[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]

 

Max Hills, 16 – »Ich habe gedacht, sie wären Freunde«, so kommentierte nach jüngsten Berichten eine Schülerin die Tatsache, dass Levil die Schüsse auf Hills offenbar gezielt abfeuerte. Hills’ Tod wurde noch am Tatort festgestellt. »Er hat ihn treffen wollen, das war klar«, fügte sie hinzu. »Bevor er abdrückte, hat er sich extra noch gebückt und unter den Tisch geguckt. Er wollte ganz genau wissen, wen er da erschießt.«

Hills, den Freunde als einen ruhigen Schüler beschreiben, mit einer Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften, dabei nicht übermäßig engagiert in Schulaktivitäten außerhalb des Unterrichts, war in der Vergangenheit immer wieder mit Levil zusammen gesehen worden. Offenbar unterhielten sich die beiden sowohl in der Schule wie auch außerhalb häufiger miteinander. Viele hielten die beiden für befreundet, sodass sich die Schüler nun fragen, warum Levil Hills gezielt ins Visier nahm – vorausgesetzt, das war tatsächlich der Fall. »Vielleicht hat er ihn mit irgendwem verwechselt«, spekuliert Erica Fromman, eine Schülerin der Abschlussklasse. »Oder vielleicht war es ihm einfach egal, ob sie Freunde sind oder nicht« – eine Annahme, die die Frage nahelegt, ob die Wahl der Opfer möglicherweise viel zufälliger war, als zunächst angenommen.

 

Hills’ Mutter, Alaina Hills, ist allerdings fest davon überzeugt, dass ihr Sohn ganz bewusst erschossen wurde. »Letzten Sommer wollte sich Nick den Pick-up von Max ausleihen, doch Max hat das abgelehnt«, berichtete sie der Presse. »Und am nächsten Tag wurden auf dem Parkplatz die Scheinwerfer des Wagens zertrümmert, als Max bei der Arbeit war. Er konnte nie beweisen, dass Nick das getan hatte, doch wir beide wussten es. Das war das Ende ihrer Freundschaft. Sie haben danach nie mehr miteinander geredet. Max war ziemlich sauer wegen der Sache mit den Scheinwerfern. Er hat den Wagen schließlich von seinem eigenen Geld gekauft.«

***

 

Als ich am zweiten Tag nach meiner Rückkehr in die Schule wieder nach Hause kam, zweifelte ich ernsthaft daran, ob ich es packen würde, das mit der Schule durchzuziehen. Und auch die Idee, am Ende des Halbjahrs zu wechseln, war totaler Blödsinn. So lange würde ich nicht durchhalten.

Ginny Baker kam nie zurück in den Unterricht – zumindest nicht in die Fächer, die sie mit mir zusammen hatte. Mrs Tennille vermied jeden Augenkontakt mit mir. Und Stacey und ich aßen in der Mittagspause nicht mehr am gleichen Tisch. Alle anderen ignorierten mehr oder weniger, dass es mich überhaupt gab, was ich ziemlich in Ordnung fand. Aber andererseits auch heftig. Eine Aussätzige zu sein, die nicht mal andere Außenseiter als Freunde hat, ist verdammt hart.

Ich war echt froh, nach Hause zu kommen an diesem zweiten Tag, auch wenn Mom um mich herumgluckte, als wäre ich erst sieben oder so. Sie fragte mich aus über meine Hausaufgaben, meine Lehrer und meine Freunde – meine besten Freunde. Sie dachte allen Ernstes, ich hätte noch so was wie Freunde. Sie glaubte ja auch, was in der Zeitung stand. Sie hatte diese Artikel gelesen, in denen es hieß, wir würden alle den ganzen Tag lang Händchen halten und über Frieden und Liebe und Respekt füreinander reden. Diese Artikel, in denen behauptet wurde, dass Jugendliche »nahezu unverwüstlich sind, besonders wenn es um das Prinzip der Vergebung geht«. Immer wieder einmal fragte ich mich ernsthaft, ob diese Journalistin, Angela Dash, wirklich von dieser Welt war. Alles, was diese Frau schrieb, war totaler Blödsinn.

Wie immer beim Heimkommen schnappte ich mir eine Kleinigkeit zum Essen und ging hoch in mein Zimmer. Ich pfefferte meine Schuhe in die Ecke, drehte die Musik auf und hockte mich im Schneidersitz aufs Bett.

Als ich meinen Rucksack öffnete, um die Sachen für meine Bio-Hausaufgaben rauszuholen, griff meine Hand stattdessen nach dem schwarzen Notizbuch. Ich schnappte es mir und schlug es auf. Tagsüber in der Schule hatte ich eine Reihe von Schülern beim Sportunterricht gezeichnet – wie sie mit Gesichern, die fast ganz und gar aus riesigen aufgerissenen Mündern bestehen und wie tiefe Krater aussehen, hinüber zur Leichtathletikbahn rennen. Auch einen Lehrer hatte ich skizziert: Señor Ruiz, den Spanischlehrer, der mit völlig leerem, ausdruckslosem Gesicht über das Gewimmel von Schülern auf einer Treppe blickt – da ist nur ein Oval und sonst gar nichts. Und dann gab es noch mein Lieblingsbild: Mr Angerson als Hahn, der oben auf einer Miniaturversion unserer Schule thront, mit einem Gesicht, das verdammt an Hühnchen Junior, diese alberne Disney-Figur, erinnert. Das war meine Version von dem »neuen, besseren Leben an der Garvin-Highschool«. Meine Art, »zu sehen, was da ist«, wie Dr. Hieler vorgeschlagen hatte.

Während ich einen Entwurf weiter ausarbeitete, den ich von Stacey und Duce beim Mittagessen gemacht hatte – beide mit einer Backsteinmauer als Rücken –, vergaß ich die Zeit und konnte kaum glauben, dass die Sonne schon fast untergegangen war, als mich ein Klopfen an der Tür unterbrach.

»Später, Frankie«, rief ich. Ich brauchte Zeit, Zeit zum Nachdenken und Zeit, um wieder zur Ruhe zu kommen. Ich wollte die Zeichnung fertig machen und mich dann an meine Bio-Hausaufgaben setzen.

Doch es klopfte wieder.

»Hab zu tun!«, brüllte ich.

Sekunden später bewegte sich der Türknauf und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Ich verfluchte mich innerlich, weil ich vergessen hatte abzuschließen.

»Ich hab doch gesagt, ich hab –«, begann ich, verstummte aber, als sich der Kopf von Jessica Campbell durch den Spalt schob.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann auch ein andermal kommen. Es ist bloß so, dass ich schon öfter versucht habe, dich anzurufen, aber deine Mutter hat immer gesagt, du kämst nicht ans Telefon.« Aha, anscheinend überwachte Mom immer noch meine Anrufe.

»Und da hat sie gesagt, du sollst vorbeikommen?«, fragte ich ungläubig. Mom wusste, wer Jessica Campbell war. Jeder in der freien Welt wusste, wer Jessica Campbell war. Sie bei mir zu Hause einfach so herumlaufen zu lassen, war … na ja, ziemlich gewagt.

»Nein, das war meine Idee.« Jessica kam rein und schloss die Tür hinter sich. Sie kam herüber zu meinem Bett und blieb dort stehen. »Ehrlich gesagt hat sie gleich gemeint, du würdest mich nicht sehen wollen. Aber ich hab ihr erklärt, dass ich es trotzdem probieren müsste, also hat sie mich reingelassen. Ich glaube, sie mag mich nicht besonders.«

Ich lachte in mich hinein. »Glaub mir, die würde sich in die Hosen machen vor Glück, wenn sie dich als Tochter hätte. Dich kann sie schon leiden, ich bin diejenige, die sie nicht mag. Aber das ist nichts Neues.« Kaum hatte ich das gesagt, wurde mir klar, wie seltsam es war, jemandem so was zu erzählen, der mich kaum kannte. »Was machst du hier?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Schließlich magst du mich auch nicht besonders.«

Jessicas Gesicht wurde knallrot und einen Augenblick lang dachte ich, sie würde anfangen zu weinen. Auch diesmal überraschte sie mich damit, dass sie kein bisschen wie die alte Jessica wirkte. Ihr Selbstvertrauen war weg, ihre Überlegenheit verschwunden – stattdessen strahlte sie eine eigenartige Verletzlichkeit aus, die überhaupt nicht zu ihr passte. Sie warf in einer eingeübten Bewegung den Kopf zurück, wodurch ihr die Haare seitlich über die Schulter fielen, dann setzte sie sich auf mein Bett.

»Ich hab in der vierten Stunde immer mit Stacey zusammen Unterricht«, sagte sie.

Ich zuckte mit den Achseln. »Und?«

»Wir reden manchmal über dich.«

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. In meinem Bein begann es zu pochen, wie immer, wenn ich angespannt war. Dr. Hieler hatte mir erkärt, dass dieses Pochen wohl eher etwas in meinem Kopf war, allerdings hatte er es anders ausgedrückt. Er musste es netter formuliert haben, da bin ich sicher, aber ich konnte mich nur so dran erinnern – das Pochen war etwas, das hauptsächlich in meinem Kopf existierte. Ich legte meine Hand auf die Delle in meinem Oberschenkel und drückte sie fest durch die Jeans hindurch.

So würde es also in Zukunft sein: Jetzt, wo ich wieder da war und dazugehören wollte, stellten sie alles Mögliche an, um mir klarzumachen, dass ich eben nicht dazugehörte. Sie warteten nicht mehr wie früher, bis ich in der Cafeteria oder an meinem Schließfach aufkreuzte, um mich spüren zu lassen, dass sie mich hassten. Sondern sie kamen zu mir nach Hause und sagten es mir direkt ins Gesicht. War es das? War das meine Strafe? »Du bist also hergekommen, um mir zu erzählen, dass du dir zusammen mit meiner ex-besten Freundin das Maul über mich zerreißt?«

»Nein«, sagte Jessica. Sie runzelte die Stirn, als wäre es verrückt von mir, so was zu vermuten. Dieses Stirnrunzeln kannte ich schon von ihr, meistens kam gleich darauf eine arrogante, überhebliche Bemerkung. Ich machte mich darauf gefasst, aber stattdessen seufzte sie und sah ihre Hände an. »Nein. Stacey und ich reden darüber, dass wir finden, Nick hat dich da ziemlich reingeritten.«

»Reingeritten?«

Mit dem Mittelfinger schob sie ihre langen Stirnfransen zur Seite und steckte sie sich hinters Ohr. »Ja. Du weißt schon. Du warst nicht schuld. Aber er hat dich da mit reingezogen. Aber als dann endlich klar war, dass du unschuldig bist, haben sie kaum noch was drüber gesagt.«

»Wer sie?«

»Du weißt schon. Die Zeitungen, das Fernsehen. Die Medien. Sie haben dauernd darüber berichtet, dass du schuld bist und dass die Polizei dem genau auf den Grund geht. Aber als die Polizei dann beschlossen hat, dass du nichts gemacht hast, hat sich keiner mehr darum gekümmert. Das ist echt unfair.«

Der Druck meiner Hand auf dem Oberschenkel ließ etwas nach und meine Finger schlossen sich wieder um den Bleistift. Irgendwas stimmte hier einfach nicht. Jessica Campbell saß auf meinem Bett und ergriff Partei für mich. Ich hatte fast Angst, das zu glauben.

Sie spähte zu dem Notizbuch in meinem Schoß herüber. »Es gibt Gerede, du hättest eine neue Hassliste angefangen. Ist sie das?«

Auch ich sah das Notizbuch jetzt an. »Nein!« Unwillkürlich knallte ich das Buch zu und schob es unter mein Bein. »Ich mach da nur was. So eine Art Kunstprojekt.«

»Oh«, sagte sie. »Hat Angerson mit dir darüber gesprochen?«

»Wieso denn?« Wir wussten beide, warum er das tun würde, aber keine sprach es laut aus.

Jessica schaute sich in meinem Zimmer um, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah, wie sie die Klamottenhaufen auf dem Boden und das schmutzige Geschirr auf der Kommode betrachtete – und das Foto von Nick, das mir gestern Abend beim Ausziehen aus der Jeanstasche gerutscht war und das ich einfach hatte liegen lassen. Bildete ich mir das nur ein oder blieb ihr Blick einen kurzen Moment lang auf dem Foto haften?

»Nettes Zimmer«, sagte sie. Aber das war so daneben, dass ich mir nicht mal die Mühe machte zu antworten, wofür sie mir vielleicht sogar dankbar war.

»Ich muss Hausaufgaben machen«, sagte ich. »Also …«

Sie stand auf. »Klar. Okay.« Sie ließ ihr blondes Haar umherschwingen wie ein Pendel. Ich glaube, dieses nervige Haareschwingen war irgendwann auch mal auf der Hassliste gelandet. Ich versuchte, den Gedanken auszublenden. »Hör mal, warum ich hergekommen bin … Der Schülerrat hat ein Projekt ins Leben gerufen. Wir wollen eine Art Gedenkstätte oder ein Mahnmal errichten. Es soll auf unserer Schulabschlussfeier präsentiert werden, weißt du. Würdest du da mitmachen?«

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ich und ein Projekt vom Schülerrat? Da war doch was faul. Ich zuckte mit den Achseln. »Ich denk drüber nach.«

»Super. Am Donnerstag treffen wir uns, im Zimmer von Mrs Stone. Wir wollen einfach ein bisschen zusammen rumüberlegen und so.«

»Bist du dir sicher, dass die mich dabeihaben wollen? In den Schülerrat dürfen schließlich nur diejenigen, die reingewählt worden sind, oder?«

Jetzt zuckte sie mit den Achseln und blickte dabei zum Fenster hinüber, wodurch mir sofort klar war, dass die andern mich eben nicht wollten. »Ich möchte, dass du dabei bist«, sagte sie, als käme es nur darauf an.

Ich nickte, sagte aber nichts. Einen Augenblick lang blieb sie nachdenklich mitten im Zimmer stehen. Als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie gehen sollte oder nicht. Als fiele ihr nicht mehr ein, wie sie überhaupt hier gelandet war.

»Alle behaupten, es wäre auch dein Ding gewesen. Ich meine, der Amoklauf«, sagte sie ganz leise. »Hast du gewusst, was er vorhatte?«

Ich schluckte und sah zum Fenster hinaus.

»Ich glaub nicht«, sagte ich. »Ich hab nicht gewusst, dass er das ernst gemeint hat. Hört sich irgendwie dürftig an, aber eine bessere Erklärung fällt mir nicht ein. Nick war nicht böse.«

Ihr Blick folgte meinem zum Fenster hinaus, während sie über meine Antwort nachdachte, dann nickte sie leicht. »Hast du mich bewusst gerettet?«

»Ich glaub nicht«, sagte ich wieder, aber dann korrigierte ich mich. »Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht.«

Sie nickte wieder. Wahrscheinlich war das die Antwort, die sie erwartet hatte. Sie ging so leise, wie sie gekommen war.

Später saß ich mit einer Dose Cola auf den Knien in Dr. Hielers Büro und schilderte ihm die ganze seltsame Szene.

»Mit Jessica Campbell da zu sitzen, auf meinem Bett, das war total schräg. Ich weiß nicht, ich hab … mich irgendwie nackt gefühlt, so mit ihr zusammen in meinem Zimmer. Als ob alles, was sie sieht, total privat wäre. Das hat mich nervös gemacht.«

Er kratzte sich am Ohr und grinste. »Gut.«

»Was soll daran gut sein, dass ich nervös war?«

»Es war gut, dass du damit klargekommen bist.«

Dass ich sie nicht einfach rausgeworfen hatte – das war es, was er meinte.

Stattdessen war Jessica einfach gegangen. Nachdem sie weg war, hatte ich die Musik lauter gedreht und mich auf meinem Bett ausgestreckt. Ich hatte mich auf die Seite gedreht und die Pferde auf meiner Tapete angestarrt. Eins von ihnen schien ein klein wenig zu schimmern – je länger ich es anblickte, desto mehr bekam ich das Gefühl, es wollte wegrennen.