Mein Handy klingelte und ich schnappte es mir, bevor Mom oder Frankie – oder noch schlimmer, Dad – es hören konnten. Es war frühmorgens, draußen dämmerte es erst. Das Wachwerden fiel schwer an einem Morgen wie diesem. Es war nicht mehr lang hin bis zu den Sommerferien. Sommerferien, das bedeutete drei Monate ausschlafen zu können und meine Ruhe zu haben vor der Schule. Ich hasste es zwar nicht unbedingt, zur Schule zu gehen, aber im Bus hackte Christy Bruter dauernd auf mir herum, in Physik stand ich auf Fünf, weil ich vergessen hatte, mich auf einen Test vorzubereiten, und die Abschlussprüfungen würden dieses Jahr höllisch schwer werden.

Nick war in der letzten Zeit ziemlich still gewesen. In der Schule hatte er sich in den vergangenen zwei Tagen nicht blicken lassen, stattdessen hatte er mir andauernd gesimst und nach den »Wichsern aus dem Biokurs« oder den »fetten Schlampen in Sport« gefragt oder nach »McNeal, dieser Pestbeule«.

Den letzten Monat über hatte er dauernd nur mit einem Typen namens Jeremy rumgehangen und es kam mir so vor, als würde er jeden Tag mehr von mir wegdriften. Ich hatte Angst, er könnte mit mir Schluss machen, darum spielte ich mit und tat so, als wäre es nicht weiter schlimm, dass wir uns kaum noch sahen. Ich wollte vermeiden, ihm Druck zu machen – er rastete in letzter Zeit ziemlich oft aus und ich hatte Angst, wir könnten uns streiten. Darum hatte ich ihn auch nicht danach gefragt, was er in diesen Tagen trieb, sondern hatte nur geantwortet, dass man diese Wichser aus Bio in Formalin einlegen sollte und dass ich diese Schlampen HASSE. McNeal, schrieb ich, kann echt froh sein, dass ich keine Knarre hab. Besonders der letzte Satz hat mir später beinah das Genick gebrochen. Alle diese Sätze. Aber der letzte ganz besonders … Eine Weile lang hab ich jedes Mal kotzen müssen, wenn ich an diesen Satz gedacht habe. Und er hat mir ein Dreistundengespräch mit Detective Panzella eingebracht. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass mich mein Vater nun anguckt, als wäre ich tief drinnen ein Monster.

Jeremy war älter als wir – einundzwanzig oder so – und war früher auch auf unserer Schule gewesen. Er studierte nicht und ging auch nicht arbeiten. Meinem Eindruck nach tat Jeremy überhaupt nichts anderes, als seine Freundin zu verprügeln, den ganzen Tag abzuhängen und sich Joints und die Cartoons im Fernsehen reinzuziehen. Zumindest bis er Nick kennenlernte. Dann guckte er keine Cartoons mehr, rauchte seine Joints mit Nick zusammen und verprügelte seine Freundin nur noch an den Abenden, an denen er nicht bei Nick in der Garage war und Schlagzeug spielte – da war er dann nämlich einfach zu bekifft, um sich an ihre Existenz zu erinnern. Ich war nur selten dabei gewesen, doch bei diesen Gelegenheiten war mir Nick ganz anders vorgekommen als sonst, ich erkannte ihn nicht wieder.

Lange habe ich geglaubt, ich hätte Nick nie wirklich kennengelernt. Vielleicht war der Nick, den ich sah, wenn wir in seinem Kellerzimmer zusammen vorm Fernseher hockten oder uns im Schwimmbad gegenseitig laut lachend unter Wasser drückten, gar nicht der wahre Nick gewesen. Vielleicht war der Nick, der in Gegenwart von Jeremy zum Vorschein kam, der wahre Nick gewesen – ein fieser Typ mit kalten Augen.

Ich hatte von Frauen gehört, die total blind waren und nicht wahrgenommen hatten, dass ihre Männer in Wirklichkeit perverse Monster waren, aber ich war mir ganz sicher, nicht zu ihnen zu gehören. Wenn Jeremy nicht da war … wenn nur ich und Nick zusammen waren und ich in seine Augen schaute … dann wusste ich ganz genau, was ich sah. Nick war in Ordnung, er war ein guter Kerl. Zugegeben, sein Humor war manchmal ganz schön heftig – aber das war bei uns allen so und wir haben es auf gar keinen Fall ernst gemeint. Darum kommt mir immer wieder der Gedanke, dass es Jeremy gewesen sein muss, der Nick dazu brachte, in die Schule zu gehen und Leute abzuknallen. Ich war es nicht. Jeremy ist der Böse. Er ist es gewesen.

Ich nahm also das Handy und schob es unter meine Bettdecke, nachdem mir kurz zuvor beim Wachwerden gedämmert hatte, dass ich auch an diesem Tag wieder in die Schule musste.

»Hallo?«

»Süße.« Nicks Stimme klang dünn und komplett überdreht, aber damals dachte ich, es läge nur daran, dass es noch so früh war und Nick inzwischen nicht mehr dran gewöhnt war, um diese Uhrzeit aufzustehen.

»Hey«, flüsterte ich. »Gehst du heute zur Abwechslung mal wieder in die Schule?«

Er gluckste vor Lachen, total gut gelaunt. »Mach ich. Jeremy fährt mich hin.«

Ich setzte mich auf. »Super. Stacey hat gestern nach dir gefragt. Sie sagt, sie hätte dich und Jeremy Richtung Blue Lake fahren sehen.« Ich ließ die Frage unausgesprochen in der Luft hängen.

»Ja.« Ich hörte sein Feuerzeug klicken und dann das Knistern von verglühendem Zigarettenpapier. Dann blies er den Rauch aus. »Wir hatten da was zu tun.«

»Und zwar?«

Er gab keine Antwort. Ich hörte nur das knisternde Papier und wie er ausatmete.

Enttäuschung machte sich in mir breit. Er wollte es mir nicht erzählen. Ich hasste es, wenn er so war. Früher hatte er nie Geheimnisse vor mir gehabt. Wir hatten uns immer alles erzählt, auch die schweren Sachen, über die Ehen von unsern Eltern oder die fiesen Namen, die uns die andern in der Schule hinterherriefen. Und dass wir uns manchmal wie ein Nichts fühlten. Noch weniger als ein Nichts.

Beinahe hätte ich nachgehakt und gesagt, dass ich ein Recht hätte zu erfahren, was er und Jeremy da getrieben hatten, aber dann wechselte ich doch lieber das Thema. Wenn ich die Gelegenheit hatte, ihn endlich wieder zu sehen, wollte ich die Zeit nicht mit Streiten verschwenden. »He, ich hab was Neues für die Liste«, sagte ich.

»Und zwar?«

Ich rieb mir die Augenwinkel. »Leute, die sich andauernd für alles entschuldigen. Hamburger-Reklame. Und Jessica Campbell.« Ich war kurz davor, auch Jeremy zu nennen, aber dann ließ ich es lieber.

»Diese dürre Blondine, die mit Jake Diehl zusammen ist?«

»Genau die. Aber Jake ist in Ordnung. Okay, er spielt manchmal den Macker, aber er ist lang nicht so nervig wie sie. Gestern in Gesundheitskunde bin ich total weggedriftet und hab dabei wohl in ihre Richtung geguckt. Da starrt sie mich auf einmal an und sagt: ›He, was glotzt du so, Todesschwester?‹ Total verächtlich sagt sie das und verdreht die Augen und dann sagt sie: ›Kümmer dich um deinen eigenen Kram‹, und ich: ›Weißt du, es interessiert mich sowieso einen Scheiß, was du machst‹, und dann sie so: ›Musst du nicht bald mal wieder auf ’ne Beerdigung?‹ Da haben ihre bescheuerten Freunde dann laut losgelacht, als wär sie der Star in einer Comedy-Show. So eine miese Schlampe.«

»Ja, stimmt.« Er hustete. Ich hörte Papier beim Umblättern rascheln und konnte mir vorstellen, wie sich Nick auf seiner Matratze lümmelte und etwas in unser gemeinsames rotes Spiralheft schrieb. »Am besten wär’s, wenn diese blonden Tussen einfach alle verschwinden würden.«

Damals hab ich gelacht. Der Satz war witzig. Ich fand, Nick hatte recht. Zumindest sagte ich ihm das. Und ich dachte ja wirklich, ich wäre der gleichen Meinung wie er. Ich hatte auch kein schlechtes Gewissen deshalb, denn schließlich hatten sie es verdient. Sie waren die Bösen.

»Stimmt, die sollten alle von den BMWs ihrer Eltern über den Haufen gefahren werden.«

»Dieses eine Mädel da, diese Chelle, schreib ich übrigens auch auf die Liste.«

»Volltreffer. Die macht sich dermaßen wichtig, bloß weil sie in die erste Mannschaft aufgenommen worden ist. Die hat doch einen Schuss.«

»Stimmt. Tja.«

Einen Moment lang waren wir beide still. Ich habe keine Ahnung, was Nick dachte. Damals habe ich geglaubt, sein Schweigen wäre eine Art stilles Einverständnis mit mir, als würden wir gerade auf einer Ebene miteinander reden, die keine Worte brauchte, irgendwas in der Art. Aber inzwischen weiß ich, dass das nur eine dieser ungedeckten Schlussfolgerungen gewesen ist, von denen mir Dr. Hieler dauernd erzählt. Solche Schlussfolgerungen sind was ganz Normales – viele Leute glauben, sie wüssten, was im Kopf von einem anderen Menschen vorgeht. Aber das ist unmöglich. Und es doch für möglich zu halten, ist ein Fehler. Ein wirklich großer Fehler. Einer, der locker dein Leben ruinieren kann, wenn du nicht aufpasst.

Im Hintergrund hörte ich Gemurmel. »Ich muss los«, sagte Nick. »Wir müssen Jeremys Kind in die Krippe bringen. Seine Freundin nervt mal wieder total rum. Dann also bis später in der Cafeteria, ja?«

»Klar. Ich sag Stacey, sie soll uns zwei Plätze freihalten.«

»Super.«

»Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Lächelnd legte ich auf. Vielleicht war alles, was ihn in letzter Zeit belastet hatte, wieder okay. Vielleicht hatte er die Nase voll von Jeremy und Jeremys Kind, von Jeremys ewigen Cartoons und Jeremys Joints. Vielleicht konnte ich ihn dazu überreden, dass wir in der Mittagspause nicht in der Schule aßen, sondern auf ein Sandwich zu Casey’s auf der anderen Seite der Schnellstraße gingen. Nur wir beide. So wie früher. Ich sah uns schon auf der Fahrbahnbegrenzung sitzen, die Zwiebeln von unseren Sandwiches schubsen und uns gegenseitig alberne kleine Quizfragen zum Thema Musik stellen, die Schultern eng aneinandergeschmiegt und mit baumelnden Beinen.

Ohne im Bad das Licht anzumachen, sprang ich unter die Dusche und ließ mich im Dunkeln vom Wasserdampf einhüllen. Ich hoffte, dass Nick mir heute irgendwas mitbringen würde. Darin war er ziemlich gut – mit einer Rose in der Schule aufzukreuzen, die er an der Tankstelle geholt hatte, mir zwischen den Unterrichtsstunden einen Schokoriegel ins Schließfach zu schieben oder mir einen Zettel in den Ordner zu schmuggeln. Wenn er wollte, konnte Nick wahnsinnig romantisch sein.

Ich stieg aus der Dusche und trocknete mich ab. Ich gab mir besonders viel Mühe mit meinen Haaren und dem Eyeliner und zog einen schwarzen Jeans-Minirock mit lauter Rissen an und dazu meine Lieblingsstrumpfhose, die schwarz-weiß gestreifte mit dem Loch am Knie. Dann kamen noch Socken und ein Paar Leinenschuhe und schließlich schnappte ich mir meinen Rucksack.

Frankie, mein kleiner Bruder, saß am Küchentisch und aß sein Müsli. Er hatte seine Haare so gegelt, dass sie stachelig in alle Richtungen abstanden, was ihn aussehen ließ wie eins von diesen Kids aus der Werbung – der Skatertyp mit den hundertprozentig passenden Haaren. Frankie war vierzehn und fand sich wahnsinnig toll. Er hielt sich für einen Modegott und war immer so stylish angezogen, dass er wirkte wie aus dem Katalog. Wir verstanden uns gut, auch wenn wir mit ziemlich unterschiedlichen Leuten rumhingen und unsere Vorstellungen von Coolness komplett anders waren. Manchmal nervte er, aber alles in allem war Frankie ziemlich okay als kleiner Bruder.

Sein Geschichtsbuch lag aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch und er kritzelte wie ein Irrer auf einem Zettel herum. Nur ab und zu machte er kurz Pause, um sich noch einen Löffel voll in den Mund zu schieben.

»Willst du in einem Werbeclip für Haargel auftreten oder was?«, fragte ich und stieß im Vorbeigehen mit der Hüfte gegen seinen Stuhl.

»Wieso?«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über seine Stachelhaare. »Die Mädels fahren drauf ab.«

Ich verdrehte die Augen und grinste. »Na klar. Ist Dad schon weg?«

Er schob sich noch eine Ladung Müsli rein und schrieb noch was auf seinen Zettel. »Ja«, nuschelte er mit vollem Mund, »der ist vor ein paar Minuten los.«

Ich holte mir eine Waffel aus dem Kühlschrank und warf sie in den Toaster. »Ich seh schon, die Mädels haben dich gestern so beansprucht, dass du die Hausaufgaben nicht mehr geschafft hast, was?«, nahm ich ihn hoch und beugte mich über ihn, um zu sehen, was er da schrieb. »Sag mal, was hielten eigentlich die Frauen zur … Bürgerkriegszeit von … zu viel Haargel?«

»Lass mich zufrieden«, sagte er und schubste mich mit dem Ellbogen. »Ich hab noch bis Mitternacht mit Tina gequatscht. Ich muss das hier jetzt durchziehen. Mom kriegt einen Anfall, wenn ich in Geschichte schon wieder ’ne Vier schreibe. Wahrscheinlich knöpft sie mir dann mein Handy ab.«

»Schon gut«, sagte ich. »Mach du mal in Ruhe weiter. Ich wäre untröstlich, wenn diese überaus fesselnde Telefonromanze zwischen dir und Tina durch mich Schaden nähme.« Die Waffel sprang aus dem Toaster. Ich schnappte sie mir und biss hinein, ohne irgendwas draufzutun. »Apropos Mom – fährt sie dich heute wieder in die Schule?«

Er nickte. Mom brachte Frankie fast jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit in die Schule. So hatte er morgens immer ein paar Minuten mehr Zeit, was bestimmt angenehm war. Aber wenn ich mitfahren würde, gäbe es nicht mal einen halben Meter Abstand zwischen Mom und mir und ich müsste mir jeden Morgen ihre Kommentare über meine »grauenhaften Haare« und meinen Rock anhören, den sie immer »viel zu kurz« fand, und dazu diesen ewig gleichen Satz: »Ich versteh einfach nicht, wie sich ein so hübsches Mädchen wie du so hässlich machen kann durch dieses furchtbare Make-up und die gefärbten Haare.« Da war es mir lieber, am Straßenrand zu stehen und auf den Schulbus zu warten, auch wenn der voller Großmäuler war, die es auf mich abgesehen hatten. Und das will echt was heißen.

Ich sah auf die Uhr am Herd. Gleich würde der Bus kommen. Ich schulterte meinen Rucksack und biss noch mal in meine Waffel.

»Ich pack’s dann«, sagte ich und steuerte Richtung Tür. »Viel Glück für Geschichte.«

»Bis dann«, rief er meinem Rücken zu, während ich die Haustür hinter mir zumachte.

Die Luft war kühl, frischer als sonst – es kam mir so vor, als ob der Winter bevorstünde und nicht die ersten Wochen mit höheren Temperaturen. Als ob dieser Tag nie wärmer werden würde, als er es jetzt war.