Stolpern und wusste nicht mehr, was ich genau hatte fragen wollen. Machst du mich für alles verantwortlich?, wollte ich fragen. Hasst du mich jetzt noch mehr als vorher? Wünschst du dir, Nick hätte mich umgebracht? Komme ich in deinen Albträumen vor? Mein Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Ich schluckte.

Mr Bruter musste mein Unbehagen gespürt haben, denn er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und blickte mir direkt in die Augen.

»Wir haben gelernt zu vergeben, seit das alles passiert ist«, sagte er. »Wir haben kein Interesse daran, dass irgendein anderer wegen dieser Tragödie leiden muss. Überhaupt niemand.«

Christy starrte auf die Hände in ihrem Schoß. Jessica bewegte sich leicht zu mir herüber.

»Es gibt Helden, die für ihre Schule gestorben sind«, sagte Mr Bruter leise. »Und Helden, die beinahe für ihre Schule gestorben wären. Und dann gibt es noch Helden, die dem Schießen ein Ende gesetzt haben. Die die Notrufnummer gewählt haben, als Christy zu Boden gegangen ist. Die ihr den Bauch gehalten haben, um die Blutung zu stillen. Helden, die … die Menschen verloren haben, die sie liebten. Wir würdigen alle Helden dieser Schule.«

Jessica streckte die Hand aus und berührte mich am Arm. Ich fühlte mich gehalten. Ich fühlte mich – Himmel, wie war das nur passiert? – stolz.

Als ich völlig erschöpft nach Hause kam, saßen Mom und Mel zusammen auf dem Sofa vor dem Fernseher.

»Es ist spät geworden«, sagte Mom, eingehüllt in Mels Umarmung. Sie hatte die Füße auf die Sofalehne gelegt und schien sich rundum wohlzufühlen. Sie strahlte ein Behagen aus, das ich noch nie an ihr gesehen hatte, nicht einmal zu den Zeiten, als Dad sie noch im Arm gehalten hatte. »Ich hab mir langsam Sorgen gemacht.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Das Projekt muss eben vor der Abschlussfeier fertig werden.«

»Habt ihr es denn geschafft?«, wollte Mel wissen. Überrascht stellte ich fest, dass mir seine Frage nichts ausmachte. Alles in allem war Mel ziemlich okay. Und wegen ihm lächelte Mom jetzt wieder viel mehr, was ihn in meinen Augen zu einem wirklich tollen Typen machte.

»Na ja, die Recherche ist jedenfalls abgeschlossen«, sagte ich. »Ich habe jetzt alle Interviews.«

Er nickte zufrieden.

»Ich hab dir was vom Abendessen aufgehoben«, sagte Mom. »Es steht im Backofen.«

»Nein danke«, sagte ich. »Jess und ich haben schon was gegessen.« Ich ging hinüber zum Sofa und stellte mich hinter sie. »Ich glaub, ich geh gleich schlafen.« Ich gab Mom einen Kuss auf die Wange – zum ersten Mal seit Jahren. Überrascht blickte sie mich an. »Gute Nacht, Mom«, sagte ich und ging zur Treppe hinüber. »Gute Nacht, Mel.«

»Gute Nacht«, rief Mel so laut zurück, dass er Moms Stimme übertönte.