Später habe ich mich oft gefragt, wie ich die zehn Tage in der geschlossenen Psychiatrie überlebt habe. Wie ich es vom Bett zum Klo schaffte. Und vom Klo in die Gruppentherapie. Wie ich es überstand, diese hohen, kreischenden Stimmen zu hören, die nachts irgendwelches absurdes Zeug riefen. Wie ich das Gefühl ertragen habe, dass mein Leben in widerwärtige Tiefen abgerutscht war – an einem Morgen kam ein Aushilfspfleger in mein Zimmer und flüsterte mir zu, wenn ich Stoff bräuchte, könnte er das »wohl irgendwie arrangieren«, wobei er vorn an seiner Krankenhaushose herumzupfte.
Ich konnte mich nicht mal mehr zurückziehen an diesen stillen Ort in mir selbst, der bisher meine Zuflucht gewesen war. Wenn ich schwieg, würde Dr. Dentley das unter Garantie als Rückschritt verbuchen und meinen Eltern klarmachen, dass ich noch länger hierbleiben müsste.
Dr. Dentley widerte mich total an. Der Zahnstein auf seinen Zähnen, seine Brille, die mit weißen Schuppen übersät war, und dann diese Art zu reden – wie aus dem Psychologie-Handbuch. Und seine Augen wanderten immer weg zu etwas, das ihm wichtiger war, während ich seine Super-Seelendoktor-Fragen beantwortete.
Ich fand, dass ich nicht hierhergehörte. Meistens hatte ich das Gefühl, alle andern hier wären verrückt – inklusive Dr. Dentley – und ich wäre die einzige Gesunde.
Da war zum Beispiel Emmitt, ein Berg von einem Jungen, der sich unentwegt in den Gängen herumtrieb und jeden um Kleingeld anbettelte. Oder Morris, der mit den Wänden redete, als wäre da jemand, der ihm Antwort gab. Adelle, deren Sprache dermaßen versaut war, dass sie oft nicht mal bei den Gruppensitzungen dabei sein durfte. Francie, die sich selbst gern Brandwunden zufügte und ständig damit herumprahlte, sie hätte eine Affäre mit ihrem Stiefvater, der schon Mitte vierzig war.
Und dann gab es noch Brandee – sie wusste, warum ich hier war, sah mich mit traurigen dunklen Augen an und stellte mir andauernd irgendwelche Fragen.
»Wie hat sich das angefühlt?«, wollte sie zum Beispiel im Fernsehraum wissen. »Du weißt schon – Leute umzubringen.«
»Ich hab keinen umgebracht.«
»Meine Mom sagt aber, das hättest du.«
»Die weiß doch gar nichts drüber. Das stimmt nicht.«
Auf den Gängen und in den Gruppensitzungen, immer war da Brandee mit ihren Fragen. »Wie war das, als der Schuss dich erwischt hat? Hat er absichtlich auf dich geschossen? Hat er gedacht, du lieferst ihn aus? Sind auch Freunde von dir erschossen worden oder nur Leute, die du gehasst hast? Wünschst du dir, du hättest es nicht getan? Was sagen deine Eltern dazu? Meine würden komplett durchdrehen. Sind deine durchgedreht? Hassen sie dich jetzt?«
Es machte mich verrückt, aber ich gab mir alle Mühe, es nicht wirklich an mich heranzulassen. Meistens ignorierte ich Brandee und ihre Fragen einfach. Zuckte unverbindlich mit den Schultern oder tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Aber manchmal antwortete ich ihr doch, weil ich glaubte, dann würde sie endlich die Klappe halten. Aber das stimmte nicht. Jede Antwort löste eine neue Welle von Fragen aus und am Ende bereute ich, dass ich den Mund aufgemacht hatte.
Das einzig Gute an diesen Tagen im Psychotrakt war, dass Detective Panzella nicht mehr kam, um mich in die Mangel zu nehmen. Keine Ahnung, ob Dr. Dentley das nicht zuließ, ob Panzella inzwischen der Meinung war, dass ich die Wahrheit sagte, oder ob er gerade Belastungsmaterial gegen mich zusammentrug. Jedenfalls war es gut, dass er nicht da war.
Ich bewegte mich ganz genau so durch den Tag, wie ich sollte. Zog wie ein braves Mädchen den Schlafanzug aus und die vom Krankenhaus gestellten Klamotten an. Saß im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa und schaute mir die offiziell zugelassenen Fernsehsendungen an, blickte aus dem Fenster auf die Schnellstraße unten und tat, als würde ich die getrockneten Popel nicht sehen, die neben mir an der Wand klebten. Tat, als würde mir nicht das Herz brechen. Tat, als wäre ich nicht wütend, verwirrt und in Panik.
Am liebsten wäre es mir gewesen, ich hätte die Zeit dort mehr oder weniger verschlafen können. Ich sehnte mich danach, Schmerzmittel zu nehmen, mich im Bett zusammenzukrümmen und nicht mehr aufzuwachen, bis ich endlich zu Hause war. Aber ich wusste, dass das als ein Zeichen von Depression angesehen würde und am Ende nur dazu geführt hätte, dass ich noch länger hierbleiben müsste. Ich musste so tun, als ob. Als ob es mir besser ginge. Als ob sich viel verändert hätte in Bezug auf »meine Selbstmordgedanken«.
»Mir ist jetzt sonnenklar, dass Nick schlecht für mich war«, verkündete ich. »Ich will einen neuen Anfang machen. Ich glaub, College ist gut. Ja, ich geh aufs College.«
Ich versteckte die Wut, die in mir hochbrandete. Wut auf meine Eltern, die nicht für mich da waren. Wut auf Nick, weil er tot war. Wut auf die Leute in meiner Schule, die ihn gequält hatten. Wut auf mich selbst, weil ich das alles nicht hatte kommen sehen. Ich lernte, meine Wut wegzuschieben, in der Hoffnung, dass sie sich totlaufen und von selbst verschwinden würde. Ich lernte, so zu tun, als ob sie schon weg wäre.
Ich sagte die Dinge, die mich hier rausbringen würden. Ich sprach die Worte aus, die sie hören wollten, ich schaffte es, mich zu diesen Gruppensitzungen zu schleppen, und ich erwiderte nichts, wenn andere Patienten mir Beleidigungen entgegenschleuderten. Ich absolvierte meine Mahlzeiten und die vorgesehenen Tests und spielte bei allem mit, so gut ich konnte. Ich wollte einfach nur raus.
Endlich, es war an einem Freitag, kam Dr. Dentley in mein Zimmer und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Ich verkniff es mir, vor ihm zurückzuschrecken, sondern krümmte nur meine Zehen in den Socken, um trotzdem irgendwie Abstand zu ihm zu kriegen.
»Wir werden dich entlassen«, sagte er dermaßen sachlich, dass ich es beinahe überhört hätte.
»Wirklich?«
»Ja. Wir sind sehr zufrieden mit den Fortschritten, die du gemacht hast. Aber es wird noch lange dauern, bis du wirklich geheilt bist, Valerie. Du kommst ab jetzt in ambulante Intensivbetreuung.«
»Hier?«, fragte ich und versuchte, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen. Der Gedanke, womöglich jeden Tag hierher ins Krankenhaus zurückkommen zu müssen, und sei es nur stundenweise, jagte mir Angst ein – womöglich würden mich, wenn ich irgendwas Falsches sagte oder tat, gleich wieder die beiden großen Pfleger festhalten und mir eine Spritze irgendwo reinrammen.
»Nein. Du wirst zu …« Er verstummte und suchte in den Blättern auf seinem Klemmbrett herum. Dann nickte er billigend. »Ja, du kommst zu Rex Hieler.« Er blickte mich an. »Du wirst ihn mögen. Dr. Hieler ist perfekt für einen Fall wie dich.«
So verließ ich das Krankenhaus – zwar als ein »Fall«, aber immerhin war ich frei.
Eine Schwester schob mich im Rollstuhl runter zum Eingang der Klinik. Ich fühlte, wie mich jedes einzelne Augenpaar im ganzen Gebäude anglotzte, als ich vorbeikam. Wahrscheinlich glotzten sie mich gar nicht wirklich an, aber mir kam es trotzdem so vor. Als wüsste jeder in der Welt, wer ich war und warum ich hier gewesen war. Als würde mich jeder in der Welt mustern und sich fragen, ob das, was er gehört hatte, wohl stimmte. Und ob es nicht eine grausame Laune Gottes gewesen war, mich überleben zu lassen.
Mom hatte das Auto direkt vor dem Eingang geparkt und kam mit Krücken in der Hand auf mich zu. Ich nahm sie, manövrierte mich zum Auto und ließ mich hineinsinken, ohne ein Wort mit ihr oder der Krankenschwester zu reden, die Mom am Klinikeingang noch Anweisungen gab.
Schweigend fuhren wir nach Hause. Mom stellte das Radio auf einen Easy-Listening-Sender. Ich machte das Fenster einen Spaltbreit auf, schloss die Augen und sog die Luft ein. Sie roch irgendwie anders, als würde ihr etwas fehlen. Ich fragte mich, was ich wohl tun würde, wenn ich nach Hause kam.
Als ich die Eingangstür öffnete, sah ich als Erstes Frankie, der sich vor dem Fernseher auf dem Boden lümmelte.
»Hey, Val«, sagte er und setzte sich auf. »Du bist wieder zu Hause.«
»Hey. Super, deine Haare. Sind echt wahnsinnig lang heute, deine Stacheln.«
Er grinste und strich sich mit der Hand über die Haare. »Hat Tina auch gesagt«, meinte er. Als ob überhaupt nichts passiert wäre. Als ob ich nicht noch nach Krankenhaus riechen würde. Als ob ich keine selbstmordgefährdete Verrückte wäre, deren Heimkehr ihm auch sein eigenes Leben vermiesen würde.
In diesem Moment war Frankie der beste Bruder, den sich irgendwer in der Welt hätte wünschen können.