Wie üblich beschloss ich, es wäre am besten, das Abendessen ausfallen zu lassen und mir später etwas zum Essen zu schnappen, nachdem alle schlafen gegangen waren. Ich wartete, bis ich an dem Spalt zwischen Tür und Fußboden sah, dass das Licht ausgegangen war, dann humpelte ich nach draußen.

Ich tappte in die Küche und machte mir im Lichtschein des offenen Kühlschranks ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade. Dann schloss ich den Kühlschrank wieder, setzte mich an den Küchentisch und aß im Dunkeln, weil ich es so wollte. Es fühlte sich gut an, so schön abgeschieden. Als hätte ich ein kleines Geheimnis. Als könnte ich allein sein, ganz bei mir, weit weg von dem ganzen Unfug um mich herum. Denn das war es doch, oder? Unfug. Nachdem deine Klassenkameraden einfach weggepustet worden sind, wirkt so ziemlich alles andere in der Welt – sogar dein Vater, der die Familie sitzen lässt – einigermaßen nebensächlich.

Ich aß mein Sandwich auf und war kurz davor, aufzustehen und nach oben zu gehen, als ich im Wohnzimmer ein Geräusch hörte. Es klang wie ein lang gezogenes, wässriges Schniefen und ein leises Husten. Ich erstarrte.

Wieder hörte ich das Geräusch, diesmal gefolgt von etwas, das ganz klar so klang, als würde jemand ein Papiertuch aus einer Pappschachtel ziehen.

Ich schlich um die Ecke und spähte in die Dunkelheit.

»Hallo?«, sagte ich leise.

»Geh schlafen, Valerie, ich bin’s bloß«, sagte Mom von der dunklen Couch her, die wie eine Festung wirkte. Ihre Stimme klang harsch und ihre Nase schien verstopft.

Ich hielt inne. Sie schniefte wieder. Und ich hörte noch mal das Geräusch von einem Papiertuch, das aus einer Schachtel gezogen wurde. Statt mich auf den Weg die Treppen hoch zu machen, ging ich ein paar Schritte ins Wohnzimmer hinein und blieb hinter dem Fernsehsessel stehen.

»Bist du okay?«, fragte ich.

Sie gab keine Antwort. Ich umrundete den Fernsehsessel und wollte mich hineinsetzen, doch dann überlegte ich es mir anders, machte noch ein paar Schritte und kniete mich vor die Couch. Jetzt erkannte ich ihren Schatten und sah das Weiß ihres Bademantels, der ihre Haut in der Dunkelheit aussehen ließ, als wäre sie total sonnengebräunt.

»Bist du okay?«, wiederholte ich.

Wieder war es lange still und ich fragte mich schon, ob ich nicht wirklich einfach ins Bett gehen sollte, so wie sie es gesagt hatte. Aber nach einer Weile fragte sie: »Du hast dir also was zu essen geholt? Ich hab Dr. Hieler gesagt, dass ich dich schon Wochen nichts mehr essen gesehen habe.«

»Ich bin nachts runtergekommen. Magersüchtig bin ich nicht, falls du das geglaubt hast.«

»Das habe ich«, sagte sie und ich hörte, wie sich neue Tränen in ihre Stimme mischten. Sie schniefte wieder, dann trieb nur noch ab und zu ein stilles Schluchzen durch die Luft. Schließlich nahm sie einen tiefen Atemzug. »Du bist so dünn geworden und ich seh nie, wie du irgendwas isst. Was soll ich denn da denken? Dr. Hieler hat schon vermutet, dass du wahrscheinlich genau das tust – essen, wenn ich nicht dabei bin.«

Wieder einer von Dr. Hielers Treffern. Mir war die meiste Zeit über gar nicht bewusst, wie sehr er sich für mich einsetzte; meistens bekam ich es gar nicht mit. Manchmal fragte ich mich, wie oft er Mom wohl schon heruntergeholt haben mochte, nachdem sie wegen irgendwas total Lächerlichem an die Decke gegangen war.

»Dad ist also weg?«, fragte ich nach einer Weile.

Ich glaube, sie nickte, denn ihr Schatten bewegte sich ein bisschen. »Er wohnt jetzt mit ihr zusammen. Es ist am besten so.«

»Wirst du ihn vermissen?«

Sie atmete tief ein und stieß die Luft dann hörbar wieder aus. »Das tu ich jetzt schon. Aber nicht den Typen, mit dem ich in den letzten Jahren zusammengelebt habe. Sondern den Mann, den ich geheiratet habe. Aber das verstehst du bestimmt nicht.«

Ich kaute auf meiner Lippe herum und versuchte, mir darüber klar zu werden, ob mich ihre Abwehr verletzte. Ob ich dagegenhalten sollte.

»Na ja, das tu ich schon«, sagte ich. »Ich vermisse Nick auch. Ich vermisse die Zeiten, wo wir einfach zum Bowlen gegangen sind oder so, die Zeiten, wo wir glücklich gewesen sind. Ich weiß, dass du glaubst, er wäre durch und durch schlecht gewesen, aber das stimmt nicht. Nick war wirklich süß und dazu auch noch wirklich schlau. Das vermisse ich.«

Sie putzte sich die Nase. »Ja, das tust du wohl«, sagte sie – und das fühlte sich so unglaublich gut an, dass es nicht in Worte zu fassen war. »Weißt du noch …«, fragte sie, verstummte dann aber. Ich hörte, wie sie sich ein neues Papiertuch nahm, und dann kam wieder ein wässriges Schniefen. »Weißt du noch, wie wir im Sommer mal nach South Dakota gefahren sind? Wir waren in Grandpas altem Kombi unterwegs, erinnerst du dich, und hatten diese gigantische Kühlbox dabei, vollgestopft mit Sandwiches und Getränken? Wir sind bloß losgefahren, weil euer Vater wollte, dass ihr beiden, Frankie und du, das Mount-Rushmore-Monument zu sehen kriegt.«

»Ja«, sagte ich. »Ich weiß noch, dass du unser altes Töpfchen mitgenommen hast, falls wir mal neben der Straße müssten. Und Frankie hat Krebsbeine gegessen und dann quer über den Tisch gekotzt.«

Mom kicherte. »Und euer Vater hat keine Ruhe gegeben, bis wir endlich diesen dämlichen Maispalast besichtigt hatten.«

»Und Grandma hat den ganzen Weg über diese ekligen Zigaretten geraucht, weißt du noch?«

Wir kicherten beide und verfielen dann wieder in Schweigen. Es war eine schreckliche Reise gewesen. Eine wunderbare, schreckliche Reise.

Dann sagte Mom: »Ich wollte nie, dass ihr geschiedene Eltern habt.«

Ich dachte darüber nach. Dann zuckte ich mit den Achseln, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte. »Na ja, ich glaub, für mich ist es okay. Dad hat es gehasst, hier zu sein. Er ist vielleicht nicht der beste Vater in der Welt, aber ich finde, es sollte niemand so unglücklich sein müssen.«

»Du hast es schon gewusst«, sagte sie.

»Ja. Ich hab Briley vor einer Weile in seinem Büro gesehen. Ich hab’s erraten.«

»Briley«, sagte Mom, als wollte sie den Namen abwägen. Fand sie, dass er sexy klang, mehr als ihr eigener Name? War Briley attraktiver als Jenny?

»Hast du es Frankie gesagt?«, fragte ich.

»Dein Vater hat’s ihm gesagt«, antwortete sie. »Gleich nachdem er mit dir gesprochen hat. Ich hab ihm klargemacht, dass ich ganz sicher nicht diejenige sein würde, die euch Kindern das Herz bricht. Ich fand einfach, er müsste euch selbst beibringen, was er vorhat – mit einem Mädel von zwanzig Jahren zusammenzuziehen. Ich mach nicht mehr die Drecksarbeit für ihn. Ich hab es satt, immer die Böse zu sein.«

»Ist Frankie okay?«, fragte ich.

»Nein. Er ist auch nicht aus seinem Zimmer rausgekommen. Und jetzt hab ich Angst, dass ich noch ein Kind kriege, das in Schwierigkeiten steckt, und ich weiß nicht … ob ich das aushalte … allein …« Ihre Stimme ging in einer Flut von Tränen unter, so plötzlich und so schmerzerfüllt, dass es mir selbst die Tränen in die Augen trieb. Wenn draußen jemand vorbeigegangen wäre und dieses Weinen gehört hätte, wäre er davon überzeugt gewesen, dass Mom gerade alles verloren hätte, was sie jemals im Leben besaß. Ich fragte mich, ob sie sich wohl fühlte, als wäre das wirklich passiert.

»Frankie ist ein guter Junge, Mom«, sagte ich. »Und seine Freunde sind auch okay. Er wird nicht …« – so wie ich, lag mir auf der Zunge, aber plötzlich schämte ich mich und sagte stattdessen: »… na ja, er kommt garantiert nicht in Schwierigkeiten.«

»Das hoffe ich«, sagte sie. »Ich krieg meistens kaum in den Griff, was mit dir so los ist. Ich bin doch nur ein Mensch. Ich kann nicht dauernd alle andern tragen.«

»Du musst mich nicht mehr tragen«, sagte ich. »Mit mir ist alles in Ordnung, Mom, ehrlich. Dr. Hieler findet, dass ich gute Fortschritte mache. Ich nehme Stunden bei Bea. Und ich arbeite bei diesem Projekt vom Schülerrat mit.« Auf einmal überwältigte mich das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen in der Seele meiner Mutter. Auf einmal war ich von Mitgefühl überwältigt – einem Mitgefühl, von dem ich geschworen hätte, dass ich es niemals wieder aufbringen würde. Auf einmal wollte ich diejenige sein, die ihr Hoffnung gab. Ich wollte ihr South Dakota zurückgeben. »Ich hab dich sogar fragen wollen, ob ich am nächsten Wochenende zu einer Übernachtungsparty bei Jessica Campbell darf.« Meine Kehle fühlte sich eng an.

»Meinst du dieses blonde Mädchen, das ab und zu herkommt?«

»Ja. Sie ist Schülersprecherin und spielt im Volleyballteam mit. Sie ist echt in Ordnung. Wir essen mittags jeden Tag zusammen. Wir sind Freundinnen.«

»Oh, Val«, sagte sie mit schwerer, belegter Stimme. »Bist du sicher, dass du das willst? Ich hab gedacht, du hasst solche Mädchen.«

Meine Stimme stieg um eine Oktave in die Höhe. »Nein, echt, Mom. Das ist die, vor die ich mich geworfen habe. Ich hab ihr das Leben gerettet. Ich hab sie gerettet. Und jetzt sind wir Freundinnen.«

Wieder war es lange still. Mom schniefte noch ein paarmal, ein so trübsinniges Geräusch, dass es mir fast den Atem nahm. »Manchmal vergesse ich das«, sagte sie und ihre Stimme spann sich durch die Dunkelheit herüber zu mir. »Manchmal vergesse ich, dass du auch eine Heldin gewesen bist an diesem Tag. Dann sehe ich nur das Mädchen, das diese Liste von allen Leuten angelegt hat, denen sie den Tod wünscht.«

Ich widerstand dem Impuls, sie zu korrigieren. Ich hab diesen Leuten nicht den Tod gewünscht, wollte ich sagen. Und du hättest überhaupt nie von der Liste erfahren, wenn Nick nicht durchgedreht wäre. Nick ist durchgedreht, nicht ich! Nicht ich!

»Manchmal hab ich so damit zu tun, dich als Feindin zu sehen, die mein Familienleben zerlegt hat, dass ich alles andere ganz vergesse – dass du diejenige gewesen bist, die das Ganze beendet hat. Du hast das Leben von diesem Mädchen gerettet. Ich hab dir noch nie Danke dafür gesagt, oder?«

Ich schüttelte verneinend den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen konnte. Ich hatte aber den Verdacht, dass sie es, wie ich, in der Luft spürte.

»Ist sie denn wirklich deine Freundin?«

»Ja. Ich mag sie total gern.« Und das war die Wahrheit, wie ich beinahe schockiert feststellte.

»Dann solltest du hingehen. Du solltest mit deiner Freundin zusammen sein und Spaß haben.«

Mein Magen stolperte. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich das konnte – Spaß haben mit diesen Leuten. Ihre Vorstellung von Spaß war total anders als alles, was ich je gekannt hatte.