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In kurzen, heftigen Stößen nach Atem ringend, trat Nora langsam i auf das Loch in der Mitte des Turmdaches zu und ließ sich, so leise sie konnte, in den kleinen Raum darunter hinab. Dort krabbelte sie auf Händen und Knien zu der schrägen Pfahlleiter und spähte hinab ins Dunkel des Turmes. Es war so stockfinster, dass sie die Leere des Raumes unter sich mehr spüren als sehen konnte. Dabei hörte sie nichts als das Rauschen des Flusses draußen im Tal, dieses verrückt machende, nicht enden wollende Gegurgel, das jedes andere Geräusch übertönte.
Eine Weile war Nora vor Angst wie gelähmt. Am ganzen Körper zitternd, kauerte sie vor der Leiter und konnte sich nicht überwinden, auf den wackeligen alten Pfählen in die Finsternis nach unten zu steigen. Aber im Turm bleiben und so lange warten, bis die andere Kreatur sie fand, konnte sie auch nicht. Jetzt, da sie keine Waffe mehr hatte, saß sie hier in einer Falle, aus der sie sich schnellstens befreien musste.
Nora kämpfte darum, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen und ihr Gehirn daran zu hindern, vor lauter Panik vollkommen abzuschalten. Schließlich streckte sie einen Fuß hinab in das Loch und tastete nach den Kerben der schräg stehenden obersten Leiter. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der morsche Pfahl ihr Gewicht auch tragen konnte, ließ sie den Rand des Loches los. Dann begann sie langsam mit dem Hinunterklettern, wobei sie sich mit beiden Händen fest an den Pfahl klammerte und sich mit den Füßen von einer Kerbe zur nächsten arbeitete - sie spürte, wie kühle Luft ihr von unten um die Beine wehte, und hörte das alte Gemäuer knistern und knacken. Ein paar kleinere Steine polterten an ihr vorbei in die Tiefe.
Als sie endlich den festen Boden des zweiten Simses erreicht hatte, blieb Nora eine Weile stehen, um sich auszuruhen. Sie wusste, dass sie auch hier nicht bleiben konnte. Hier oben, zwischen Dach und Boden, war sie besonders verwundbar. Sobald sie wieder einigermaßen bei Kräften war, machte sie sich an den weiteren Abstieg, der ihr etwas leichter fiel, weil ihr diesmal neben den Kerben im Leiterpfahl auch noch die Vertiefungen in der Turmwand zur Verfügung standen. Als sie gerade auf den nächsten Sims klettern wollte, erstarrte sie. Sie glaubte von unten das leise Tappen sich nähernder Schritte vernommen zu haben. Mit gespreizten Armen und Beinen zwischen Wand und Leiter gekeilt, lauschte sie hinab in die Dunkelheit. Als sie ein paar Minuten lang nichts hörte, ließ sie sich erleichtert auf den sicheren Sims hinab.
Noch ein Stockwerk. Nora riss sich zusammen, griff nach dem Pfahl und testete seine Tragfähigkeit. Dann trat sie so sorgfältig wie bei den ersten Leitern in die erste Kerbe, dann in die zweite und in die dritte.
Als sie schon ein Stück weit nach unten geklettert war, gab der morsche Pfahl plötzlich mit einem entsetzlichen, trockenen Knacken nach und knickte in sich zusammen. Ohne irgendwo Halt zu finden, stürzte Nora die letzten zwei Meter nach unten auf den harten Steinfußboden. Als sie sich aufrappelte, verspürte sie stechende Schmerzen in Knöchel und Knie des rechten Beines. Sie biss die Zähne zusammen und trat durch die niedrige Eingangstür auf das Dach des angrenzenden Hauses, wo sie sich zitternd vor Anstrengung und Angst umsah. Die vom Mondlicht beschienene Stadt lag ruhig und verlassen unter ihr, als wäre nichts geschehen.
Fieberhaft dachte Nora nach. Sie musste versuchen, hinunter ins Tal zu gelangen. Es war ihre letzte Chance. Bis Tagesanbruch wollte sie sich irgendwo verstecken und dann nach Swire und Bonarotti suchen. Vielleicht hatte sich Sloane ja getäuscht, und sie waren noch am Leben. Zumindest aber hatten sie Waffen gehabt, mit denen sich Nora dann gegen den Skinwalker verteidigen konnte. Möglicherweise fand sie ja auch Sloanes Pistole am Fuß der Felswand, und im Lager war Munition...
Plötzlich musste Nora an Smithback denken, den Sloane im Sanitätszelt erschossen hatte. Mit einer entschlossenen Geste wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie durfte nicht an Bill denken. Jetzt nicht.
So tief geduckt wie nur möglich kroch sie über das Dach und spähte entlang der Pfahlleiter nach unten. Alles schien in Ordnung zu sein, sie konnte sich also über den Rand des Daches schwingen und nach unten klettern. Dann hielt sie inne und sah sich um. Nichts.
Oder doch? Der Mond, der gerade wieder durch ein Loch in den schnell vorbeiziehenden Wolken schien, tauchte die umliegenden Gebäude in ein blasses Licht. Obwohl Nora nichts Außergewöhnliches entdecken konnte, spürte sie instinktiv, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Langsam schlich sie an der Hausmauer entlang und spähte um die nächste Ecke herum vorsichtig in die Stadt hinein. Nirgends, weder an der Mauer am Rand des Alkovens noch auf dem großen Platz oder zwischen den Häuserblöcken, war etwas Ungewöhnliches zu entdecken.
Trotzdem, wollte das Gefühl drohender Gefahr nicht weichen. Und auf einmal erkannte Nora, was die Ursache war: Der leichte Mitternachtswind wehte ihr den schwachen Geruch von Purpurwinden in die Nase.
Ohne richtig zu wissen, was sie tat, humpelte Nora langsam in die Stadt hinein. Als sie in den Schatten zwischen den Häusern angelangt war, begann sie ungeachtet der höllischen Schmerzen in ihrem verletzten Bein zu laufen, so schnell sie nur konnte. Dabei folgte sie keinem bestimmten Plan, sondern allein ihrem übermächtigen Verlangen, zu fliehen und sich einen geschützten Ort zu suchen, an dem sie sich verkriechen konnte. Jedes Anhalten oder Zögern konnte ihren Tod bedeuten. Als sie vor den gedrungenen, niedrigen Kornspeichern angelangt war, blieb Nora stehen. Direkt vor ihr gähnte der dunkle Eingang zu Aragons Tunnel. Dort drinnen würde es vollkommen dunkel sein. In einem der Räume der geheimen Stadt hinter dem Sonnen-Kiva konnte sie sich vielleicht verstecken.
Leise stöhnend vor Schmerz machte Nora einen Schritt auf den Eingang zu, blieb dann aber stehen. Nichts auf der Welt würde sie noch einmal in diesen Tunnel mit seinem tödlichen Pilzstaub hineinzwingen. Nicht einmal der Skinwalker, der sie verfolgte.
So rasch sie konnte, hastete sie in eine schmale, gekrümmte Gasse unterhalb der Kornspeicher hinein, wo sie eine mit Kerben versehene Pfahlleiter fand, die an der Hinterwand einer Häuserreihe lehnte. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung kletterte Nora hinauf aufs Dach und zog die Leiter hinter sich nach oben. Das würde den Skinwalker vielleicht aufhalten und ihr ein paar Sekunden mehr Zeit verschaffen.
Oben schnaufte Nora kurz durch. Wieder hatte sich eine Wolke über den Mond geschoben, und die Dunkelheit legte sich auf die Stadt wie ein schwarzes Leichentuch. Bis auf das entfernte Murmeln des Flusses war alles still.
Nora humpelte über das Dach auf die Eingänge der Häuser im ersten Stock zu und erschrak fürchterlich, als Fledermäuse zwischen den Mauervorsprüngen hervorflatterten. Weil es in der Stadt nur wenige große Gebäude gab, die von ihrer Vorder- bis zur Rückseite durchgingen, waren die meisten Eingänge Sackgassen, aus denen es kein Entrinnen gab. Nora überlegte kurzzeitig, ob sie sich in einem der Räume verstecken sollte, verwarf den Gedanken aber rasch. Hier in der Stadt war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Verfolger sie aufspüren würde. Es war besser, wenn sie in Bewegung blieb und auf eine Gelegenheit wartete, um unbemerkt hinab ins Tal zu steigen.
Sie schlich sich an einigen Eingängen entlang und blieb auf einmal wie angewurzelt bei einem der Eckhäuser stehen.
Hatte sie von unten aus der Dunkelheit nicht Schritte gehört? Nora sah sich hastig um. Wegen des von der Wölbung des Alkovens verzerrt zurückgeworfenen Rauschens des Flusses war es unmöglich die Schritte genauer zu lokalisieren. War ihr der Skinwalker zu den Kornspeichern gefolgt und schlich sich jetzt von hinten an? Oder ging er irgendwo auf dem Hauptplatz in Position, um ihr den Weg zur Strickleiter abzuschneiden?
Nora hörte ein weiteres Geräusch, etwas lauter als das erste. Es schien direkt unter ihr zu sein. So leise wie möglich legte sie sich auf den Bauch, kroch vorsichtig an die Kante des Daches und spähte nach unten in die Dunkelheit. Nichts.
Nora erhob sich. Jetzt konnte sie wieder den starken, Ekel erregend süßen Duft nach Purpurwinden wahrnehmen. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Gerade als sie einen Schritt vom Rand des Daches weg machte, hörte sie das Geräusch einer Pfahlleiter, die an eine Wand gelehnt wurde. Rasch trat Nora in den Eingang des nächsten Hauses.
Drinnen blieb sie keuchend stehen. Wo immer sie war, was immer sie tat, der Skinwalker wäre ihr gegenüber stets im Vorteil. Er war nicht nur viel stärker und schneller als sie, er konnte darüber hinaus ganz offenbar auch in der Dunkelheit viel besser sehen als sie. Mit wachsender Verzweiflung wurde Nora klar, dass sie ihm nie entrinnen würde. Sie musste sich ihm stellen, aber das ging nur, wenn sie eine Waffe fand.
Innen im Haus war es still und kühl. Die Luft roch nach Rattenurin und Schimmel. Im durch den Eingang hereinfallenden Mondlicht sah Nora ein paar an die Wand gelehnte Masken des Kriegsgottes, die sie mit grimassenhaft verzerrten Lippen böse anstarrten. An diesen Masken erkannte sie, dass sie schon einmal hier gewesen war, und tastete sich dann weiter in den nächsten noch dunkleren Raum.
Vorsichtig betrat sie die dritte Kammer, in die durch einen breiten Riss in der Decke schwaches Licht drang. Hier fand sie, wonach sie gesucht hatte: Am Boden lag ein Bündel Speere mit feuergehärtetem Holzschaft und rasiermesserscharfer Spitze aus Obsidian. Sie wog etliche der Speere in der Hand, bevor sie die zwei leichtesten mitnahm und hinaus in einen schmalen Gang trat.
Hier tastete sie sich an der Wand entlang in den nächsten Raum des Hauses, wo sich ihrer Erinnerung nach der Vorderausgang befinden musste. Tatsächlich sah sie an der gegenüberliegenden Wand ein Rechteck aus graublauem Licht schimmern. Mit einem Anflug von Erleichterung versteckte sie sich in einer dunklen Ecke und wartete ab.
Vermutlich hatte der Skinwalker inzwischen das Gebäude betreten und suchte nach ihr. Nora packte einen der Speere und klemmte sich seinen Schaft fest unter die Achsel. Die uralte Waffe fühlte sich armselig und zerbrechlich an. Es war vermessen zu glauben, dass sie damit gegen den Skinwalker etwas ausrichten konnte. Aber was blieb ihr anderes übrig? Die einzige Alternative war, sich irgendwo zu verkriechen und zitternd vor Angst auf das unausweichliche Ende zu warten. Und Nora wusste, dass die Skinwalker trotz ihrer übernatürlichen Kräfte nicht unsterblich waren.
Als Nora Schritte im Raum nebenan hörte, spannten sich ihre Muskeln. Hier im Inneren des Gebäudes war das Rauschen des Flusses so gedämpft, dass sie die übrigen Geräusche besser unterscheiden konnte. Sie hörte ein leises Rascheln, und der Geruch nach Purpurwinden steigerte sich fast ins Unerträgliche. Nora, die vor Angst schier verrückt wurde, hob den Speer. Ein schwarzer unförmiger Schatten füllte auf einmal den Eingang zur Kammer. Mit einem lauten Schrei sprang Nora auf ihn zu und stieß ihm den Speer mit aller Kraft in den Körper. Dann drehte sie sich um und rannte, so schnell es der verstauchte Knöchel zuließ, zum Vorderausgang des Hauses. Der Skinwalker hatte keinen Laut von sich gegeben, aber Nora glaubte deutlich gespürt zu haben, wie die scharfe Steinspitze tief in sein Fleisch gedrungen war.
Nora taumelte hinaus auf das Dach des darunter liegenden Gebäudes. Sie wagte nicht, stehen zu bleiben und Luft zu holen, sondern suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, wieder nach unten zu kommen.
Hinter sich hörte sie ein scharrendes Geräusch, und gleich darauf wurde sie vom Aufprall eines schweren Körpers umgeworfen. Vor Schreck und Schmerz aufschreiend, versuchte Nora, sich von dem Skinwalker zu befreien, dessen schweißnasser, widerlich stinkender Pelz sich auf ihr Gesicht presste. Nora riss den Kopf zur Seite und sah, dass der maskierten Gestalt der abgebrochene Speer noch immer in der Schulter steckte. Der Skinwalker hob die rechte Hand, die ein Messer mit einer Klinge aus Obsidian umklammert hielt.
Während Nora sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung freistrampelte, spürte sie, wie das Messer ins Fleisch ihres rechten Oberschenkels drang. Ohne sich nach dem Skinwalker umzusehen, ließ sie sich von der Kante des Dachs nach unten fallen. Sie landete auf einem Sandhaufen, rappelte sich auf und schleppte sich in den Schatten des nächsten Hauses. Die Wunde an ihrem Bein blutete stark und schmerzte fast noch mehr als ihr verstauchter Knöchel.
Als Nora hinter sich den dumpfen Aufprall hörte, mit dem der schwere Körper des Skinwalkers auf dem Boden landete, trat sie in den nächsten Hauseingang und hinkte durch eine Reihe von Räumen, bis sie in eine kleine, dunkle Kammer gelangte, die einen Hinterausgang auf den großen Hauptplatz der Stadt hinaus hatte. In der Dunkelheit lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand und versuchte zu verschnaufen. Der Geruch nach Blut stieg ihr in die Nase. Er kam von der Wunde an ihrem Bein, die jetzt, nachdem sie sich bewegt hatte, noch stärker blutete.
Von draußen hörte sie, wie der Skinwalker an den Häusern vorbeiging und nach ihr suchte. Wenn der Mond wieder hinter den Wolken hervorkam, brauchte er nur den Blutstropfen nachzugehen, um sie ausfindig zu machen.
Wie auf ein Stichwort sah Nora einen bläulichen Lichtschimmer durch den Hintereingang des Hauses hereindringen. Sie machte sich bereit für einen verzweifelten letzten Versuch, ihr Leben zu retten. Sie wusste, dass ihr jetzt nur noch eine Möglichkeit blieb: Sie musste quer über den Hauptplatz zur Strickleiter rennen und ins Tal hinabsteigen, aber sie bezweifelte stark, dass sie das schaffen würde, bevor der Skinwalker sie eingeholt hatte. Trotzdem konnte sie es nicht ertragen, wie eine Ratte, die in eine Falle gegangen war, hier auf ihr Ende zu warten. Sie drehte sich um und wollte schon losrennen, aber dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
Jetzt erst, als der Mond seinen blassen Schein in die Kammer warf, bemerkte sie, dass in einer Ecke Luigi Bonarotti lag. Er starrte mit weit aufgerissenen, glasigen Augen ins Leere und lag in einer riesigen, im Mondlicht schwarz glänzenden Blutlache. Voller Entsetzen sah Nora, dass man ihm Finger und Zehen sowie einen Großteil der Kopfhaut abgeschnitten hatte. Sie stürzte zu Boden und fing an zu würgen.
Wie aus großer Entfernung hörte sie den Skinwalker die schmale Gasse am anderen Ende des Hauses entlang schleichen. Und dann fiel ihr etwas ein.
Rasch stand sie auf, ging hinüber zu Bonarotti und tastete an seinem blutverklebten Gürtel entlang, bis sie das Halfter mit dem riesigen Revolver gefunden hatte. Mit zitternden Fingern öffnete sie es und zog den schweren 44er Magnum Super Blackhawk heraus, dessen Kugeln eine vernichtende Wirkung hatten. Als Nora den blutigen Griff an ihrer Jeans abwischte, hörte sie sich rasch nähernde Schritte. Sie stand auf und zog sich an die Hinterwand des Raumes zurück.
Kurz darauf erschien die pelzige Gestalt des Skinwalkers im Eingang der Kammer. Das Licht des Mondes ließ seine weiß bemalten Arme bläulich aufschimmern und glänzte auf der speckigen Ledermaske vor seinem Gesicht. Einen Moment lang starrte der Skinwalker Nora schweigend an, bevor er mit einem tiefen, grollenden Knurren auf sie zusprang.
In der kleinen Kammer aus Lehmziegeln war der Mündungsknall des 44-er Magnum ohrenbetäubend laut. Nora schloss die Augen vor dem Mündungsfeuer und nahm über Handgelenk und Ellenbogen den starken Rückstoß der Waffe auf. Sie hörte einen wilden Aufschrei und drückte mit geschlossenen Augen ein weiteres Mal ab. Die Schüsse gellten ihr noch immer in den Ohren, als sie in Richtung Hinterausgang rannte, wo sie über etwas stolperte und bäuchlings auf den großen Hauptplatz fiel. Rasch rollte sie sich auf den Rücken und richtete den Revolver auf den Hauseingang, in dem kurz darauf der Skinwalker erschien. Es war unglaublich, dass er sich noch auf den Beinen halten konnte. Mit den Händen hielt er sich den Bauch, und Nora sah wie das Blut aus seinem Pelz auf den Boden des Platzes tropfte. Der Skinwalker hatte zwei riesige Wunden an Brust und Unterleib. Als er Nora erblickte, wankte er mit einem hasserfüllten Schrei auf sie zu. Nora drückte ein drittes Mal ab. Die Kugel, die den Skinwalker direkt im Gesicht traf, schleuderte ihm den Kopf nach hinten und warf seinen Körper zur Seite, Nora kniete sich nieder und feuerte zwei weitere Schüsse direkt in die Maske. Blutige Fleisch- und Lederfetzen wirbelten durch die vom beißenden Pulverqualm erfüllte Luft. Der Skinwalker wälzte sich wie ein von ekstatischen Bewegungen geschüttelter Tänzer auf dem Boden herum. Noras Schüsse hatten ihm einen Großteil des Schädels weggerissen, so dass zwischen den Knochensplittern die hellgraue Masse seines Gehirns hervorquoll. Aus einer zerfetzten Arterie in seiner Brust spritzte Blut in raschen, rhythmischen Stößen in den Staub. Ein grausiges Gurgeln entwand sich seiner Kehle, während Nora laut schreiend immer wieder abdrückte und gar nicht merkte, dass der Hammer des Revolvers schon längst nur noch auf leer geschossene Patronen klickte.
Und dann endlich erstarb das Röcheln des Skinwalkers, und eine tiefe Stille senkte sich über die Stadt.
Unter starken Schmerzen erhob sich Nora langsam. Sie machte ein paar Schritte auf die Begrenzungsmauer zu und sackte wieder in sich zusammen. Erschöpft ließ sie den Revolver aus der Hand gleiten. Es war vorüber.
Minutenlang blieb Nora hier, am Eingang nach Quivira, liegen und weinte leise vor sich hin.
ach einer Weile stand Nora auf und trat mit zittrigen Knien an den Rand des Alkovens. Das Tal von Quivira, das von dem breiten, hochwassergeschwollenen Fluss in zwei Teile zerschnitten wurde, lag in schwaches, silbriges Licht getaucht unter ihr. Hinter ihr erhoben sich massiv und schweigend die Häuser der alten Stadt.
Langsam wie eine Schlafwandlerin humpelte sie hinüber zur Strickleiter und begann Sprosse um Sprosse hinunterzuklettern. Es war eine schmerzhafte Quälerei, die Nora dennoch kaum wahrnahm, weil sie noch immer unter Schock stand. Unten angekommen, schaute sie hinüber zum Lager. Als sie merkte, dass das orangefarbene Leuchten im Sanitätszelt erloschen war, spürte sie, wie ihr ein Schluchzen in die Kehle stieg. Jetzt in dieses Zelt zu sehen war die schmerzlichste Aufgabe, die sich in ihrem ganzen Leben je gestellt hatte. Dennoch musste sie sich persönlich davon überzeugen, dass der schlimmste Fall eingetreten war.
Sie ging ein paar Schritte auf das Lager zu und blieb dann stehen. Ein paar Meter von der Felswand entfernt lag die grotesk verdrehte Leiche von Sloane im Sand. Nora trat auf sie zu. Die weit aufgerissenen, einst bernsteinfarbenen Augen blickten dunkel und starr ins Leere. Das Mondlicht lag wie ein matter Film auf ihnen und glänzte auf dem Blut, das neben ihr in den Sand geflossen war. Erschaudernd wandte Nora den Blick ab und hielt automatisch nach dem toten Skinwalker Ausschau. Doch der war nirgends zu sehen.
Wieder wallte nackte Angst in Nora hoch und versetzte alle ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sorgfältig suchte sie die Umgebung ab und fand an die fünf Meter von der toten Sloane entfernt eine blutgetränkte Vertiefung im Sand, die etwa die Form eines menschlichen Körpers hatte. Daneben lag eine silberne Concha, aber der Skinwalker war verschwunden. Nora trat instinktiv einen Schritt zur Seite und hielt sich mit der Hand den Mund zu, während ihre Blicke die Umgebung prüften. Nirgends war eine Spur von der Kreatur zu sehen.
Nora drehte sich um und ging auf das im Mondlicht liegende Lager zu, wobei ihr die Schnittwunde am Oberschenkel und der verstauchte Knöchel höllisch wehtaten. Was sie vorfand, war noch schlimmer als erwartet. Das Innere des Sanitätszeltes bot ein Bild der Verwüstung: Ausrüstungsgegenstände und Verbandsmaterial waren auf dem Boden verstreut, und der Schlafsack, in dem Bill Smithback gelegen hatte, war in Fetzen gerissen. Überall fanden sich Blutflecken, doch Bill selbst war spurlos verschwunden.
Laut schluchzend taumelte Nora aus dem Zelt und starrte hinauf zum mondhellen Himmel. »Verdammt!«, schrie sie. »Verdammt! Verdammt!«
Und dann spürte sie, wie sie plötzlich von hinten ein Arm an der Schulter packte und sich eine Hand auf ihren Mund legte. In Panik versuchte Nora sich zu wehren, aber dann gab sie auf. Sie konnte nicht mehr.
»Seien Sie still!«, flüsterte ihr eine ruhige, sanfte Stimme ins Ohr.
Der Griff löste sich, und als Nora sich umdrehte, sah sie zu ihrem großen Erstaunen John Beiyoodzin vor sich stehen.
»Sie!«, keuchte sie.
Im Mondlicht glänzten die weißen Zöpfe des alten Mannes wie Quecksilber. »Pst!« Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Ich habe Ihren Freund am anderen Ende des Tales versteckt.«
»Welchen Freund?«, fragte Nora, die nicht verstand, wovon Beiyoodzin redete.
»Den Journalisten, mit dem Sie bei mir waren. Smithback«, sagte er
»Bill ist am Leben?«
Beiyoodzin nickte.
Voller Freude und Erleichterung ergriff Nora Beiyoodzins Hände. »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Roscoe Swire, unseren Cowboy, oder Aaron Black...«Etwas in Beiyoodzins Miene ließ Nora verstummen.
»Der Mann, der bei Ihren Pferden war, ist tot«, erwiderte er. »Sonst habe ich niemanden gesehen.«
»Tot? Das kann nicht sein. Roscoe war doch...« Sie senkte den Kopf und schwieg. Diese Nachricht ging über ihre Kraft.
»Ich habe seine Leiche in dem Eichenwäldchen gefunden. Die Skinwalker haben ihn getötet. Aber jetzt müssen wir fort von hier.«
Beiyoodzin löste seine Hände aus den ihren und wandte sich zum Gehen. Aber Nora hielt ihn erneut fest. »Ich habe einen von den Skinwalkern oben in der Stadt erschossen«, sagte sie, wobei sie mit den Tränen kämpfte. Sie musste jetzt stark sein. »Aber es gibt noch einen Zweiten. Er ist verwundet, aber ich glaube, dass er noch lebt und sich irgendwo hier unten im Tal herumtreibt.«
Beiyoodzin nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Deshalb müssen wir jetzt auch weg.«
»Aber wie?«
»Ich kenne einen geheimen Pfad. Die Skinwalker benutzen ihn, um hierher zu kommen. Er ist sehr schwierig zu begehen, aber wir müssen Ihren Freund von hier fortschaffen.«
Beiyoodzin setzte sich in Bewegung und ging im Mondlicht, das unruhige Schatten auf den Boden des Tales zeichnete, raschen Schrittes auf den Felssturz am Ende des Canons zu. Hier, wo der vom Hochwasser geschwollene Fluss sich in einem wilden Wasserfall in den schmalen Slot-Canon ergoss, war das Rauschen des Wassers sehr viel lauter, und dichte Wolken von Sprühnebel hingen in der Luft. Ohne zu zögern trat Beiyoodzin durch den Vorhang aus Dunst und verschwand. Nora folgte ihm.
Sie stand auf einem schmalen, schräg abfallenden Felsband, das offenbar von Menschenhand in die Wand des Canons gehauen war. Es nahm direkt neben dem Wasserfall seinen Anfang und führte an dem Katarakt entlang zunächst ein Stück nach unten. Da in der engen Schlucht das Mondlicht sehr viel schwächer war als draußen im Tal, musste Nora höllisch aufpassen, auf dem glitschigen, moosbewachsenen Fels nicht den Halt zu verlieren. Ein einziger Fehltritt, und sie würde in das schäumende Wasser stürzen und dem sicheren Tod in einem Schlund aus rasiermesserscharfen Felsen entgegentreiben.
Nach einer Weile wurde der Pfad weniger steil, und dichte, aus dem Wasser aufsteigende Nebelschwaden hüllten sie ein wie ein weißer Mantel. In dem ständig feuchten Mikroklima hatte sich eine Vielfalt von Moosen und seltsamen Hängepflanzen entwickelt.
Beiyoodzin teilte einen Blättervorhang aus riesigen Farnen, und da sah Nora im Schatten dahinter Smithback auf dem Boden kauern. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und wartete auf Beiyoodzins Rückkehr.
»Bill!«, rief sie, als der Journalist sich mit einem Ausdruck ungläubiger Freude auf dem Gesicht erhob.
»O mein Gott!«, seufzte er. »Nora! Ich dachte schon, du seist tot.« Er umarmte sie schwach und küsste sie immer wieder.
»Wie geht es dir?«, fragte sie und berührte vorsichtig die hässliche Beule an seiner Stirn.
»Ich muss Sloane wohl dafür dankbar sein, dass sie mich bewusstlos geschlagen hat, denn der Schlaf hat wahre Wunder gewirkt«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen, doch seine schwache Stimme strafte seine Worte lügen. »Aber wo ist sie eigentlich? Und wo sind die anderen?«
»Wir müssen weiter!«, drängte Beiyoodzin.
Er deutete auf den gewundenen Pfad, der sich im Fels des Canons nach oben wand. Im fahlen Mondlicht kam es Nora so vor, als wäre der kaum sichtbare, schmale Weg, der in Serpentinen an Felsspitzen vorbei und über tiefe Spalten in der Wand führte, eher für Gespenster passierbar als für Menschen.
»Ich gehe als Erster«, sagte Beiyoodzin zu Nora. »Bill kommt nach mir, und den Schluss machen Sie.«
Er sah sie einen Augenblick lang fragend an, dann drehte er sich um und begann den Pfad hinaufzusteigen. Dabei achtete er darauf, sein Gewicht auf die Seite der Canon-Wand zu verlagern, und legte für einen Mann seines Alters eine erstaunliche Behändigkeit an den Tag. Als Smithback ihm folgte, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nora, die noch immer nicht fassen konnte, dass er noch am Leben war, ging als Letzte.
Es war eine mühselige und schmerzhafte Kletterei den ausgesetzten Pfad hinauf, bei der sie ständig darauf achten mussten, nicht auf Moos oder Flechten auszugleiten, die überall auf dem feuchten Felsband wuchsen. Das Brüllen des Wasserfalls drang aus der Tiefe herauf und wurde von den Canon-Wänden so stark zurückgeworfen, dass die Luft von dem Geräusch zu vibrieren schien. Nora sah, dass Smithback sich kaum auf den Beinen halten konnte. Nur mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Es dauerte viele qualvolle Minuten, bis sie die Dunstschleier des Wasserfalls hinter sich gelassen hatten. Nun aber verengte sich der Canon, was zur Folge hatte, dass immer weniger Mondlicht einfallen konnte. Ohne zu sehen, wo man hintrat, wurde das Vorwärtskommen jedoch noch schwieriger. In einiger Entfernung konnte Nora undeutlich erkennen, wie der Pfad eine scharfe Kurve machte und hinter einem kleinen, hoch über dem Wasserfall aus der Wand ragenden Felsvorsprung verschwand.
»Wie geht es dir?«, fragte Nora nach vom zu Smithback, der vor Anstrengung laut keuchte.
Der Journalist hustete und streckte wortlos den rechten Daumen in die Höhe, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung mit ihm sei.
Auf einmal blieb Beiyoodzin abrupt stehen und hob warnend die Hand.
»Was ist los?«, fragte Nora, als sie hinter Smithback zum Stehen kam. Das Herz schlug ihr vor Angst bis zum Hals.
Und dann roch auch sie den süßlichen Duft von Purpurwinden, den ihr die auffrischende Brise an die Nase wehte.
»Was ist los?«, fragte Smithback.
»Der Skinwalker. Er folgt uns wohl den Pfad herauf«, sagte Beiyoodzin. Auf einmal konnte Nora in seinem abgezehrten, von unzähligen Falten durchfurchten Gesicht sehen, wie alt er wirklich war. Ohne ein weiteres Wort setzte sich Beiyoodzin wieder in Marsch.
Nora und Smithback folgten ihm, so rasch sie konnten, den steilen Pfad hinauf. Nora biss sich auf die Lippen, wenn die Schmerzen in ihrem verletzten Bein zu stark wurden. »Schneller«, drängte Beiyoodzin.
»Er kann nicht...«, begann Nora, doch die Worte blieben ihr im Munde stecken.
Vor ihnen, direkt an der Kehre des Pfades, war plötzlich eine Gestalt aufgetaucht, die sich dunkel von der violett schimmernden Felswand abhob. Aus dem dichten Pelz, der unten von gestocktem Blut verklebt war, stieg Dampf in die kühle Nachtluft. Die Kreatur schlurfte ein paar Schritte auf sie zu, blieb dann aber stehen. Nora, der vor Angst übel wurde, hörte, wie der Skinwalker unter der blutdurchtränkten Ledermaske keuchend atmete. Trotz der Entfernung meinte sie seine Augen wie kleine rote Stecknadelköpfe funkeln zu sehen. Sie glühten vor Wut, Schmerz und Gemeinheit.
Plötzlich ging Beiyoodzin auf den Skinwalker zu. Als er kurz vor der Kehre angelangt war, trat er vorsichtig hinaus auf den vorspringenden Felsen. Dort griff er in die Jackentasche und holte seinen Medizinbeutel hervor. Er öffnete ihn und streute, ohne die Blicke von dem Skinwalker zu nehmen, eine dünne, kaum sichtbare Linie aus Blütenpollen und Maismehl auf den schmalen Sims zwischen ihnen. Dabei stimmte er einen leisen Gesang an.
Mit stummer Furcht beobachtete Nora, wie der Skinwalker einen Schritt auf die Linie zu machte. Beiyoodzin hörte mit seinem Gesang auf und sprach nur ein Wort: »Kishlincbi.«
Der Skinwalker schien ihm zuzuhören. »Bitte, hör auf«, sagte Beiyoodzin. »Lass es gut sein hier.«
Der Skinwalker sah ihn an. Beiyoodzin nahm nun eine Adlerfeder aus dem Beutel und hielt sie ihm mit ausgestrecktem Arm entgegen. »Du glaubst, dass das Böse dich stark macht, aber in Wirklichkeit macht es dich schwach. Schwach und hässlich. Wer böse ist, dem fehlt es an Stärke. Ich aber bitte dich jetzt, stark zu sein und mit dem Bösen aufzuhören. Es ist die einzige Möglichkeit, dein Leben zu retten, denn das Böse verzehrt sich am Ende immer selbst.«
Mit einem wütenden Knurren zog der Skinwalker ein Steinmesser aus seinem Pelz. Er überschritt die Linie aus Blütenstaub und hob das Messer so, dass er es Beiyoodzin ins Herz rammen konnte.
»Wenn du nicht mit mir zurückkommen willst, bitte ich dich hier in diesem Tal zu bleiben«, sagte Beiyoodzin rasch mit heiserer Stimme. »Wenn du dich für das Böse entschieden hast, dann bleibe am Ort des Bösen. Bleibe in dieser Stadt.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Nora. »Nimm diese Fremden, wenn du deinen Durst nach Blut mit nichts anderem stillen kannst. Aber lass meine Leute, lass unser Dorf in Ruhe.«
»Was reden Sie da?«, rief Smithback überrascht und wütend von hinten, aber weder Beiyoodzin noch der Skinwalker schienen ihn zu hören. Jetzt griff der alte Mann wieder in seine Jacke und holte einen weiteren Beutel hervor, der sehr viel älter aussah als der erste. Das Leder war so abgewetzt, dass es dünn wie Papier war, und seine Säume waren in Silber eingefasst und mit Türkisen verziert. Nora ließ ihren Blick zwischen Beiyoodzin und dem Medizinbeutel hin- und herwandern. In ihr mischten sich Wut und Angst mit dem Gefühl, von dem alten Indianer verraten worden zu sein. Verstohlen packte sie Smithback am Ellenbogen, drehte ihn sanft herum und drängte ihn den Pfad hinunter, weg von der Konfrontation zwischen Beiyoodzin und dem Skinwalker.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Beiyoodzin. »Dieser Beutel enthält die magischen Bildsteine unserer Vorväter. Sie sind der wertvollste Besitz des Stammes der Nankoweap. Auch du hast sie einst verehrt. Ich werde sie dir geben, damit du siehst, wie ernst mir mein Angebot ist. Aber dafür musst du hier bleiben und unser Dorf in Ruhe lassen.«
Mit langsamen, ehrfürchtigen Bewegungen öffnete Beiyoodzin den Beutel und hielt ihn mit ausgestreckter Hand dem Skinwalker hin. Dabei zitterte er. Ob vor Angst oder wegen seines hohen Alters, konnte Nora nicht entscheiden.
Der Skinwalker zögerte.
»Nimm sie«, flüsterte Beiyoodzin.
Die pelzige Gestalt trat von dem Pfad hinüber auf den Felsvorsprung, auf dem Beiyoodzin stand.
Der alte Mann wartete noch einen Augenblick, dann schleuderte er mit einer plötzlichen, blitzschnellen Bewegung dem Skinwalker den Inhalt des Beutels ins Gesicht.
Er war voll von einem grauen Pulver, das dem Skinwalker unter die Maske drang. Er brüllte erstaunt und empört auf und versuchte sich die Maske vom Gesicht zu reißen. Dabei geriet er aus dem Gleichgewicht. Während er sich hustend und keuchend dem Abgrund näherte, sprang Beiyoodzin mit der Geschmeidigkeit einer Katze von dem Felsvorsprung auf den Weg und brachte sich so in Sicherheit. Der Skinwalker geriet immer mehr ins Taumeln, bis seine Füße schließlich den Halt verloren und er mit einem wütenden Aufschrei in die Tiefe stürzte. Nora sah, wie er sich, wild mit den Beinen strampelnd, noch im Fallen die Maske vom Gesicht riss und dabei so laut aufheulte, dass es sogar das Tosen des Wasserfalls übertönte. Dann war er auf einmal im Schatten der Schlucht verschwunden.
Einen Augenblick waren die drei auf dem Pfad wie gelähmt.
Schließlich drehte Beiyoodzin sich um, sah Nora und Smithback mit grimmigem Gesicht an und nickte.
Nora half Smithback zu Beiyoodzin hinauf, der an der Kehre stand und in den Abgrund starrte. Auf einmal tat ihr die Wunde an ihrem Oberschenkel doppelt so weh wie zuvor.
»Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen einen Schreck eingejagt habe, aber manchmal muss man eben listig sein wie ein Kojote.« Immer noch hinter dem Skinwalker herstarrend, streckte Beiyoodzin den Arm aus und nahm Nora bei der Hand. Seine Haut fühlte sich kühl und trocken an wie ein verwelktes Blatt. »So viel Tod«, murmelte er. »So schrecklich viel Tod. Aber zumindest hat sich jetzt das Böse aufgezehrt.«
Dann hob er den Blick zu Nora, die in seinen dunklen Augen freundliches Mitgefühl ebenso erkennen konnte wie unendlich tiefe Traurigkeit.
Eine Weile schwiegen alle drei. Dann ergriff Beiyoodzin das Wort. »Wenn Sie bereit sind«, sagte er mit leiser, klarer Stimme, »werde ich Sie jetzt zu Ihrem Vater bringen.«